Wenn das Bewusstsein das Sein bestimmt
Demografie:
Wie die Gleichschaltung von Journalisten, Forschern, Arbeitsmarkt- und Gleichstellungspolitiker funktioniert. Von Jürgen Liminski
Die Tagespost, 20. Dezember 2013
Von Bismarck ist ein sarkastisches Wort mit wahrem Kern überliefert: “Je weniger die Leute davon wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie”.
Heute – zwei Reiche und eine Republik später – im Zeitalter der Mediendemokratie und der Wissenschaftsgläubigkeit, müsste man zu den Würsten und Gesetzen noch Studien und Statistiken hinzufügen.
Besonders deutliche Beispiele liefern seit einiger Zeit einige Familienforscher und Demografen. Letztere würde der renommierte Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg vermutlich unter die “Gelegenheitsdemografen” einordnen, erstere gehören eher in die Kategorie “Forschen am Feindbild Familie”, jedenfalls wird da manches durch den Fleischwolf der Statistik gedreht.
Anfang Oktober zum Beispiel veröffentlichten drei namhafte Institute für Wirtschaftsforschung (DIW, ZEW und IFO) ihren schon Wochen zuvor angekündigten Bericht zur Evaluierung der Familienpolitik in Deutschland – für manche Experten ist dieser 13 Millionen teure Bericht “ein Fall für den Rechnungshof”. Denn der Bericht greift unkritisch alte Mythen, Fiktionen und Vorurteile auf und gibt ihnen einen wissenschaftlichen Anstrich. Die Forscher nehmen offenbar nur zur Kenntnis, was in ihr Weltbild passt. Einschlägige Studien zu dem Thema wurden ebenso übergangen wie die einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Das gleiche Szenario konnte man schon bei einer weiteren Studie des IFO aus dem April beobachten. Hier allerdings war die Interpretation durch die Medien das Problem. Die Studie, so hiess es etwa im Handelsblatt, “warne” vor einem höheren Kindergeld. Mütter seien die “Leidtragenden” von höherem Kindergeld und Betreuungsgeld. Der Grund für dieses Leid sollen “negative Beschäftigungseffekte” sein, weil diese Leistungen von etwa 100 bis 200 Euro Mütter davon abhielten, erwerbstätig zu sein. Eine Kürzung dieser Leistungen würde Frauen vor der “Verführung” durch Familientransfers schützen.
Dieses “Credo einer Koalition von Arbeitsmarkt- und Gleichstellungspolitikern”, so Familienforscher Stefan Fuchs in einem Bericht des Instituts für Demografie, Allgemeinwohl und Familie (www.i-daf.org) findet und sucht Bestätigung in solchen Forschungsberichten. Da greift man gern auch mal in der Interpretation daneben. Vom Betreuungsgeld ist in dem IFO-Bericht zum Beispiel gar nicht die Rede. Er prognostiziert auch nicht die Folgen etwaiger Kindergelderhöhungen, geschweige denn, dass er vor ihnen warnt. Er untersucht lediglich die Kindergeldreform von 1996 auf deren Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit von Frauen und ihre Geburtenneigung, die Einkommenssituation und die “soziale Teilhabe” von Familien. Die IFO-Forscher betrachten diese Reform als ein “natürliches Experiment”, um kausale Effekte des höheren Kindergeldes auf das Verhalten der Mütter finden zu können. Auch das Geburtenverhalten lässt sich, so Fuchs, durch solche Einzelmassnahmen kaum beeinflussen. Das betonen Bevölkerungsforscher immer wieder, wenn es um das 2007 eingeführte Elterngeld geht, das keine messbaren “Wirkungen” auf die Geburtenrate hatte. Es geht eben fast immer nur um Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Erwerbstätigkeit von Müttern. Genau das ist auch das Ziel des flächendeckenden Betreuungsausbaus. Ziel des Kindergelds sei es dagegen immer gewesen, “Eltern die Unterhaltslasten für Kinder zu erleichtern, um so die Wohlstandsnachteile gegenüber Kinderlosen zu verringern. Diese Philosophie des Familienlastenausgleichs setzte als zentrale Prämisse voraus, dass Kindererziehung nicht bloss ein Hobby der Eltern ist, sondern eine Leistung, die auch der Allgemeinheit zugute kommt.” In diesem Sinn sind auch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu sehen, das den Gesetzgeber aufforderte, zu berücksichtigen, dass Eltern ihren Kindern nicht nur Unterhalt, sondern auch Fürsorge und Zuwendung schuldeten. Dementsprechend habe der Staat dafür zu sorgen, “dass es Eltern gleichermassen möglich ist, teilweise und zeitweise auf eine eigene Erwerbstätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder zu verzichten wie auch Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden” (Betreuungsurteil vom 10.11.1998). Wahlfreiheit in der Kinderbetreuung lautete also der Auftrag der Verfassungsrichter, nicht Geburtensteigerung oder Erleichterungen für die Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt zu Lasten der Familien.
Missinterpretationen sind das eine, Fehlforschungen das andere. In letztere Kategorie gehört die jüngste Studie des eigentlich seriösen Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Demnach ist die niedrige Geburtenquote in Deutschland “kein Phänomen deutscher Lebensart, sondern eine Folge mangelnder Angebote zur Kinderbetreuung”. Die Studie hält diesen Mangel, gemeint sind zu wenig Krippen, für einen “wesentlichen Faktor” der anhaltend niedrigen Geburtenzahlen. Zu diesem Ergebnis kommen die Forscher durch einen Vergleich mit der Fertilität zwischen der Geburtenrate in Deutschland und in der deutschsprachigen Region Belgiens. Deren Bevölkerung sei in der deutschen Kultur verwurzelt, könne aber gleichzeitig auf das Kinderbetreuungsangebot Belgiens zurückgreifen, das ähnlich wie in Frankreich stärker ausgebaut sei als in Deutschland. Ihre Geburtenrate liege deutlich über der in Deutschland. Die etwa 75 000 deutschsprachigen Belgier der Grenzregion Eupen-Malmedy haben Deutsch als Amtssprache und in der Schule, konsumieren deutsche Medien und haben auch einen eigenen Radiosender. Sie “erleben den deutschen Diskurs über das Frauen- und Familienbild“, nutzen aber seit “fast einem Jahrhundert die belgischen Familienleistungen”, insbesondere das gut ausgebaute Netz an Kinderbetreuung.
Gravierend sind die Fehler bei den Vergleichsgenerationen. Es geht um Frauen der Geburtsjahrgänge 1955 bis 59, die ihre Kinder mehrheitlich zwischen dem 25. und dem 35. Lebensjahr bekommen haben, also lange vor dem sogenannten “Krippenkrieg” in Deutschland. Der setzte 2006 ein und läuft, wenn auch auf anderer Ebene, immer noch. Ja, man könnte die Studie aus Rostock gut und gerne als Nachhutgefecht oder als Anschlag der Wissenschaftsguerrilla bezeichnen. Denn seither ist das Netz auch in Deutschland ausgebaut und dennoch kommen nicht mehr Kinder zur Welt. Man müsste sich also eher fragen: Warum bekommen die Deutschen trotz des hohen Krippenangebots so wenig Kinder? Und man käme vielleicht sogar zu dem gegenteiligen Schluss der Guerrilleros von Rostock, nämlich dass die tief verwurzelte deutsche Familienkultur bisher den totalen Absturz verhindert hat. Man hätte also, um das Ergebnis zu bestätigen, auch die späteren Jahrgänge und die Geburten nach dem Krippenkrieg vergleichen müssen. Das ist nicht geschehen, und der Verdacht liegt nahe, dass die Rostocker dieses Ergebnis schon kannten und lieber verschweigen wollten. Denn nach Angaben des Mikrozensus 2012, der zuverlässigsten Datenerhebung des Statistischen Bundesamtes, ist die Kinderlosigkeit in den letzten Jahrzehnten (also nach den herangezogenen Jahrgängen der Rostock-Studie) noch weiter gestiegen, trotz des frenetischen Krippenausbaus in Deutschland.
Man braucht auch keine neuen Datenvergleiche mit dem Ausland anzustellen. Es genügt der Blick auf Deutschland selbst. Der Osten hatte trotz der noch aus DDR-Zeiten stammenden flächendeckenden Betreuungsstruktur nach der Wiedervereinigung sogar weniger Geburten als der Westen und die Zahlen haben sich mittlerweile angeglichen. Selbst in Rostock wird man kaum auf die Idee kommen zu behaupten, der Osten gehöre nicht zur deutschen Kulturlandschaft.
Geradezu ärgerlich aber wird es, wenn man sieht, wie wurstig mit den verschiedenen Altersgruppen umgegangen wird. Die Rostocker loben vor allem die Vorschulen, also die Ecoles Maternelles nach dem Vorbild Frankreichs und das ist auch gut so. Denn diese Vorschulen stehen für die Altersgruppen drei bis sechs Jahre bereit, entsprechen also altersmässig, jedoch keineswegs entwicklungsqualitativ unseren Kindergärten. Die Guerrilleros brechen aber ständig Lanzen für die Krippen, indem sie unterschiedslos von Kitas sprechen. Man fragt sich, ob sie den fundamentalen entwicklungspsychologischen Unterschied zwischen “Unter drei“ und “Über drei“ kennen oder ob sie ihn bewusst vernebeln. Diese Kenntnis ist bei den deutschen Müttern offenbar trotz mancher wissenschaftlicher Nebelkerzen noch instinktiv vorhanden. Die meisten Mütter in Deutschland wollen in den ersten drei Jahren ihr Kind vorwiegend selbst betreuen und suchen daher – überwiegend aus wirtschaftlichen, aber auch aus persönlichen Gründen – allenfalls eine Teilzeitbeschäftigung. Das sollten Mütter nach der Vorstellungswelt der Rostocker und ihrer Auftraggeber offenbar nicht tun. Sie sollen wohl, wie es dem gängigen Rollenverständnis im politisch-medialen Establishment, der Koalition aus Arbeitsmarkt- und Gleichstellungspolitikern entspricht, nach der Geburt vollzeitig und so früh wie möglich an den Arbeitsplatz zurück.
Berlin, München, Rostock – die Argumentation ist simpel und wird immer wiederholt: Trotz hoher öffentlicher Leistungen für Familien setzt sich der Geburtenrückgang in Deutschland fort, was die Unwirksamkeit direkter Transfers an Eltern beweise. Mit dieser Argumentation wird man auch demnächst rechnen müssen, wenn die Grosse Koalition ihre sozialdemokratische Familienpolitik betreibt. Die Leistungen werden an den Geburtenzahlen gemessen. In dieselbe Kerbe hieben bisher vor allem grosse Stiftungen mit Studien, deren “Wissenschaftlichkeit“ hier und da belächelt wurde, aber publizistisch die Verlautbarungen der Politik unterfütterte. Jetzt werden die Universitäten und Institute herangezogen.
Frühere Bundesregierungen bis 1998 haben ihre Familienpolitik nie mit dem Ziel Geburten zu fördern begründet, sondern mit besseren Lebensbedingungen für Kinder und Familien, dem Ausgleich materieller Nachteile von Eltern im Vergleich zu Kinderlosen und dem Ziel, die von Familien erbrachten Erziehungs- und Pflegeleistungen materiell anzuerkennen. Diesen Anliegen dienten das 1986 eingeführte Erziehungsgeld, “Erziehungszeiten“ in der Rentenversicherung, Kinderfreibeträge und vor allem das Kindergeld. Ohne diese finanzielle Unterstützung wären die Geburtenraten in Deutschland wahrscheinlich, ähnlich wie in Italien oder Spanien, auf ein noch niedrigeres Niveau gesunken.
Noch wichtiger als der Geburtenaspekt ist jedoch: Die existierenden Familien wären ohne diese Leistungen ärmer (gewesen) und die “strukturelle Rücksichtslosigkeit“ (Franz Xaver Kaufmann) von Staat und Gesellschaft gegenüber der Familie noch eklatanter. Der Fünfte Familienbericht warnte deshalb eindringlich davor, in Zeiten öffentlicher Finanznot bei den Familien zu sparen. Er begründete dies mit den unverzichtbaren Leistungen der Familie für die materielle Wohlfahrt und “die alltägliche Lebensqualität und Lebenskultur der Menschen unseres Landes“. Diese Leistungen von Familien werden von Wissenschaftlern, Publizisten und Politikern, die finanzielle Familienförderung als vermeintliche “Verschwendung“ bekämpfen, ignoriert und verkannt. Aber dieses kurzfristige Effizienzdenken bedroht längerfristig die öffentlichen Haushalte und den sozialen Frieden. Denn je mehr der Staat die bisher von Familien erbrachten Pflege- und Betreuungsleistungen übernehmen muss, desto teurer wird es – härtere Verteilungskonflikte und weniger Solidarität sind so vorprogrammiert.
Die Diskussion über die Korrelation von Geburtenzahlen und Betreuungsmöglichkeiten ist in diesem Kontext zu sehen. Sie ist alt und durch die Empirie in Deutschland und Europa eigentlich beendet. Aber die Wirklichkeit stellt die Nomenklatura in Politik, Wirtschaft und Medien nicht zufrieden. Deshalb soll sie geändert werden nach dem Motto: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Dafür dienen wohl solche Studien. Man muss sich fragen: Warum tut sich ein wissenschaftliches Institut so etwas an?
Viele Institute sind in ihrer Finanzierung von der Wirtschaft abhängig. Da werden auch schon mal gefällige Forschungen angestellt. Rächt sich hier, dass bis auf Rostock sämtliche Universitäten in Deutschland ihre Lehrstühle für Demografie aus Kostengründen abgeschafft haben? Vielleicht standen sie bei dieser gesellschaftswissenschaftlich gesehen wahnsinnigen Massnahme auch schon unter dem Druck der Politik und Wirtschaft. Es gibt jedenfalls keinen Wettbewerb und keine Kontrolle mehr. Es wird munter drauflos geforscht und verwurstet. Ein paar Zahlenkolonnen hier, ein paar Grafiken da und schon schreiben Journalisten ab und plaudern interessierte Politiker nach, die Wirtschaftsfunktionäre sowieso. Das ist eine Art Gleichschaltung, die zwar ohne physische Gewalt daherkommt, aber im Ergebnis dasselbe bewirkt: Manipulation der Bevölkerung. Das Meinungsdiktat in Sachen Ehe und Familie aber wird dadurch in Deutschland immer bedrückender.
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