Freiraum für Gottes Plan

In “Familiaris Consortio” hat Johannes Paul II. Fehlentwicklungen geradezu prophetisch wahrgenommen

Die Tagespost, 28.11.2011 

“Tagespost”-Serie Teil II. Von Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst

Vor 30 Jahren, zum Christkönigsfest am 22. November 1981, wurde das Nachsynodale Apostolische Dokument “Familiaris Consortio” veröffentlicht. Papst Johannes Paul II. schreibt darin “an die Bischöfe, Priester und Gläubigen der ganzen Kirche über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute”. Zum Jahrestag der Publikation hat die Deutschen Bischofskonferenz mit einer eigenen Stellungnahme die Klarheit dieses wegweisenden Dokuments der päpstlichen Lehrverkündigung gewürdigt und hat dankbar die bleibende Bedeutung und Gültigkeit dieses Schreibens herausgestellt.

“In dem Wissen, dass Ehe und Familie zu den kostbarsten Gütern der Menschheit zählen”, richtet Papst Johannes Paul II. sein Schreiben an alle Menschen guten Willens und entfaltet ausführlich und gewinnend die christlich-kirchliche Sicht von Ehe und Familie. “Die Kirche weiss aus dem Glauben um den Wert von Ehe und Familie in ihrer ganzen Wahrheit und tiefen Bedeutung, deshalb fühlt sie sich erneut gedrängt, das Evangelium, die ,Frohbotschaft‘, allen ohne Unterschied zu verkünden, besonders aber jenen, die zur Ehe berufen sind und sich auf sie vorbereiten, sowie allen Eheleuten und Eltern in der Welt” (FC 3).

Es ist das grosse Verdienst des seligen Papstes, dieses Anliegen der ganzen Kirche in seiner Bedeutung für die Gesellschaft und die gesamte Menschheitsfamilie so sensibel entfaltet zu haben. Wie sehr ihm persönlich dieser Zusammenhang am Herzen liegt, zeigt sich auch in der Tatsache, dass er der ersten Bischofssynode nach seiner Wahl das Thema “Ehe und Familie” vorlegt, aus dessen Beratung vieles für das in diesem Beitrag zu würdigende Dokument hervorgegangen ist.

Papst Johannes Paul II. stellt seinem Schreiben eine ausführliche Analyse der Situation der Familie voran. Es nimmt differenziert die Situation von Ehe und Familie wahr und benennt dabei Entwicklungen, die nach wie vor von hoher Aktualität sind. In dieser Weitsicht seiner Ausführungen erweist sich “Familiaris Consortio” als geradezu prophetisches Dokument. Es spricht die oft schwierige Situation des (Über-)Lebens der Familie in den ärmeren Ländern an; widmet sich aber auch ausdrücklich der allgemeinen Situation in den verschiedenen Gesellschaften und staatlichen Gemeinschaften insgesamt.

Schon vor dreissig Jahren nimmt Papst Johannes Paul II. “Anzeichen einer besorgniserregenden Verkümmerung fundamentaler Werte” wahr und mahnt den häufig konkreten Schwierigkeiten der Familie vermittelnd entgegenzutreten (vgl. FC 6). Die gegenwärtige Krise des Finanzmarktes und der Wirtschaft auf europäischer und globaler Ebene offenbart ein regelrechtes ,Vakuum der Werte‘ und das Bedürfnis der Menschen nach Sinn; – eine Entwicklung, die “Familiaris Consortio” bereits thematisiert. Mit grosser Sorge sieht Papst Johannes Paul II. gravierende Veränderungen in unserer Gesellschaft, zu deren Symptomen er die steigende Zahl der Ehescheidungen, Sterilisationen, die Abtreibung ungeborenen menschlichen Lebens unter anderem zählt. Ausdrücklich warnt er vor dem “Aufkommen einer regelrecht empfängnisfeindlichen Mentalität” (FC 6). Die heutige Besorgnis um die demographische Entwicklung in weiten Teilen der westlichen Welt zeigt, wie wachsam der Papst bereits vor dreissig Jahren unser Bewusstsein für eine zunehmend belastete Entwicklung wahrgenommen hat.

Die Ursache dieser für Ehe und Familie schwierigen gesellschaftlichen Situation sieht “Familiaris Consortio” in einer Fehldeutung des Freiheitsbegriffs. Freiheit wird oftmals als autonome Kraft der Selbstbehauptung missverstanden, die sich in Form des egoistischen Wohlergehens nicht selten gegen die Mitmenschen richtet. Dem steht fundamental das christlich-kirchliche Verständnis von Freiheit entgegen, das die Befähigung zur Mitwirkung am Plan Gottes betont (vgl. FC 6). Darin liegt die einzigartig hohe Würde von Ehe und Familie begründet.

Zur Entfaltung dieser Würde bedarf es der Gabe der Unterscheidung im Geist des Evangeliums. Ausdrücklich hält das Dokument fest: “Aufgabe des apostolischen Amtes ist es, das Bleiben der Kirche in der Wahrheit Christi zu gewährleisten und sie immer tiefer darin einzuführen” (FC 5). Die Aufgabe und das Charisma der christlichen Eheleute und der Familie ist es, “Abbild des liebenden Gottes zu sein” (FC 10f.). Ehe und Familie stehen damit in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Wirklichkeit der Kirche.

Weil Gott selbst Liebe ist (vgl. 1 Joh. 4,8) und er den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat (vgl. Gen 1, 26f.), ist er von Gott auch zur Liebe berufen und befähigt. Diese Begabung kann der Mensch auf zweifache Weise ganzheitlich verwirklichen: in der Ehe und in der Jungfräulichkeit. “Sowohl die eine als auch die andere ist in der ihr eigenen Weise eine konkrete Verwirklichung der tiefsten Wahrheit des Menschen, seines ,Seins nach dem Bild Gottes‘ ” (vgl. FC 11). Für alles Bemühen um eine Verwirklichung dieser Berufung hält “Familiaris Consortio” zwei grundlegende Kriterien fest: die “Vereinbarkeit mit dem Evangelium” und “die Verbundenheit mit der universalen Kirche” (FC 10).

Damit ist die Ehe mehr als eine bürgerliche Zweckgemeinschaft. Sie ist Zeichen für den unverbrüchlichen Bund Gottes mit den Menschen: “Die Liebesgemeinschaft zwischen Gott und Mensch (…) kommt auf bedeutsame Weise im bräutlichen Bündnis zwischen Mann und Frau zum Ausdruck” (FC 12). Als Sakrament, das heisst als Realsymbol dieser bräutlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch, die sich in der personalen Ganzhingabe der Ehegatten ausdrückt, gewinnt die Ehe ihre Unauflöslichkeit. Gott “will und schenkt die Unauflöslichkeit der Ehe als Frucht, Zeichen und Anspruch der absolut treuen Liebe, die Gott dem Menschen, die Christus seiner Kirche entgegenbringt” (FC 20).

Die Ehe ist Berufung zur Liebe und das in der ganzheitlichen Weise der geistigen und leiblichen Hingabe, aus der sich auch eine verantwortete Offenheit auf Nachkommenschaft ergibt. Wie die innertrinitarische Liebe nicht bei sich stehenbleibt, sondern Frucht hervorbringt, haben die Eheleute Teil am Schöpfungswirken Gottes durch ihre freie und verantwortliche Mitwirkung bei der Weitergabe menschlichen Lebens (vgl. FC 28). “Die Ganzheit, wie sie die eheliche Liebe verlangt, entspricht auch den Forderungen, wie sie sich aus einer verantworteten Fruchtbarkeit ergeben. Auf die Zeugung eines Menschen hingeordnet, überragt diese ihrer Natur nach die rein biologische Sphäre und berührt ein Gefüge von personalen Werten, deren harmonische Einfaltung den dauernden, einträchtigen Beitrag beider Eltern verlangt. Diese Hingabe ist in ihrer ganzen Wahrheit einzig und allein im ,Raum‘ der Ehe möglich, im Bund ehelicher Liebe, auf dem Boden der bewussten und freien Entscheidung, mit der Mann und Frau die innige, von Gott gewollte Lebens- und Liebesgemeinschaft eingehen (vgl. Gaudium et Spes, 48), die nur in diesem Licht ihren wahren Sinn enthüllt” (FC 11).

Jede andere Form eheähnlichen Zusammenlebens oder einer mit Vorbehalten verschiedener Art eingegangene Verbindung widerspricht dieser Berufung und kann aus christlich-kirchlicher Sicht keine Ehe begründen. Die Treue zum Plan des Schöpfergottes beeinträchtigt in keiner Weise die Freiheit der Person, sondern schützt sie vielmehr vor jedem Subjektivismus und Relativismus (vgl. FC 11).

Aus der Wirklichkeit der Schöpfung ergibt sich die Identität der Familie und es wird auch erkennbar, was ihre Sendung ist. Das Apostolische Schreiben sieht die Familie in besonderer Weise zum Dienst am Leben berufen, zur Teilnahme an der Entwicklung der Gesellschaft und an der Sendung der Kirche. Als Gemeinschaft von Personen in Liebe ermutigt Papst Johannes Paul II.: “Familie, werde, was du bist!” (FC 17).

Die Familie ist die “erste Lebenszelle der Gesellschaft” (FC 46). Sie ist noch vor dem Staat und jeder Gesellschaft Träger von Rechten und Pflichten. “Die Familie ist in lebendiger, organischer Weise mit der Gesellschaft verbunden; denn durch ihren Auftrag, dem Leben zu dienen, bildet sie deren Grundlage und ständigen Nährboden. In der Familie wachsen ja die Bürger heran, und dort finden sie auch ihre erste Schule für jene sozialen Tugenden, die das Leben und die Entwicklung der Gesellschaft von innen her tragen und gestalten” (FC 42). Darum darf sich die Familie nicht in sich selbst verschliessen, bedarf auf der anderen Seite aber auch des besonderen Schutzes und der subsidiären Hilfe durch den Staat und die Gesellschaft. Papst Johannes Paul II. entfaltet dazu, gestützt durch die Beratung der Synode, eine Charta von Rechten und Schutzbestimmungen für die Familie (vgl. FC 46).

Zu den grundlegenden Aufgaben der christlichen Familie zählt “Familiaris Consortio” auch den Dienst am Aufbau des Reiches Gottes, indem sie am Leben und der Sendung der Kirche teilnimmt. Die christliche Familie ist “auf ihre Weise ein lebendiges Bild” und “eine Vergegenwärtigung des Geheimnisses der Kirche in der Zeit” und kann auch als “Kirche im kleinen” bezeichnet werden (vgl. FC 49). Als Sakrament umgreift die Ehe alle Bezüge menschlicher Wirklichkeit. Sie befähigt und verpflichtet die christlichen Ehegatten und Eltern, durch ihre Berufung zur Gestaltung der weltlichen Dinge nach dem Evangelium, das Reich Gottes zu suchen (vgl. FC 47 u. LG 31). Die Familie als christliche Gemeinschaft nimmt durch ihr eigenes Glaubensleben und Zeugnis teil an der prophetischen Sendung Christi (vgl. FC 73) und ist “auch dazu berufen, diese Liebe Christi an die Mitmenschen weiterzugeben und so auch erlösende Gemeinschaft zu werden” (FC 49, vgl. 73). Das Spezifikum der christlichen Familie liegt in ihrem Sein und Handeln als innige Liebes- und Lebensgemeinschaft im Dienst an Kirche und Gesellschaft, “durch das sakramentale Leben, durch den Einsatz der eigenen Existenz und durch das Gebet” (FC 55). Darin ist die Ehe aus sich heraus hingeordnet auf die Eucharistie und das Sakrament der Versöhnung.

Vor diesem Hintergrund widmet die Kirche der pastoralen Sorge um Ehe und Familie besondere Aufmerksamkeit. Vor allem den Bischöfen und Priestern wird diese Sorge ausdrücklich ans Herz gelegt. Auch der Pfarrgemeinde vor Ort kommt eine tragende Bedeutung bei der Unterstützung von Ehe und Familie zu (vgl. FC 70).

Die Sorge der Kirche gilt in besonderer Weise den Menschen, die sich in “gebrochenen Lebenssituationen” befinden. Sie nimmt sensibel die Möglichkeit des Scheiterns menschlicher Beziehungen ernst und weiss sich den davon betroffenen und darunter leidenden Menschen besonders nah. Ausdrücklich hält “Familiaris Consortio” fest, dass ihnen nicht mit moralischer Geringschätzung begegnet werden darf. Der Respekt vor der Person und vor der Biografie jedes und jeder Einzelnen ist unabdingbare Grundlage jeder Pastoral.

In der öffentlichen Wahrnehmung wird “Familiaris Consortio” allerdings oftmals darauf reduziert, dass die Kirche wiederverheiratet geschiedene Katholiken nicht zum Empfang der Eucharistie zulassen kann. Überzeugend hat Papst Johannes Paul II. mit seinem Apostolischen Schreiben die unaufgebbare Unauflöslichkeit der sakramentalen lebenslangen Ehe bekräftigt. Wer durch den Akt einer zweiten zivilen Heirat vor dem Standesamt öffentlich bekundet, dass er das christlich-kirchliche Verständnis der sakramental geschlossenen Ehe nicht teilt, schliesst sich als wiederverheiratet Geschiedener selbst aus der vollen eucharistischen Gemeinschaft aus; nicht allerdings aus der weiteren Gemeinschaft der Kirche. Die Kirche kann in diesen Fällen nicht beliebig anders entscheiden, sie hat die sakramentale Verfasstheit unseres Glaubens vor Unklarheit und Zweifel zu schützen. In diesem Zusammenhang ist der Vorwurf der “Unbarmherzigkeit” keine angemessene Kategorie, denn wo es um die Wahrheit geht, kann es keinen Kompromiss geben. Papst Benedikt XVI. sieht hier eine grosse Verantwortung: “Die Kirche, die sich dem Willen Christi nicht widersetzen kann, hält unverbrüchlich an dem Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe fest, bringt aber zugleich grosse Zuneigung denjenigen Männern und Frauen entgegen, denen es aus verschiedenen Gründen nicht gelingt, es zu befolgen. Deshalb können Initiativen, die die Segnung von illegitimen Verbindungen anstreben, nicht zugelassen werden. Das Apostolische Schreiben Familiaris consortio hat den Weg gewiesen, der uns durch eine Denkweise, die die Wahrheit und die Liebe achtet, eröffnet wird” (Papst Benedikt XVI.).

Als umfassende Darlegung der kirchlichen Lehre über das Sakrament der Ehe und die “Aufgabe der christlichen Familie in der Welt von heute” hat “Familiaris Consortio” auch nach 30 Jahren bleibende Gültigkeit. Zu Recht wird das Dokument auch als “Magna Charta der Familienpastoral” bezeichnet (Benedikt XVI.). Diese ist mit der Fülle ihrer grundlegenden Aussagen, die sich würdigend und konkretisierend um den Lebensbereich von Ehe und Familie gruppieren, nach wie vor aktuell und der Kirche und der Gesellschaft dringend ans Herz gelegt.

Quelle
Familiaris.Consortio: Apostolisches Schreiben über die Aufgabe der christlichen Familie in der Welt von heute
Familiaris.Consortio: 30 Jahre
Charta.der.Familienrechte

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