Vorsätze, Wünsche, Sklaverei

Prosit Neujahr! Aus Sicht vieler Menschen die ideale Zeit für Vorsätze und Wünsche

Zumal wir in Freiheit leben. Oder?    UPDATE  zum Autor

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, entdeckt so manche Einschränkungen, die gar nicht zu unserem Ideal von Freiheit passen wollen. Kann Freiheit ohne einen festen Orientierungsrahmen gar eine neue Form von Sklaverei sein? Tatsächlich gibt es Gründe, auch 2013 erst einmal auf Christus anzustossen.

Die Tagespost, 2. Januar 2013, von Burkhardt Gorissen

Aus den Champagnerflaschen sind die letzten perlenden Tropfen entwichen, der Rauch der zu spät gezündeten Silvesterraketen hat sich inzwischen verzogen. Ein Glück, der Kampf mit dem Neujahrskater konnte mit einer Kopfschmerztablette siegreich ausgefochten werden. Der Wecker klingelt wieder um sieben. Prosit Neujahr, der Alltag ist da!

Und wieder wundert man sich, dass die Zeit genauso schnell vergeht wie die Umsetzung der guten Vorsätze, die zum Neujahrsbeginn ebenso gehören wie die Böller um Mitternacht. Wir sind Sklaven unserer Gewohnheiten – und der Trägheit des Herzens. Dabei könnte alles so schön sein. Weniger rauchen, weniger essen, weniger Alkohol trinken. Eltern nehmen sich vor, ihre Kinder weniger mit der Videospielkonsole Wii allein zu lassen, sondern unternehmen stattdessen mit ihnen einen Spaziergang. Und am Arbeitsplatz redet man einfach mit- statt übereinander. Wenn, ja wenn…

Bevor wir unser Leben weiter auf der Überholspur verbringen, könnten wir uns von ein paar Gedanken ausbremsen lassen. Das geht ganz einfach, indem man den Pfad der Gewohnheit verlässt und einen anderen Weg einschlägt, denn “…das Tor, das zum Leben führt ist eng und der Weg dahin ist schmal”. Wenn nur nicht das Fleisch so schwach wäre, und der Geist? Er ist auch immer seltener willig, sondern berauscht sich an den vielen Ablenkungen. Wir wollen die totale Freiheit und wissen nicht wovon und wofür. Also zimmern wir uns nach der Pippi-Langstrumpf-Philosophie unsere Welt, “… widdewidde, wie sie mir gefällt“. Doch die Realität bleibt. Da hilft keine infantile Renitenz. Das ist wie beim Zahnarzt, zuerst der feine Bohrer, dann der grobe, und wenn’s weh tut hilft eine Betäubungsspritze. Die anästhesistische Leistung unserer Zeit besteht in ihren vielfältigen Ablenkungsmöglichkeiten. Gott leugnen wir einstweilen, denn die falschen Propheten der Neuzeit haben uns eingetrichtert, Religion sei Opium fürs Volk. Dass die Ablenkungsindustrie unablässig Narkotika produziert, weigern wir uns krampfhaft zu glauben. Wir wollen Spass. Auch wenn Silvester vorbei ist, für uns soll jeder Tag ist Feiertag sein. Beim Surfen durchs Internet begegnen uns genügend vermeintliche Glücksangebote: Astrovorschau, Engelkontakt, Chatten und Flirten: “Lebe Deine Phantasie – ganz ohne schlechtes Gewissen”, verspricht uns die Werbung eines Internetportals, dass zum Fremdgehen aufruft. Uns fehlt es nicht an Gelegenheiten, nur an Moral.

Deshalb verpuffen gute Vorsätze manchmal schneller als ein Tischfeuerwerk. Wir sind so sehr vom Zeitgeist angekränkelt, dass wir kaum Mut und Musse finden, uns einmal etwas genauer mit dem Gewissensspiegel auseinanderzusetzen. Wir haben mit unserem Spiegelbild zu kämpfen: Sitzt die Frisur? Ein Flecken auf der Jacke ist uns peinlicher, als wenn wir unseren Partner betrogen haben. So weit sind wir bereits “Jenseits von Gut und Böse”; Nietzsche stellt im gleichnamigen Werk lapidar fest: ” ,Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis, ,das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und er bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach”.

Selbsterkenntnis gehört kaum zu unseren Stärken. Unverbindlichkeit passt hingegen perfekt zu uns. Wir wollen alles wahllos kosten und konsumieren, ohne dass Verpflichtungen eingegangen werden müssen. Wir sind im Transit zuhause, immer auf der Überholspur eben: Ein wichtiger Kongress in New York, ein Citybummel in Paris, ein Filmfestival in Venedig, ein Konzert in London. Überall und nirgends, und wenn’s hoch kommt, summen wir den alten Schlager: “Ich hab noch einen Koffer in Berlin”. Ach so, da wäre noch ein unentdecktes Ferienparadies auf den Seychellen. Unsere Sichtweise ist touristisch. Nicht gerade ein Lebensentwurf, der geeignet ist, einen leidenschaftlichen Glauben an Gott zu entwickeln. Unser Fluchtverhalten sagt eine Menge über das gegenwärtige Klima unserer westlichen Zivilisation aus. Es zeigt, wie sehr wir an der narzisstischen Störung leiden. Mittlerweile gilt Glaube als Beschreibung eines therapeutischen Zustands. Wenn wir über Gott sprechen, geht damit meistens Verleugnung einher. Und dreimal krähte der Hahn. Wir hören es nicht einmal. Die Eigenliebe hat sich in uns virtuos ausgebreitet. Wir leben eine Apotheose des Ichs und erliegen der zwanghaften Sehnsucht, das Dionysische in immer neuer Ausprägung zu erfahren. Die Schlagwörter, die gegenwärtig in Umlauf sind, “Tu, was du willst”, “Alles ist relativ”, “Man lebt nur einmal”, drücken die wehmütige Hoffnung aus, dass die tiefe Identitätskrise in der sich die Welt heute befindet, durch ein paar gute Wünsche und eine keimfreie Sprache überwunden werden könnte. Es fällt uns schwer, unsere Erwartungen an etwas anderes zu koppeln als an das Diesseits. Die Vorstellung eines gerechten, liebenden und allmächtigen Schöpfers passt nicht in unser Klischee vom Machbarkeitswahn. Wie könnten wir das Paradoxon des Glaubens akzeptieren, dass das Geheimnis des Glücks in Demut und Verzicht liegt, um in Gott aufzugehen?

Was das verlorene Ethos der Postmoderne ausmacht, ist nicht, dass wir unsere kindlichen Abhängigkeitswünsche verloren haben, sondern dass wir getrieben wie Vergnügungsjunkies blindlings den Schaufensterverheissungen der Medien folgen. Im Gefühl, nonchalante Individualisten zu sein, übersehen wir, dass wir uns längst an sie versklavt haben. So ziehen wir – in Goethes Faust lässt es sich nachlesen – desorientiert durch “das wilde Leben, durch flache Unbedeutendheit”. Doch die Geschichte hat eine Moral, Mephistopheles belehrt Faust: “Er soll mir zappeln, starren, kleben, und seiner Unersättlichkeit soll Speis’ und Trank vor gier’gen Lippen schweben; Er wird Erquickung sich umsonst erflehn, Und hätt’ er sich auch nicht dem Teufel übergeben, er müsste doch zugrunde gehn.” Soll das unser Schicksal sein? Unser Stolz verbietet uns, etwas anderes zu akzeptieren als die Hybris, wir wären die Meister unseres eigenen Schicksals. Sehenden Auges gehen wir dem Untergang des Abendlandes entgegen und diskutieren geradezu lustvoll Endzeitszenarien. Armageddon als letzter Kick.

Überall lauert der Schatten des Verfalls. In Serien wie Big Brother werden Menschen wie Affen im Zoo präsentiert. Hatte Darwin etwa doch recht? Nein, unser gegenwärtiges Herrschaftssystem funktioniert nach den Prinzipien von Häme und Zynismus. Manche Menschen glauben nur noch an ihre Existenz, wenn sie sich selbst im Fernseher gesehen haben. Und so versklaven sich die Habenichtse der Unterschicht in Real-TV-Sendungen, wo sie von abgefeimten Moderatoren aufeinandergehetzt werden. Am besten, bis Blut fliesst. Dann werden sich die bigotten Medienmoralapostel erheben und ihre Ordnungsrufe absondern, die sie vorsorglich schon in ihren Schubladen bereithalten. Mit echten Gladiatorenkämpfen hält man sich bisweilen noch zurück. Tatsächlich? Nein, es gibt sie schon: Ultimate Fighting, in den USA bereits der Renner. In einem achteckigen Käfig schlagen und treten Männer aufeinander ein, bis Blut in Strömen fliesst und einer ohnmächtig wird. Todesopfer hat es schon einige gegeben. Für die Publicity scheinen sie erwünscht. So wird die Toleranzgrenze immer weiter ausgedehnt und wir werden zu Sklaven unserer falsch verstandenen Toleranz.

Haben uns die Menschenrechte nicht etwas anderes versprochen? Ging es nicht um Befreiung? Am 1. Januar 1863 trat in den Südstaaten unter der Regentschaft Abraham Lincolns die Abschaffung der Sklaverei in Kraft. Doch sind wir nicht, in einem anderen Sinn, selbst zu Sklaven geworden? Unsere Fesseln sind virtuell. Man sieht sie nicht, man hört sie nicht, aber sie sind da. In der Wahrnehmung dieser Tatsachen finden wir eine verwirrende und zutiefst deprimierende Situation vor. Der Humanismus hat nicht zu einer Humanisierung geführt, sondern eine Welt geschaffen, die immer brutaler wird. Die Diktatur der politischen Korrektheit zwingt uns, was pervers ist, nicht mehr pervers zu nennen. Kopulierende Paare auf karnevalesken Strassenumzügen, sagt man uns, seien Ausdruck der Lebensfreude. Menschen, die öffentlich sadomasochistische Praktiken ausüben und ihre “Lustsklaven” wie Köter an einer Halsbandleine hinter sich herzerren, begrüsst der Berliner Bürgermeister als Symbol der Freiheit. Kritik daran wird von interessierter Seite sofort niedergebrüllt. In unserer Gesellschaft hat sich ein Klima entwickelt, in dem es eine offene Diskussion kaum noch geben kann. Es genügt, reflexartig den politischen Gegner als fortschrittsfeindlich, ausländerfeindlich oder homophob (und neuerdings auch als “katholisch”) zu qualifizieren, mit anderen Worten, als politisch suspekt. Dank dieser perfiden Art der Diffamierung wird eine Voreingenommenheit produziert, die jegliche Form der Kritik unmöglich macht, mehr noch, sie kriminalisiert. Ein Klima der Denunziation ist entstanden. Jeder Kritiker wird mit Anschuldigungen, die bis zu unbewiesenen Verleumdungen gehen, am Pranger der medialen Öffentlichkeit mundtot gemacht. Damit wird ein faschistoides System eines moralischen und kulturellen Relativismus zementiert, das nicht zum Zusammenhalt von Menschen beiträgt, sondern zur Entsolidarisierung. Was eine auf Denunziation aufgebaute Gesellschaft anrichtet, haben die Diktaturen des 20. Jahrhunderts gezeigt. Doch die Diktatur des Relativismus kommt nicht mit Stiefeltritten und Marschliedern daher. Sie baut vielmehr auf eine repressive Bürokratie, die leise, fast unmerklich, aber nichtsdestoweniger totalitär, bestimmt, was politisch korrekt ist. Die längst geplante und zum Teil bereits durchgeführte Selektion per Präimplantationsdiagnostik (PID), Abtreibungszwang und Euthanasie, gibt nur wenig Hoffnung auf eine segensreiche Zukunft. Der Wert eines Menschenlebens wird nach den Vorgaben volkswirtschaftlicher Gewinnmaximierung bestimmt. Gottes zehn Gebote werden verraten zugunsten menschlichen Gerechtigkeitsstrebens.

Die humanistischen Hassprediger erklären, die christliche Tradition entmündige den Menschen. Sie lehnen moralische Forderungen nach Treue, Anstand, Pflichterfüllung oder Demut ab und brandmarken sie als Eingriff in die persönliche Freiheit, ohne zu erklären, welchem Ethos diese Freiheit eigentlich folgt. Dabei sind sie nicht in der Lage, tragfähige Wertvorstellungen zu präsentieren, abgesehen von der philosophischen Nullnummer, alles sei relativ. Offenbar ist es ein Ziel des laizistischen Staates, nicht nur das Christentum zu beseitigen, sondern auch ein wie immer geartetes Prinzip von moralischer Verpflichtung zu verneinen. Man kann schon lange nicht mehr über eine Krise der materialistischen Welt reden, längst bewegen wir uns auf das Chaos zu, wie ein manövrierunfähiger Tanker auf ein Riff.

Doch Weltschmerz oder Weltflucht sind nicht die richtigen Mittel, um dieser Krise zu begegnen. Die Stärke des Christentums ist, dass Gott die Menschen annimmt wie sie sind, aber sie durch das Wirken seines Wortes nicht so lässt wie sie sind, sondern sie ganz in seine Liebe einbezieht. Der für uns menschgewordene Sohn Gottes, der durch alle Leiden Hindurchgegangene, der bis in die Hölle ging, um noch in die tiefste Dunkelheit einen Lichtstrahl zu senden, zeigt uns durch seinen Liebesdienst, welchem Gnadenversprechen wir folgen dürfen. Ihm, dem grenzenlos Liebenden, ging es nicht um irdische Macht, sondern um echte Befreiung aus der Sklaverei. Diese Gnade ist es schliesslich, die unseren mächtigen Eigenwillen, unsere Wut und resignative Trauer mit der Sanftheit göttlicher Liebe zum Licht des Glaubens werden lässt. Wie wunderbar ist es, in tiefster Seele zu erfahren, wie sich Gottes Liebe grenzenlos verströmt und wir in ihm selbst verströmen, ohne Zweifel, ohne Angst vor dem, was die Zukunft bringen wird. Bleibt der gute Vorsatz für das neue Jahr:

Tragen wir mit dem offensiven Bekenntnis zu Gott und mit gelebter Nächstenliebe die Frohe Botschaft in die Welt.

Daran wollen wir uns im neuen Jahr messen lassen.

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