Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen

“Die Frühgeburt Mensch” von Adolf Portmann aus Basel

Rezension bezieht sich auf: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen (Gebundene Ausgabe)

Ernsthafte Erforschung von Adolf Portmann, 21. Juli 2010 von Chieminko (Japan) amazon
Auf der Rückseite des harten, blauen Buches ist “Ausgeschieden am 23.5.1989 Goethe-Institut Kyoto Bibliothek” gestempelt. Weitere 20 Jahre stand das Buch ungelesen in meinem Buecherregal. Soll es jetzt zum Müll kommen? Das antiquarische Buch schien es aber nicht zu wollen. Dann fasste ich Mut und wendete die erste Seite um. Im Vorwort steht : Erschienen sind die Studien erstmals 1944. In der 2. Auflage wurde das Werk 1956 unter dem Titel “Zoologie und das neue Bild des Menschen” neu herausgegeben, wodurch diese Vorarbeiten zu einer umfassenderen Anthropologie im letzten Jahrzehnt weiter verbreitet worden sind. Hiermit weiss man, dass Adolf Portmann ( 1897-1982) nicht nur Biologe, Zoologe, sondern auch Naturphilosoph sowie Anthropologe war. Nach der Einleitung kommt dann das Kapitel “Der neugeborene Mensch”. Schon ganz am Anfang des Kapitels treten zwei Begriffe “Nesthocker” und “Nestflüchter” auf, die man im Kopf behalten muss. Was bedeuten sie wohl? Nesthocker wird nicht nur für verwöhnte Jugendliche im Elternhaus gebraucht. Ursprünglich stammt die Bezeichnung aus der Verhaltensforschung. Ein Nesthocker bedarf nach der Geburt noch besonderer Pflege im Nest, während ein Nestflüchter in weit entwickeltem Zustand geboren wird, weil die Entwicklung im Mutterleib viel länger dauert als bei Nesthockern. Man hat den eigentlich für Jungvögel üblichen Namen auf die Wirbeltiere ausgedehnt, wo nun allerdings kein Nest vorkommt. Nach Beispiel der Tabelle I (S.29) gehören viele Insectivoren, Nager u. marderartige Raubtiere zu den Nesthockern, und Huftiere, Robben, Wale, Affen sowie Halbaffen zu den Nestflüchtern. Zu welchem von beiden gehört dann ein Menschenbaby? Es reift im Mutterleib zur Stufe des Nestflüchters mit offenen Sinnesorganen u. ausgebildeten Bewegungssystemen heran, aber es ist bei der Geburt überhaupt nicht fähig, sich fortzubewegen und angewiesen auf die Totalversorgung der Eltern. Wegen seiner offenen Augen u. Gehörgänge sollte es eigentlich den Nestflüchtern zugeordnet werden aber durch seine Unfähigkeit zur selbständigen Fortbewegung ähnelt es einem Nesthocker. D.h. die Hilflosigkeit des menschlichen Säuglings ist ein ganz besonderer Ausnahmezustand der Säuger, die vollentwickelt zur Welt kommen und sich schon unmittelbar nach der Geburt artgerecht verhalten können. Durch vergleichende Untersuchung der Entwicklungsverhältnisse bei Säugern kam Portmann zu dem Schluss, dass wir Menschen eigentlich viel zu früh geboren werden und um den Reifezustand etwa eines Pferde- od. Elefantenbabys zu erreichen, müsste unsere Schwangerschaft etwa 21 Monate dauern, und er überzeugte sich, dass wir tatsächlich es tun !! Er prägte dabei den Begriff der “physiologischen Frühgeburt”. Wir verbringen ein Jahr nach der Geburt als extrauteriner Embryo. Wegen des “sozialen Uterus” sei das Menschenkind offen für Umwelteinflüsse und könne Vieles lernen, mehr als wenn es Zeit im dunklen, reizarmen Mutterleib verbringe. Das Entscheidende ist, nach Portmann, dass die physiologische Frühgeburt ermögliche, das spezifisch Menschliche auszumachen. Das Buch setzt zwar keine eingehende Kenntnisse voraus. Aber wegen des streng wissenschaftlichen, trockenen Stils braucht man vielleicht etwas Geduld, oder schläft einfach ein.(–)zzz. Ich persönlich bin für das Buch sehr dankbar, weil mir bei der Lektüre eine alte Frage meiner Kindheit eingefallen ist ; Immer wenn ich ein Tierprogramm im Fernsehen sah, bewunderte ich etwa wie Pferde-, oder Hirschenbabys,  mit ihren frischgebackenen Beinen aufstanden und nach ihren Müttern rannten. Ich wurde dann nachdenklich, wenn ich sie mit dem Menschenbaby verglich. Auch meine Familie wunderte sich darüber. Warum ist nur ein Menschenbaby so hilflos? Die naive Frage geriet aber im Laufe der Zeit in Vergessenheit. Dank Portmann hat sich die jämmerliche Hilflosigkeit unseres Babys zur unersetzbaren, wertvollen Phase unseres Lebens verwandelt, bei der wir erst fähig sind, das Menschliche wie Sprechen, Gehen und Denken zu lernen. Das Buch ist zwar alt, aber mir kommt es nicht vor, als hätten Portmanns Auffassungen heute schon an Aktualität verloren. Es wird nach wie vor in meinem Regal bleiben.

Portmann Adolf: Biografieskizzen
Nach Angaben amazon. Ist das Buch derzeit nicht verfügbar

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