Vom Ende einer Ethik-Agentur

Von Guido Horst Tagespost

Viele hatten geglaubt, die katholische Kirche könne sich in der säkularisierten Gesellschaft ein Mitspracherecht erkaufen, indem sie über das Dogma schweigt, dafür aber weiche Themen bedient. Dann kam der Missbrauchsskandal und plötzlich taugt die Kirche nicht mehr als Ethik-Agentur. Um wieder glaubwürdig zu werden, bleibt nur die Rückkehr zum Kerngeschäft.

Die kirchliche Obrigkeit hat das Ausmaß der Katastrophe, die mit den Missbrauchsskandalen über den „katholischen Erdkreis“ hereingebrochen ist, noch gar nicht richtig realisiert. Es hatte in den säkularisierten Gesellschaften des Westens eine Art „Aufgabenteilung“ gegeben: Den „Kirchen“ – was immer das sein mag, aber so hatte es sich im Sprachgebrauch der weltlichen Nachrichtenmedien eingebürgert – war auch nach der Abschaffung des christlichen Welt- und Menschenbilds als Fundament der westlichen Leitkultur durchaus noch das Recht zugesprochen worden, sich zu den „weichen Themen“ äußern zu dürfen.

Während die „harten Themen“ – Krieg und Frieden, Leitzins und Börsenkontrolle, Arbeitsmarkt und Industrieentwicklung, Justiz und innere Sicherheit – streng der säkularen Politik vorbehalten waren und man jeden Bischof nur noch mitleidig belächelte, der sich in dieses „Geschäft“ der weltlichen Macht einmischen wollte, war es durchaus erwünscht, dass „die Kirchen“ zum Beispiel über Werte reden, bei ökumenischen Trauergottesdiensten nach größeren oder kleineren Katastrophen herzerschütternde Predigten halten, beziehungsweise ihren Segen geben, wenn man im Haus des deutschen Bundestags einen interreligiösen Gebetsraum einweiht.

Kurz gesagt: Es war „den Kirchen“ noch gestattet, über das harte Geschäft eines post-christlichen Politikbetriebs ein wenig ethische Soße zu gießen, so eine Art religiösen Zuckerguss, der helfen sollte, die sich in immer heterogenere Bestandteile zersetzende Gesellschaft noch ein Stückchen weit zusammenzuhalten. Kein Politiker ist so blöd, dass er nicht zu schätzen weiß, wie sehr ein Staatswesen von Instanzen profitiert, die für einen gewissen Wertekonsens arbeiten.

Eine Sonderstellung im Kreis dieser Ethik-Agenturen, als die „die Kirchen“ in der säkularen Gesellschaft wahrgenommen wurden, nahm auch früher schon die katholische Kirche ein. Mit ihrer Sexualmoral, mit „Humanae vitae“, der Bekräftigung des Zölibats und der Ablehnung der Homo-„Ehen“ hatte sie den allgemein akzeptierten säkularen Wertekonsens längst schon verlassen. Da sie den Wert „Sex für alle in allen möglichen Kombinationen“ nicht mittragen konnte, schied sie also in dieser Hinsicht aus der Werte begründenden Gemeinschaft der post-christlichen Ethik-Agenturen aus. Gleichwohl war noch genug Substanz in der zweitausend Jahre alten „Catholica“, sodass in Ethik-Räten oder Fernsehdiskussionen jeweils auch ein Vertreter der katholischen Kirche zugelassen wurde.

Wenn der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, bei Gedenkveranstaltungen oder Festakten über die jüdisch-christlichen Grundlagen der abendländischen Gesellschaften referierte, war ihm der freundliche Beifall von Ministerpräsidenten, Verlegern oder sonstigen Honoratioren gewiss. Die katholische Kirche hatte aufgehört, im öffentlichen Diskurs den Skandal des Kreuzes und den logischen Widerspruch der Auferstehung (ein Toter, der lebendig wird) zu predigen, aber im Club der Ethik-Agenturen hatte sie neben Greenpeace und Frau Käßmann immer noch ihren angestammten Platz.

Bis die Sache mit den pädophilen Priestern kam. In Sachen Sex ist heute alles erlaubt. Nur der Sex mit Minderjährigen, die Pädophilie wie die Päderastie, hat sich in den ansonsten allen erotischen Genüssen aufgeschlossenen Gesellschaften des Westens nicht durchgesetzt. Seit den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche Deutschlands, aber nicht allein Deutschlands, und dem von den Medien genüsslich verbreiteten Vorurteil, dass alle zölibatär lebenden Priester potenzielle Kinderschänder sind, ist es aus mit der Ethik-Agentur „katholische Kirche“. Manche Erzbischöfe meinten, die Katastrophe vielleicht doch noch bändigen zu können, indem sie sich an die Spitze der Aufklärer und Exekutoren setzten. Aber im hartgesottenen post-christlichen Milieu wurden sogleich die Schalter umgelegt, die katholische Kirche hat ihren Platz im Senat der Ethik-Weisen dieser Gesellschaft verloren. Es ist nicht verwunderlich, dass genau jetzt die alte Diskussion über die Kirchensteuer und die finanziellen Leistungen des Staats an die Kirchen wieder auflebt.

Ein recht guter Indikator dafür, wie sich die katholische Kirche ein Mitspracherecht in der säkularisierten Gesellschaft dadurch erkaufte, indem sie über das Dogma schwieg, dafür aber die weichen Themen bediente, waren die der Kirche gehörenden Medien – von den Bistumszeitungen über die katholische Nachrichtenagentur bis hin zum Weltbild-Verlag. Letzterer hat Fragen der katholischen Lehre gleich ganz aus dem Programm gestrichen und nur noch für ein Bedarfssegment produziert, das von der Informations- und Wissensvermittlung bis zur Lebenshilfe reicht. Wobei man sich auch nicht scheute, in einer sexualisierten Gesellschaft das ein oder andere erotische Hilfs-Produkt gleich mitzuliefern.

Kirche hat ihren letzten Grund aber darin, dass Gott Mensch geworden ist und der geschaffenen Kreatur durch sein Leiden und Sterben am Kreuz die Befreiung von den Folgen der Erbsünde erwirkt hat. Aber da die Kirche in dieser Welt durch Raum und Zeit geht, kann man auch immer von den vorletzten und vorvorletzten Attributen sprechen, die eine göttliche, aber aus Menschen bestehende Gemeinschaft wie die katholische Kirche begleiten.

Da wäre das weite Feld der Personalien und Events, der kirchlichen Institutionen und ihrer Entwicklung, der Statements von kirchlichen Oberen zu aktuellen Themen sowie die Berichterstattung über innerkirchliche Dissidenten und Skandale. Das ist der Stoff, woraus etwa die von den Bischöfen finanzierte Nachrichtenagentur ihre Meldungen formt. Und tatsächlich: Eine Kirche, die sich nicht als Geheimgesellschaft versteht, sieht hier eine Berichtspflicht, der man auch durchaus nachkommen will. Das alles kann man jedoch tagtäglich tun, ohne es irgendwie mit dem Eigentlichen in Verbindung zu bringen, worum es in der Kirche letztlich geht: dem Heil der menschlichen Seele.

Schon etwas näher dran an des Pudels Kern ist die theologische Debatte, die zwar heute längst nicht mehr so stark wie in zurückliegenden Jahrzehnten (und in zurückliegenden Jahrhunderten war sie sogar ein Politikum) auf ein öffentliches Interesse stößt, aber hin und wieder selbst noch säkulare Blätter wie die bei Pfarrern gern gelesene „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ streift. Bistumszeitungen dagegen verstecken theologische Inhalte in den Kommentaren zu den Sonntagsevangelien, ansonsten finden sie in dieser Zeitung oder in auflagenschwachen Fachzeitschriften ihren Platz.

So möchte es einem fast vorkommen, als hätte bei den kirchenfinanzierten Medien in diesem Land eine Art Selbstkastration eingesetzt. Vielleicht aus der Sorge heraus, als Fundamentalisten zu gelten oder mittelalterlichen Ideen anzuhängen, nahmen katholische Verleger und Schriftleiter irgendwann das lange Messer und trennten sich den „Glanz der Wahrheit“, die „Strahlkraft der göttlichen Selbstoffenbarung“, die „Heilsuniversalität der einen Kirche Jesu Christi“ – was ja alles Attribute des Katholischen sind – selber vom eigenen Körper. Obwohl die kirchliche Presse nach den Jahren der Nazi-Herrschaft heute völlig frei ist, verzichtet sie darauf, die inhaltlichen Grundlagen des Katholischen aufzuarbeiten. Was bleibt, sind ein bisschen Systemkritik an der eigenen Kirche und das heute übliche Spektrum von der Lebenshilfe bis zu dem, was man den Zeitgenossen an Ethik zumuten kann: Ausländer lieb haben, Solidarität mit den Ärmsten und Schwachen und die Bewahrung der Schöpfung. Unkatholisch ist das alles nicht. Aber das könnte auch in der „Bäcker-Blume“ oder der Apotheken-Zeitung stehen und ist eben nicht das unterscheidend katholische Proprium.

Der exemplarisch an den kircheneigenen Medien feststellbare Versuch, das Christentum auf eine Ethik zu verkürzen, hat mit dem Glaubwürdigkeitsverlust durch die Missbrauchsskandale einen empfindlichen Schlag erhalten. Die Kirche muss wieder einmal erkennen, dass ihre Hauptaufgabe nicht darin besteht, wohlklingende Ethiken zu formulieren. Sondern dass ihre vornehmste Aufgabe sich auf das bezieht, was man das Kontingente nennen könnte: das Schwache, die Sünde, die gefallene Natur und damit die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen.

An die Priester gewandt, die sich an Minderjährigen vergangen hatten, schrieb Papst Benedikt in seinem Brief an die Katholiken Irlands vom vergangenen März: „Ich mahne Euch, Euer Gewissen zu erforschen, Verantwortung für die begangenen Sünden zu übernehmen und demütig Euer Bedauern auszudrücken. Ehrliche Reue öffnet die Tür zu Gottes Vergebung und die Gnade wahrhafter Besserung. Durch Gebet und Buße für die, denen Ihr Unrecht getan habt, sollt Ihr persönlich für Euer Handeln Sühne leisten. Christi erlösendes Opfer hat die Kraft, sogar die größte Sünde zu vergeben und sogar aus dem schlimmsten Übel Gutes erwachsen zu lassen.“ Und der ganzen Kirche in Irland legt er nahe, die Umkehr und den nötigen Neuanfang nach dem Missbrauchsskandal mit einer vermehrten eucharistischen Anbetung zu verbinden.

Sich wieder auf den Weg Jesu Christi, sich in die Nachfolge des Mensch gewordenen Gottes begeben, war auch das Thema seiner Predigt zum Abschluss des Priesterjahrs in Rom, wo er auf dem Petersplatz sagte: „Wir tappen nicht im Dunkeln. Gott hat uns gezeigt, was der Weg ist, wie wir recht gehen können. Was die Gebote sagen, ist im Leben Jesu zusammengefasst und zu lebendiger Gestalt geworden. So erkennen wir, dass diese Weisungen Gottes nicht Fesseln sind, sondern Weg, den er uns zeigt. Wir dürfen ihrer froh sein, und wir dürfen uns freuen, dass sie in Christus als gelebte Wirklichkeit vor uns stehen. Im Mitgehen mit Christus geht uns die Freude der Offenbarung auf.“ Es ließen sich zahllose Worte anfügen, die der Papst in den vergangenen Monaten zu den Missbrauchsskandalen gefunden hat. Sie alle bleiben nicht bei den vorletzten oder vorvorletzten Begründungen des Katholischen stehen, sondern zielen auf den Kern: Dass im Zentrum der Kirche nicht eine Ethik oder eine Lehre stehen, sondern eine Person – Jesus Christus, der Mensch gewordene Gott.

Und nur eine Person und der vertraute Umgang mit ihr kann helfen, nach den Jahren einer „Das darf man nicht so eng sehen“-Pastoral jene Heiligkeit zurückzugewinnen, die allein die Gottsucher anzuziehen vermag. Wegen einer blutleeren Moral oder einer rein rhetorisch begründeten Ethik begibt sich niemand auf den Tugendpfad.

Das Kontigente: Der Mensch ist schwach, der Sünde zugeneigt und hundertprozentig dem sicheren Tod geweiht. Die Kirche verfügt über das Gegenmittel: Jesus Christus, den in ihrer Mitte lebendigen Gott. Um sich von dem tiefen Glaubwürdigkeitsverlust durch die Missbrauchsskandale zu erholen, muss sie dieses Mittel wohl zunächst an sich selbst anwenden.
Die Tagespost: August 2010

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