“Gott ist eine Realität, egal, wie die Gesellschaft das sieht”
Bischofsvikar Valentine Koledoye über die Glaubenskrise in der Schweiz, die Bedeutung der Familienpastoral und den besonderen Blick Afrikas auf die Kirche
19.10.2024
Hochwürden, Sie sind jetzt seit fast fünf Jahren Bischofsvikar in der Region Sankt Urs mit den Kantonen Basel-Land, Basel-Stadt und dem Kanton Aargau. Wie ist die Situation der Kirche in der Region Sankt Urs?
Ich gehe leider davon aus, dass die Kraft des Evangeliums, die Wahrheit der Lehre und die Schönheit der Kirche sehr vielen Menschen verborgen bleiben und sie das wichtigste im Leben, die persönliche Beziehung zu Gott, verpassen. Ich spreche daher von einer “Glaubenskrise” und meine damit den weit verbreiteten Mangel an Glauben und einen Mangel an Wissen über die eigene Religion. Beides geht Hand in Hand.
Die Gesellschaft im Ganzen hat sich verändert: In der Schweiz geht es den meisten Menschen materiell sehr gut, die öffentlichen Institutionen funktionieren, Wohlstand und Sicherheit lassen viele Menschen Gott und seine Kirche vergessen. Das Problem sind weniger die Kirchenaustritte, sondern die vielen Getauften, die kirchenmüde geworden sind, deren Glauben eingeschlafen ist. Sie wollen wir wieder für den Glauben und die Kirche begeistern.
Ist das auch die größte Schwierigkeit für Sie, diese Menschen wieder aktiv ins Kirchenleben einzubinden?
Das gehört sicher dazu. Aber die größte Herausforderung für mich als Bischofsvikar ist der massive Personalmangel: Es gibt keine Priester mehr, es gibt keine Theologen mehr, es gibt kaum noch Katecheten und auch an sonstigen Mitarbeitern herrscht Mangel.
Gibt es die Möglichkeit, Priester aus dem Ausland zu holen?
Selbstverständlich gibt es diese Idee. Aber damit sind auch viele Schwierigkeiten verbunden. Die Qualität spielt eine große Rolle: Kein Bischof ist bereit, seine besten Priester ins Ausland zu schicken; die braucht er selber. Zudem gibt es auch psychologische Aspekte, die zu berücksichtigen sind. Es ist nicht einfach für einen Priester, in ein anderes Land, in eine andere Kultur zu kommen. Es braucht Zeit, die neue Sprache zu meistern und um sich einzugewöhnen. Ein afrikanischer Priester etwa, der nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz kommt, benötigt circa drei bis vier Jahre, um sich einzuleben.
Sprechen Sie da auch aus eigener Erfahrung? Sie stammen aus Afrika und haben einen Teil Ihrer Jugend in den USA verbracht.
So ist es. Ich habe als junger Mann in den USA meine Heimat vermisst und war in den ersten Jahren dort nicht glücklich. Später habe ich auch in Italien und Österreich studiert und jedes Land hatte für mich seine eigenen Herausforderungen. Interkultureller Austausch ist gut und wichtig, braucht aber Zeit und darf nicht überstrapaziert werden.
Im letzten Jahr wurde das Pastorale Zentrum des Bistums neu aufgestellt. Dabei scheint Ihnen vor allem auch an der Familienpastoral gelegen zu sein. Warum?
Ja, die Familienpastoral ist mir sehr wichtig. Wenn wir weltweit auf den synodalen Prozess schauen, dann ist sehr viel von strukturellen Änderungen die Rede oder von den Wünschen mancher Gruppen, wie etwa die Zulassung von Frauen zum Diakonat. Das ist sicher alles wichtig. Aber die Strukturfragen Roms interessieren in Basel-Land kaum jemanden. Und ich habe mich immer gefragt: Was machen wir in der Zukunft? Diese gibt es nur, wenn sich die Jugendlichen für die Kirche interessieren und wir auf allen Ebenen Nachwuchs haben. Das größte Problem ist meiner Ansicht nach, dass die Familien nicht genug unterstützt werden, auch bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder. Aus meiner persönlichen Erfahrung weiß ich: Ich bin heute hier dank meiner Großmutter, die viel in mich und meine Brüder investiert hat, um uns auf dem Weg des Glaubens zu begleiten. Denn meine Eltern waren berufstätig und hatten dazu keine Zeit. Meine Arbeit als Seelsorger war daher immer schon auf die Familie gerichtet.
Welche Aktivitäten stehen in der Familienpastoral an?
Ein wichtiges Thema ist für mich etwa die Ehevorbereitung. Ohne stabile Basis ist die Ehe den Herausforderungen der Zeit nicht gewachsen. Kaum etwas ist schwieriger, als wenn zwei Menschen ein Leben lang zusammenkommen sollen. Dabei spielt das Sakrament der Beichte eine wichtige Rolle. Ohne Vergebung kann es keine gesunde Beziehung geben. Man kann nur verzeihen, wenn man Verzeihung selbst erlebt hat. Sicher, die Liebe verbindet, aber sie kann auch eine große Herausforderung sein. Die Menschen müssen erfahren, dass Gott in schwierigen Situationen helfen kann. Gott ist eine Realität, egal, wie die Gesellschaft das sieht. Das gilt auch für die Kindererziehung, die ein weiterer wichtiger Punkt ist. Außerdem haben wir eine Befragung verschickt, um die Anliegen jener zu hören, die sich immer noch für die Kirche interessieren. Wir haben mehr Antworten erhalten als erwartet. Über 200 Leute haben zurückgeschrieben.
Daraufhin haben wir die Idee entwickelt, die katholischen Familien der Region zu einem großen, spirituellen Familien-Event Ende Oktober zusammenzubringen. Damit wollten wir vor allem junge Familien ansprechen.
Und doch konnte das Projekt nicht wie ursprünglich geplant umgesetzt werden, weil der Landeskirchenrat der Finanzierung nur in einer abgespeckten Form zugestimmt hat. Warum werden Ihnen Steine in den Weg gelegt?
Wir haben in der Schweiz ein duales System: die pastorale Seite einerseits und die staatskirchenrechtliche Seite andererseits. Die Kirchenbeiträge der Gemeinden werden vom Landeskirchenrat verwaltet. Die pastorale Seite hat kein eigenes Geld. Das liegt beim Partner und mit diesem müssen wir uns einig sein, wofür das Geld ausgegeben werden soll. Das finde ich absolut richtig. Ich war immer ein Priester, der nicht Verwalter, sondern Seelsorger sein wollte. Dazu bin ich berufen worden: auf die Straße zu gehen und den Leuten zu begegnen, wie Jesus Christus ihnen begegnet ist. Darum gefällt mir die Arbeitsteilung in der Schweiz. Selbstverständlich gibt es auch Herausforderungen wie in diesem Fall. Letztlich haben wir aber einen guten Kompromiss gefunden.
Wenn wir auf die Ebene der Weltkirche gehen, fällt auf, dass die Kirche in Afrika immer selbstbewusster wird und gerade nicht nur von Strukturfragen spricht, sondern vom Glauben. Zu sehen war das auch an den Reaktionen der afrikanischen Bischöfe auf das Segnungsdokument “Fiducia Supplicans”. Können Sie uns den afrikanischen Blick etwas erläutern?
Die Kirche kämpft in etwa 60 Prozent der afrikanischen Länder gegen zwei Bedrohungen. Auf der einen Seite gibt es die Islamisierung. Um zu überleben, brauchen die afrikanischen Christen einen starken Glauben: Wenn sie nicht überzeugt sind von Christus, seiner Auferstehung, seiner Botschaft, dann haben sie von heute auf morgen verloren. Die Islamisierung hat viele Ebenen. Es gibt finanziellen und politischen Druck von Saudi-Arabien und natürlich auch Gewalt und Terrorismus. Wenn man das begriffen hat, versteht man, warum für die afrikanischen Christen Christus selbst die wichtigste Realität ihres Lebens ist. Auch bei den konkreten Themen muss man die afrikanische Kultur berücksichtigen: Die Ehe im klassischen Sinne gibt es in Afrika so nur bei Christen. Polygamie ist Teil der afrikanischen Kultur und auch Teil des Islam. In diesem Kontext muss man auch die kritischen Reaktionen auf “Fiducia Supplicans” sehen. Die andere Bedrohung für die katholische Kirche ist die Evangelisierung durch Freikirchen. Sie stützen sich auf die Bibel und weichen keinen Millimeter von ihr ab, um sich neuen europäischen Moralvorstellungen anzupassen. Wenn die Katholiken in Afrika ihren Glauben abschwächen, dann gewinnen entweder die Islamisten oder die Freikirchler.
Was ist Ihre Prognose für die Kirche in Europa?
Momentan befindet sich die Kirche in Europa in einer herausfordernden Lage, aber ich bin optimistisch, dass die Zukunft Gutes bereithält. Die Situation fordert nicht nur die Priester und Bischöfe heraus, sondern jeden Katholiken: In Europa sind wir es nicht gewohnt, über unseren Glauben zu sprechen und ihn zu bezeugen. Es gehört zum guten Ton, nicht über Religion zu reden. Kindern bringt man bei, Religion sei wie Poitik und Krankheiten ein Tabuthema, das man möglichst meidet, um in kein Fettnäpfchen zu treten. Das ändert sich jetzt. Wir lernen mit anderen über unseren Glauben zu sprechen, für ihn einzutreten und Zeugnis zu geben. Gott wird für seine Kirche sorgen. Jesus selbst sagt zu Petrus: “Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.” (Mt 16,18). Das gilt seit 2000 Jahren und auch in Zukunft. Christus hat seine Kirche nie verlassen. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Zeiten, als die Gläubigen dachten, jetzt geht es zu Ende mit der Kirche und es ist doch immer anders gekommen. Ich bin überzeugt, dass Jesus, der durch den Heiligen Geist die Geschicke der Kirche lenkt, die Kirche und ihre Zukunft auch in Europa in seinen Händen hält.
Laut Statistischem Bundesamt der Schweiz leben im Bischofsvikariat St. Urs etwa 1 Million Menschen. Davon sind 24% katholisch, 20% evangelisch-reformiert, 16% gehören anderen Religionsgemeinschaften an und 40% sind ohne Konfession. Gemäß den Angaben des Statistischen Bundesamtes glaubt nur die Hälfte der Katholiken in der Schweiz überhaupt an Gott, 75% beten nicht täglich und nur 11% folgen der Sonntagspflicht.
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