Das Buch der Bücher

Die Bibel
Aus der Sicht der Päpstlichen Bibelkommission in einer Zeit allgemeiner Verwirrung

Dokument: Die Interpretation der Bibel in der Kirche

Einführung
Die Interpretation der biblischen Texte stößt auch heute auf reges Interesse und gibt zu wichtigen Diskussionen Anlaß. Diese haben in den letzten Jahren neue Dimensionen gewonnen. Da die Bibel für den christlichen Glauben, für das Leben der Kirche und für die Beziehungen zwischen Christen und Gläubigen anderer Religionen von entscheidender Bedeutung ist, wurde die Päpstliche Bibelkommission ersucht, sich zu diesem Thema zu äußern.

A. Die aktuelle Problematik

Das Problem der Bibelauslegung ist keine moderne Erfindung, wie man manchmal glauben machen will. In der Bibel selbst sehen wir, daß ihre Auslegung Schwierigkeiten bereitet. Neben eindeutigen Texten enthält sie dunkle Stellen. Als Daniel gewisse Prophetenworte von Jeremia las, suchte er lange nach ihrem Sinn (Dan 9, 2). In der Apostelgeschichte hören wir, wie ein Äthiopier im 1. Jahrhundert in bezug auf einen Abschnitt des Jesaja-Buches (Jes 53, 7-8) sich in der gleichen Lage befand und sich an einen Interpreten wenden mußte (Apg 8, 30-35). Im 2. Petrusbrief lesen wir, daß „keine Weissagung der Heiligen Schrift eigenmächtig ausgelegt werden darf“ (2 Petr 1, 20), und weiter, daß in den Briefen des Apostels Paulus „manches schwer zu verstehen (ist), und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, diese Stellen ebenso wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben verdrehen“ (2 Petr 3, 16).

Das Problem ist also nicht neu, doch hat es im Laufe der Zeit an Gewicht gewonnen: um zu den Fakten und Aussagen der Bibel vorzudringen, müssen die Leser sich um fast zwanzig oder dreißig Jahrhunderte zurück versetzen, und das ist nicht ohne Schwierigkeiten möglich. Zudem sind heutzutage die Probleme der Interpretation wegen der Fortschritte der Geisteswissenschaften komplexer geworden. Wissenschaftliche Methoden wurden zur Erschließung der Texte der Antike entwickelt. Inwieweit sind diese Methoden auch für die Auslegung der Heiligen Schrift geeignet? Aus pastoraler Klugheit hat die Kirche lange Zeit sehr zurückhaltend auf diese Frage reagiert, denn oft waren diese Methoden trotz ihrer positiven Werte an Optionen gebunden, die dem christlichen Glauben entgegengesetzt waren. Schließlich hat eine positive Entwicklung stattgefunden, die durch eine ganze Reihe päpstlicher Dokumente gekennzeichnet ist, angefangen von der Enzyklika Providentissimus von Leo XIII. (18. Nov. 1893) bis zur Enzyklika Divino afflante Spiritu von Pius XII. (30. Sept. 1943). Diese Entwicklung wurde durch die Erklärung Sancta Mater Ecclesia (21. April 1964) der Päpstlichen Bibelkommission und vor allem durch die Dogmatische Konstitution Dei Verbum des II. Vatikanischen Konzils (18. Nov. 1965) bestätigt.

Die Fruchtbarkeit dieser konstruktiven Haltung zeigte sich deutlich. Die biblischen Studien in der katholischen Kirche nahmen einen bemerkenswerten Aufschwung, und ihr wissenschaftlicher Wert wurde im Kreis der Wissenschaftler und unter den Gläubigen immer mehr anerkannt. Der ökumenische Dialog wurde dadurch wesentlich erleichtert. Der Einfluß der Bibel auf die Theologie verstärkte sich und half mit zu einer theologischen Erneuerung. Das Interesse an der Bibel wuchs bei den Katholiken und diente dem Fortschritt des christlichen Lebens. All jene, die eine ernsthafte Ausbildung auf diesem Gebiet erworben haben, erachten es als unmöglich, auf den Stand einer vorkritischen Auslegung zurückzukommen, die sie zu Recht als ungenügend erachten.

Zum gleichen Zeitpunkt, wo die am weitesten verbreitete wissenschaftliche Methode – die „historisch-kritische“- in der Exegese, also auch in der katholischen Exegese, allgemein angewendet wird, wird diese Methode in Frage gestellt: einerseits durch das Aufkommen anderer Methoden und Zugänge in der wissenschaftlichen Welt selbst und andererseits durch die Kritik vieler Christen, die diese Methode vom Standpunkt des Glaubens aus als mangelhaft erachten. Zur historisch-kritischen Methode, die sich, wie ihr Name sagt, besonders mit der historischen Entwicklung der Texte bzw. Traditionen beschäftigt, treten heute Methoden in Konkurrenz, die auf einem synchronen Verständnis der Texte bestehen, sei es in bezug auf die Sprache, die Komposition, die narrative Struktur oder die rhetorische Form. Außerdem wird bei vielen der Versuch der diachronen Methoden, die Vergangenheit zu rekonstruieren, durch die Tendenz ersetzt, die Texte zu hinterfragen, indem man sie in die Perspektive der heutigen Zeit setzt, sei es unter philosophischer, psychoanalytischer, soziologischer oder politischer Hinsicht. Dieser Pluralismus der Methoden und Zugänge wird von den einen als Reichtum geschätzt, bei andern jedoch hinterläßt er den Eindruck einer großen Verwirrung.

Ob diese Verwirrung nun real oder vermeintlich ist, jedenfalls liefert sie den Gegnern der wissenschaftlichen Exegese neue Argumente. Ihrer Meinung nach zeigt der Konflikt bei der Interpretation, daß man nichts dabei gewinnt, wenn die biblischen Texte den Ansprüchen der wissenschaftlichen Methoden unterworfen werden. Im Gegenteil, man verliere dabei viel. Sie betonen, die wissenschaftliche Exegese schaffe Verwirrung und löse Zweifel in Dingen aus, die vorher mühelos angenommen wurden; sie dränge gewisse Exegeten zu Positionen, die dem Glauben der Kirche in so wichtigen Fragen widersprächen, wie der jungfräulichen Empfängnis Jesu, seinen Wundern, ja sogar seiner Auferstehung und seiner Gottheit.

Auch wenn es nicht zu solchen Negierungen kommt, so charakterisiere sich ihrer Meinung nach die wissenschaftliche Exegese doch durch ihre Sterilität in bezug auf das christliche Leben. Statt einen leichteren und sichereren Zugang zu den frischen Quellen des Wortes Gottes zu schaffen, mache sie aus der Bibel ein verschlossenes Buch, dessen doch immer problematische Interpretation raffinierte technische Mittel erheische und so aus der Bibel ein Reservat für Spezialisten mache. Für diese gilt, so glauben einige, das Wort des Evangeliums: „Ihr habt den Schlüssel (der Tür) zur Erkenntnis weggenommen; ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr daran gehindert“ (Lk 11, 52; vgl. Mt 23, 13).

Folglich ist man nun der Meinung, es sei notwendig, an die Stelle der geduldigen Arbeit der wissenschaftlichen Exegese einfachere Zugänge zu eröffnen, wie z.B. die eine oder andere Form synchroner Lesung, die man als genügend erachtet; oder man preist sogar eine sogenannte „geistliche“ Lesung der Bibel an, womit man eine Lektüre meint, die einzig und allein durch die persönliche, subjektive Eingebung geleitet ist und die diese Eingebung nähren soll. Einige suchen in der Bibel den Christus ihrer persönlichen Auffassung und die Befriedigung ihrer spontanen Religiosität. Andere behaupten, in ihr direkte Antworten auf vielerlei persönliche und die Gemeinschaft betreffende Fragen zu finden. Viele Sekten bieten eine Interpretation als allein wahr an, die sie, so behaupten sie, in einer Offenbarung erhalten hätten.

B. Ziel dieses Dokumentes

Es geht also darum, die verschiedenen Aspekte der heutigen Situation in bezug auf die Interpretation der Bibel ernsthaft zu bedenken, Kritik, Klagen und Erwartungen aufmerksam anzuhören und die durch die neuen Methoden und Zugänge eröffneten Möglich keiten zu nützen. Schließlich soll die Orientierung, die dem Auftrag der Exegese in der katholischen Kirche am besten entspricht, genau bestimmt werden.

Das ist das Ziel dieses Dokumentes. Die Päpstliche Bibelkommission möchte die Wege aufzeigen, die zu einer dem menschlichen und zugleich göttlichen Charakter der Bibel möglichst getreuen Auslegung führen. Sie erhebt nicht den Anspruch, zu allen Fragen Stellung zu beziehen, die sich in bezug auf die Bibel stellen, wie z.B. die Theologie der Inspiration. Sie will nur die Methoden prüfen, die erlauben sollen, den ganzen Reichtum, der in den biblischen Texten enthalten ist, zu erschließen, damit das Wort Gottes immer mehr zur geistigen Nahrung für die Glieder seines Volkes werden kann, zur Quelle für ein Leben aus dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe und zum Licht für die ganze Menschheit (vgl. Dei Verbum, 21).

Um dieses Ziel zu erreichen, will dieses Dokument:

1. eine kurze Beschreibung der verschiedenen Methoden und Zugänge (1) mit ihren Möglichkeiten und Grenzen geben;
2. Fragen der Hermeneutik ansprechen;
3. Überlegungen über die spezifischen Dimensionen der katholischen Interpretation der Bibel und über ihren Bezug zu den andern theologischen Disziplinen vorlegen;
4. die Stellung erwägen, die der Interpretation der Bibel im Leben der Kirche zukommt.

I. Methoden und Zugänge für die Interpretation

A. Historisch-kritische Methode

Die historisch-kritische Methode ist die unerläßliche Methode für die wissenschaftliche Erforschung des Sinnes alter Texte. Da die Heilige Schrift, als „Wort Gottes in menschlicher Sprache“, in all ihren Teilen und Quellen von menschlichen Autoren verfaßt wurde, läßt ihr echtes Verständnis diese Methode nicht nur als legitim zu, sondern es erfordert auch ihre Anwendung.

1. Zur Geschichte dieser Methode

Will man diese Methode in ihrem heutigen Stand richtig bewerten, muß man einen Blick auf ihre Geschichte werfen. Gewisse Elemente dieser Interpretationsmethode sind sehr alt. Sie wurden in der Antike von griechischen Kommentatoren der klassischen Literatur angewandt und später, in der patristischen Zeit, von Autoren wie Origenes, Hieronymus und Augustinus. Die Methode war damals noch wenig ausgearbeitet. Ihre modernen Formen sind das Ergebnis von Vervollkommnungen, besonders seit den Humanisten der Renaissance und ihrem recursus ad fontes. Die Textkritik des Neuen Testamentes entwickelte sich jedoch als wissenschaftliche Disziplin erst seit etwa 1800, nachdem man sich vom Textus receptus losgelöst hatte, während die Literarkritik schon auf das 17. Jahrhundert zurück geht. Bahnbrechend war das Werk von Richard Simon, der die Aufmerksamkeit auf die Doppelungen, die Differenzen im Inhalt und auf die Stilunterschiede, wie man sie im Pentateuch feststellen kann, lenkte, Feststellungen, die mit der Vorstellung eines einzigen Autors Mose nicht vereinbar sind. Im 18. Jahrhundert genügte für Jean Astruc noch die Erklärung, Mose hätte sich eben verschiedener Quellen bedient (besonders zweier Hauptquellen), um das Buch Genesis zu verfassen. Doch die Kritik bestritt in der Folge immer entschiedener die Verfasserschaft Moses für den Pentateuch selbst. Die Literarkritik beschränkte sich lange Zeit auf das Bestreben, in den Texten die verschiedenen Quellen (Dokumente) voneinander zu scheiden. So entwickelte sich dann im 19. Jahrhundert die „Urkundenhypothese“, die der Redaktion des Pentateuchs Rechnung zu tragen versucht. Vier zum Teil parallele Dokumente bzw. Quellenschriften aus verschiedenen Epochen wären miteinander verschmolzen worden: der Jahwist (J), der Elohist (E), das Deuteronomium als Quelle (D) und die Priesterschrift (P). Die letztere hätte dem Endredaktor dazu gedient, das Ganze zu strukturieren. In analoger Weise berief man sich auf die Zweiquellenhypothese, um die beobachteten Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den drei synoptischen Evangelien zu erklären; gemäß dieser Hypothese wären die Evangelien von Matthäus und Lukas aufgrund zweier Hauptquellen entstanden: dem Evangelium von Markus einerseits, und andererseits einer Sammlung von Worten Jesu (genannt Q = Quelle). Im wesentlichen werden diese beiden Hypothesen auch heute noch in der wissenschaftlichen Exegese vertreten, sind jedoch auch umstritten.

Im Bestreben, die Chronologie der biblischen Texte zu erstellen, beschränkte sich die Literarkritik auf die Abtrennung und Zergliederung von Texteinheiten, um die verschiedenen Quellen zu unterscheiden. Sie wendete der Endgestalt des biblischen Textes nicht genügend Aufmerksamkeit zu. Die Botschaft, die dieser in seiner jetzigen Form zum Ausdruck bringt, war ihr nicht von Bedeutung (man zeigte wenig Achtung für das Werk der Redaktoren). Aus diesem Grunde konnte die historisch-kritische Methode als zersetzend und zerstörerisch erscheinen, dies um so mehr, als gewisse Exegeten unter dem Einfluß der vergleichenden Religionsgeschichte, so wie sie damals gepflegt wurde, oder philosophischer Anschauungen negative Urteile über die Bibel äußerten.

Hermann Gunkel hat die Methode aus dem Ghetto einer engverstandenen Literarkritik herausgeführt. Obwohl er die Bücher des Pentateuchs (2) weiterhin als Sammelwerke betrachtete, so wandte er doch seine Aufmerksamkeit der besonderen Beschaffenheit der verschiedenen Abschnitte zu. Er versuchte, die Gattung jeder einzelnen Einheit (z.B. „Legende“ oder „ Hymnus“), sowie ihre Herkunft oder ihren „Sitz im Leben“ (z.B. Rechtswesen, Liturgie usw.) zu bestimmen. Mit dieser Erforschung der literarischen Gattungen ist die „kritische Erforschung der Formen“ verbunden, die „Formgeschichte“, die in die Exegese der Synoptiker durch Martin Dibelius und Rudolf Bultmann eingeführt wurde. Letzterer verband das Studium der Formgeschichte mit einer biblischen Hermeneutik, die bei der existentialistischen Philosophie von Martin Heidegger Anregung suchte. Die Folge davon war, daß die Formgeschichte oft zu ernsthaften Vorbehalten führte. Doch diese Methode an und für sich führte zum Ergebnis, daß deutlich wurde, wie die neutestamentliche Überlieferung ihre Herkunft (3) in der christlichen Gemeinde hatte, und ihre Form von der Urkirche empfing, daß sie von der Verkündigung Jesu selbst zur Verkündigung über Jesus als dem Christus gelangte. Zur Formgeschichte gesellte sich die Redaktionsgeschichte, eine kritische Untersuchung der Redaktion. Diese versuchte, den persönlichen Beitrag jedes Evangelisten und die theologische Ausrichtung, die seiner Redaktionsarbeit zugrunde lag, hervorzuheben. Durch die Anwendung dieser letzten Methode wurde die Reihe der verschiedenen Schritte der historisch-kritischen Methode vollständiger: von der Textkritik kommt man zur Literarkritik, die die Texte zerlegt (Quellenforschung), dann zu einer kritischen Erforschung der Formen und schließlich zu einer redaktionsgeschichtlichen Analyse, die dem Text als ganzem ihre Aufmerksamkeit schenkt. So wurde ein klareres Verständnis der Absicht der Verfasser und der Redaktoren der Bibel möglich, und dadurch auch der Botschaft, die sie den ersten Empfängern vermitteln wollten. Die historisch-kritische Methode gewann dadurch eine hervorragende Bedeutung.

2. Prinzipien

Die Grundprinzipien der historisch-kritischen Methode in ihrer klassischen Form sind die folgenden: Es ist eine historische Methode; nicht nur, weil sie sich auf alte Texte bezieht — im vorliegenden Fall auf die der Bibel — und deren historische Tragweite erforscht, sondern auch und vor allem, weil sie versucht, den historischen Prozeß der Entstehung der biblischen Texte zu klären: dieser diachrone Prozeß war oft kompliziert und von langer Dauer. In den verschiedenen Stadien ihrer Entstehung wandten sich die Bibeltexte an verschiedene Kategorien von Zuhörern oder Lesern, die sich in verschiedenen Situationen in Raum und Zeit befanden.

Es ist eine kritische Methode, denn sie arbeitet in ihrem ganzen Vorgehen (von der Textkritik bis zur Redaktionskritik) mit Hilfe wissenschaftlicher, möglichst objektiver Kriterien, um so dem heutigen Leser den Zugang zum Inhalt der biblischen Texte zu ermöglichen, deren Sinn oft schwer zu erfassen ist.

Als analytische Methode erforscht sie den biblischen Text auf die gleiche Art und Weise wie sie jeden anderen Text der Antike erforscht. Sie erläutert ihn als Erzeugnis der menschlichen Sprache. Sie hilft dadurch aber dem Exegeten, vor allem in der Erforschung der Redaktion der Texte, den Inhalt der in der Bibel enthaltenen göttlichen Offenbarung besser zu erfassen.

3. Beschreibung

Im derzeitigen Stand ihrer Entwicklung durchläuft die historisch-kritische Methode folgende Etappen:

Die Textkritik, die seit langer Zeit geübt wird, eröffnet die Reihe der wissenschaftlichen Forschungsvorgänge. Indem sie sich auf das Zeugnis der ältesten und besten Manuskripte stützt, wie auch auf die Papyri, die alten Übersetzungen und die Patristik, versucht sie, nach bestimmten Regeln, einen biblischen Text zu erstellen, der dem Originaltext so nahe wie möglich kommt.

Danach wird der Text einer linguistischen (morphologischen und syntaktischen) und semantischen Analyse unterzogen, die die Erkenntnisse der historisch-philologischen Forschung benützt. Die Literarkritik bemüht sich dann, Anfang und Ende der großen und kleinen Texteinheiten zu bestimmen und die innere Kohärenz des Textes zu prüfen. Die Existenz von Dubletten, unvereinbaren Gegensätzen und anderen Indizien lassen den zusammengesetzten Charakter gewisser Texte erkennen; man unterteilt sie in kleine Einheiten, um deren mögliche Zugehörigkeit zu verschiedenen Quellen zu ermitteln. Die Gattungskritik versucht, die literarischen Gattungen, ihr Ursprungsmilieu, ihre spezifischen Merkmale und ihre Entwicklung zu bestimmen. Die Traditionskritik situiert die Texte in den Überlieferungsströmen, deren Entwicklung im Laufe der Geschichte sie zu präzisieren versucht. Die Redaktionskritik schließlich untersucht die Veränderungen, die die Texte erfahren haben, bevor sie zu ihrer endgültigen Form gelangten; sie analysiert diese Endgestalt, indem sie die Texte unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen Orientierungen voneinander unterscheidet. Während man in den früheren Schritten versucht hat, den Text in seinem Werden in einer diachronen Perspektive zu erklären, so schließt dieser letzte Schritt mit einer synchronen Untersuchung: Man erläutert nun den Text als solchen, dank der gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen Elemente untereinander, und betrachtet ihn unter dem Gesichtspunkt einer Botschaft, die der Verfasser seinen Zeitgenossen vermitteln will. So kann auch die pragmatische Funktion des Textes berücksichtigt werden.

Wenn die untersuchten Texte einer historischen literarischen Gattung  (4) angehören oder in Verbindung mit geschichtlichen Ereignissen stehen, so ergänzt die historische Kritik die Literarkritik, um die geschichtliche Bedeutung des Textes im modernen Sinn des Ausdrucks festzustellen.

Auf diese Weise werden die verschiedenen Stufen der konkreten Entwicklung der biblischen Offenbarung ans Licht gebracht.

4. Bewertung

Welcher Wert kommt der historisch-kritischen Methode zumal im gegenwärtigen Stand ihrer Entwicklung zu?

Wenn diese Methode auf objektive Weise angewendet wird, schließt sie kein Apriori in sich. Wenn solche Apriori ihre Anwendung bestimmen, so kommt dies nicht von der Methode her, sondern von hermeneutischen Optionen, die die Auslegung bestimmen und tendenziös sein können.

Zu Beginn war die Methode auf Quellenkritik und Religionsgeschichte ausgerichtet; doch danach ergab sich, daß sie einen neuen Zugang zur Bibel eröffnete, indem sie aufzeigte, daß diese eine Sammlung von Schriften ist, die meistens, besonders im Alten Testament, nicht von einem einzigen Verfasser stammen, sondern eine lange Vorgeschichte haben. Diese wiederum ist unentwirrbar mit der Geschichte Israels oder derjenigen der Urkirche verflochten. Vorher war sich die jüdische und christliche Auslegung der Bibel der konkreten historischen Gegebenheiten, in denen das Wort Gottes Wurzeln gefaßt hatte, nicht so klar bewußt. Ihre Kenntnis war summarisch und unscharf. Die Konfrontation der traditionellen Exegese mit einer wissenschaftlichen Methode, die in ihren Anfängen bewußt vom Glauben absah, ihm manchmal sogar widersprach, war gewiß ein schmerzlicher Prozeß; doch später stellte er sich als heilsam heraus: nachdem die Methode endlich von den ihr anhaftenden Voreingenommenheiten befreit war, führte sie zu einem genaueren Verständnis der Wahrheit der Heiligen Schrift (vgl. Dei Verbum, 12). Gemäß Divino afflante Spiritu ist die Erforschung des Literalsinnes der Heiligen Schrift eine wesentliche Aufgabe der Exegese. Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist es notwendig, die literarische Gattung der Texte zu bestimmen (vgl. EnchB 560). Dazu ist die Hilfe der historisch-kritischen Methode unentbehrlich.

Gewiß, die klassische Anwendung der historisch-kritischen Methode zeigt auch Grenzen, denn sie beschränkt sich auf die Forschung nach dem Sinn des biblischen Textes in den historischen Bedingungen seiner Entstehung und interessiert sich nicht für die weiteren Sinnmöglichkeiten, die im Verlauf späterer Epochen der biblischen Offenbarung und Kirchengeschichte zu Tage getreten sind. Gleich wohl hat diese Methode zu exegetischen und bibeltheologischen Werken von großem Wert beigetragen.

Seit langem hat man auf eine Vermischung der Methode mit einem philosophischen System verzichtet. Jüngst hat eine exegetische Tendenz die Methode im Sinn einer Betonung der Textgestalt auf Kosten des Interesses für seinen Inhalt umgebogen. Doch wurde diese Tendenz durch eine differenzierte Semantik (Semantik der Worte, der Sätze, des Textes) und die Erforschung der pragmatischen Dimension der Texte korrigiert.

Was den Einschluß einer synchronen Analyse der Texte in die Methode betrifft, muß man anerkennen, daß es sich um ein legitimes Unterfangen handelt. Denn der Text in seiner Endgestalt und nicht in irgendeiner früheren Fassung ist der Ausdruck von Gottes Wort. (5) Die diachrone Rekonstruktion bleibt jedoch unentbehrlich, um die geschichtliche Dynamik, die der Heiligen Schrift innewohnt, und ihre reiche Komplexität aufzuzeigen: so spiegelt z.B. das Bundesbuch (Ex 21-23) eine andere politische, soziale und religiöse Situation der israelitischen Gesellschaft wieder als die anderen Gesetzessammlungen im Deuteronomium (Dtn 12- 26) oder im Buch Levitikus (Heiligkeitsgesetz, Lev 17 -26). Man konnte der alten historisch-kritischen Exegese ihre historistische Tendenz vorwerfen, doch darf man auch nicht in das gegenteilige Extrem verfallen, d.h. in eine ausschließlich synchrone Exegese, die die Geschichte der Texte ignoriert.

So ist es Ziel der historisch-kritischen Methode, in vorwiegend diachroner Weise den Sinn hervorzuheben, den die Verfasser und Redaktoren ausdrücken wollten. Zusammen mit anderen Methoden und Zugängen öffnet sie so dem modernen Leser den Zugang zum Verständnis der Bibeltexte, wie sie heute vorliegen.

B. Neue Methoden der literarischen Analyse

Keine wissenschaftliche Methode der Erforschung der Bibel kann dem Reichtum der biblischen Texte ganz gerecht werden. So kann auch die historisch-kritische Methode nicht den Anspruch erheben, allem zu genügen. Sie läßt unweigerlich zahlreiche Aspekte der Texte, die sie erforscht, im dunkeln. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß heute auch andere Methoden und Zugänge vorgeschlagen werden, um den einen oder andern wichtigen Aspekt eines Textes tiefer zu erfassen.

In diesem Abschnitt (B) möchten wir einige jüngst entwickelte Methoden der literarischen Analyse vorstellen. In den folgenden Abschnitten (C, D, E) werden wir kurz verschiedene neue Zugänge prüfen; die einen beziehen sich auf Forschungen zur Tradition, andere auf die „Geisteswissenschaften“, andere wieder auf besondere zeitgenössische Situationen. Schließlich (F) werden wir uns der fundamentalistischen Lektüre der Bibel zuwenden, die jede methodische Interpretationsbemühung ablehnt.

Die biblische Exegese, die die Fortschritte der heutigen Sprach- und Literaturwissenschaften nutzt, macht sich immer mehr die neuen Methoden der Literaturanalysen zu eigen, besonders die rhetorische, narrative und semiotische Analyse.

1. Die rhetorische Analyse

In Wirklichkeit ist die rhetorische Analyse als solche keine neue Methode. Neu ist einerseits ihre systematische Anwendung auf die Interpretation der Bibel und andererseits die Entstehung und Entwicklung einer „Neuen Rhetorik“.

Die Rhetorik ist die Kunst, mit einer Rede zu überzeugen. Da im Grunde genommen alle biblischen Texte bis zu einem gewissen Grad überzeugen wollen, gehört eine gewisse Kenntnis der Rhetorik zum normalen Rüstzeug der Exegeten. Die rhetorische Analyse muß kritisch angewendet werden, denn die wissenschaftliche Exegese muß kritischen Ansprüchen genügen.

Viele neuere biblische Forschungen haben der Rhetorik in der Heiligen Schrift große Aufmerksamkeit geschenkt. Man kann drei veschiedene Zugänge unterscheiden. Der erste stützt sich auf die klassische, griechisch-lateinische Rhetorik; der zweite widmet seine Aufmerksamkeit den Abfassungsprozessen im semitischen Kulturraum; der dritte geht von modernen Erkenntnissen aus, die man „Neue Rhetorik“ nennt.

Jede Rede wird in einer bestimmten Situation gehalten, die aus drei Elementen besteht: der Redner (oder Verfasser), die Rede (oder der Text) und die Hörerschaft (oder die Empfänger). Die klassische Rhetorik unterscheidet somit drei Überzeugungsfaktoren, die zur Qualität einer Rede beitragen: die Autorität des Redners, die Argumentation der Rede und die Emotionen, welche die Rede in der Hörerschaft auslöst. Verschiedenheit von Situation und Hörerschaft beeinflussen die Rede sehr stark. Seit Aristoteles unterscheidet die klassische Rhetorik drei Redegattungen: die forensische (vor dem Gericht), die beratende (in den politischen Versammlungen) und die anschauliche (bei Feiern).

In der hellenistischen Kultur hatte die Rhetorik einen enormen Einfluß. Aus diesem Grund benützt eine immer größere Zahl von Exegeten die klassische Literatur zur Rhetorik, um gewisse Aspekte der biblischen Schriften, besonders des Neuen Testaments, genauer analysieren zu können.

Andere Exegeten wiederum richten ihre Aufmerksamkeit auf die spezifischen Merkmale der biblischen Literaturtradition. Da diese in der semitischen Kultur beheimatet ist, hat sie, wie die semitische Kultur ganz allgemein, eine betonte Vorliebe für symmetrische Kompositionen, die zwischen den verschiedenen Textelementen Verbindungen schaffen. Die Erforschung der vielfältigen Formen des Parallelismus und anderer semitischer Kompositionsweisen erlaubt es, die literarische Struktur der Texte besser zu erfassen und dadurch zu einem besseren Verständnis ihrer Botschaft zu gelangen.

Die „Neue Rhetorik“ geht von einem allgemeineren Standpunkt aus. Sie will nicht nur eine Art Inventar der Stilfiguren, der Redekunst und der Gattungen von Rede sein. Sie erforscht, warum dieser oder jener spezifische Sprachgebrauch hier oder dort wirksam ist und Überzeugung wecken kann. Sie will „realistisch“ sein, indem sie sich nicht einfach auf eine Formanalyse beschränkt. Sie widmet der Situation des Gesprächs die notwendige Beachtung. Sie erforscht Stil und Komposition als Mittel zu dem Zweck, die Hörerschaft zu beeinflussen. Zu diesem Zweck profitiert sie von den neueren Forschungsergebnissen gewisser Disziplinen wie Semiotik, Anthropologie und Soziologie.

Will man die „Neue Rhetorik“ auf die Bibel anwenden, so heißt dies, daß sie bis zum Kern der Sprache der Offenbarung als religiöse Sprache, die überzeugen soll, vordringen und ihre Wirkung im Kontext der sozialen Kommunikation bestimmen will.

Die rhetorischen Analysen verdienen hohe Beachtung, besonders in ihren jüngsten Ergebnissen, denn diese bereichern die kritische Erforschung der Texte. Sie beheben eine lange Vernachlässigung und lassen ursprüngliche Perspektiven hervortreten oder setzen sie neu ins Licht.

Die „Neue Rhetorik“ zieht zu Recht die Aufmerksamkeit auf die Überzeugungskraft der Sprache. Die Bibel ist nicht einfach eine Bekundung von Wahrheiten. Sie ist Botschaft und hat Kommunikationsfunktion in einem bestimmten Kontext. Dieser Botschaft liegt eine Argumentationsdynamik und eine rhetorische Strategie zugrunde.

Die rhetorischen Analysen haben jedoch auch ihre Grenzen. Sind sie rein deskriptiv, so haben ihre Ergebnisse oft nur stilistisches Interesse. Wegen ihrer Synchronie können sie nicht behaupten, eine unabhängige Methode darzustellen, die sich selbst genügte. Ihre Anwendung auf biblische Texte wirft Fragen auf: Gehörten die Verfasser dieser Texte einem hochkultivierten Milieu an? Bis zu welchem Punkt benützten sie bei der Abfassung ihrer Texte die Rhetorikregeln? Welche Rhetorik ist für die Analyse solcher Texte geeigneter: die griechisch-lateinische oder die semitische? Ist man nicht versucht, gewissen biblischen Texten eine allzu entwickelte Rhetorik zuzuschreiben? Solche und andere Fragen wollen selbstverständlich vom Gebrauch solcher Analysen nicht abraten; sie wollen nur davor warnen, sich ihrer ohne Unterscheidung zu bedienen.

Komplettes Dokument: Die Interpretation der Bibel in der Kirche: Vatikan päpstliche Bibelkommission 
Liste der veröffentlichten Dokumente: Päpstliche Bibelkommission
Providentissimus Deus: Enzyklika über das “Studium der Heiligen Schrift”
Divino afflante Spiritu: “Über die Heilige Schrift”
Cum Sancta Mater Ecclesia:    englisch “Mit der Heiligen Mutter der Kirche”
Dei Verbum:  Dogmatische Konstitution “Über die göttliche Offenbarung”

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