Naturrecht/Gemeinwohl
Impuls von Prof. Josef Spindelböck zur Generalversammlung der Johannes-Messner-Gesellschaft am 22.05.2023 in Wien
Quelle
Wie die Soziallehre der Kirche in Stücke geschlagen wird
Katholische Soziallehre – Wikipedia
Soziallehre
Naturrecht – Wikipedia
Impuls von Prof. Josef Spindelböck zur Generalversammlung der Johannes-Messner-Gesellschaft am 22.05.2023 in Wien
Das Gemeinwohl als normativer Bezugspunkt in der Naturrechtslehre Johannes Messners
Das Gemeinwohl als eines der Sozialprinzipien findet in der Naturrechtslehre Johannes Messners sowohl ausdrückliche als auch einschlussweise Würdigung und dient in vieler Hinsicht als normativer Bezugspunkt seiner naturrechtlichen, auf Person und Gesellschaft bezogenen Analysen und Darlegungen.[1]
Das für Johannes Messner maßgebende Kriterium der sozialen Ordnung in ethischer und rechtlicher Hinsicht sind die existenziellen Zwecke.[2] All diese weisen einen ausdrücklichen oder zumindest einschlussweisen Bezug zum Gemeinwohl auf, was im einzelnen aufgezeigt werden kann.
Der Subjekt-Charakter sozialer Einheiten und die Sozialprinzipien
Jede soziale Einheit besitzt ihr spezifisches Gemeinwohl. Diese Einheiten dürfen nicht als in sich selbst geschlossene Systeme aufgefasst werden. Entsprechend den sozialen Prinzipien der Personalität, des Gemeinwohls, der Solidarität und der Subsidiarität muss der Subjekt-Charakter von Ehe und Familie und anderen gesellschaftlichen Gruppen und Ordnungseinheiten anerkannt werden.
Die Bedeutung des Gemeinwohls zur Überwindung von Partikularinteressen
Um Partikularinteressen durch den Bezug auf die soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe übersteigen zu können, bedarf es der Ausrichtung auf das Gemeinwohl. Dieses hebt die personale Zielsetzung der sozialen Einheiten nicht auf, sondern dient ihnen in rechter Weise.
Das Gemeinwohl ist, unbeschadet seiner wesentlichen Elemente, die stets respektiert und gefördert werden müssen, keine bloß statische, sondern eine dynamische Größe im Sinne der fortschreitenden Entwicklung alles Lebendigen. Dessen Entfaltung erfolgt nicht einfach gemäß naturhaften Prozessen, wie sie zum Beispiel in den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zum Ausdruck kommen, sondern schließt die sittliche Verantwortung der beteiligten Personen als eigentlich maßgeblichen Faktor mit ein.
Das Gemeinwohl als Dienstwert und als Selbstwert
Dies gilt sowohl für das Gemeinwohl in seiner strukturellen Dimension[3], insofern es ein Dienstwert ist für die vollmenschliche Entfaltung der Personen in den jeweiligen Gemeinschaften und für die angemessene Entwicklung dieser sozialen Einheiten. Aber auch das Gemeinwohl als Selbstwert[4] ist davon wesentlich betroffen, denn – wie der Katechismus der Katholischen Kirche ausführt (Nr. 1905-1912) – die Achtung der Person und ihrer Rechte, das soziale Wohl und die Entwicklung der Gesellschaft sowie die Sicherung des Friedens als gerechter Ordnung bedürfen eines ständigen Einsatzes aller.
Das geschichtlich Erreichte ist nie ein für allemal erreicht. Außerdem gibt es konkrete Aspekte des Gemeinwohls, die abhängig sind von vielen Faktoren und deren Verwirklichung unter verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren unbeschadet der Normativität seiner Idealgestalt auch realpolitisch ausgehandelt werden muss. Die menschliche Person bleibt stets Mitte und Maß in der Geschichtlichkeit der Verwirklichung des Gemeinwohls.
Im politischen Bereich sieht Johannes Messner die Gesetzesdefinition des Thomas von Aquin als keineswegs überholt an, wonach als Gesetz jene in Rechtsform ergehende Weisung aufzufassen ist, die von einer rechtmäßigen politischen Autorität (“princeps”) im Namen der Vernunft und in Hinordnung auf das Gemeinwohls verbindlich erlassen worden ist.[5]
Die Vielschichtigkeit der Dimensionen des Gemeinwohls
Aufgrund der Vielschichtigkeit seiner Dimensionen können verschiedene Beschreibungen und Bestimmungen des Gemeinwohls gegeben werden. Auch Johannes Messner verwendet, je nach Kontext, verschiedene methodische Zugänge, welche die komplexe Wirklichkeit des Gemeinwohls erschließen sollen.
Er wendet sich gegen eine soziologische Auffassung, die im Gemeinwohl eine bloße Leerformel sieht, die durch inhaltlich Beliebiges ersetzt werden könnte. Freilich wird eine Bestimmung wie diese: „Das Gemeinwohl ist die allseitig verwirklichte Gerechtigkeit“[6] manche ebenso wenig zufrieden stellen, da sie behaupten, sogar die Gerechtigkeitsvorstellungen seien unterschiedlich und ermangelten eines objektiven Kriteriums. Dem setzt Messner weniger theoretische Überlegungen entgegen, sondern er verweist auf die genuin menschliche Erfahrung, die ohne den Bezug zu objektiven Kriterien der Gerechtigkeit und damit auch des Gemeinwohls nicht auskommt.
Inhaltlich konkreter ist dann schon die Bestimmung, das Gemeinwohl sei die „nach den Forderungen der Menschenwürde allgemein die Möglichkeit vollmenschlichen Seins gewährleistende Grundordnung des Gemeinwesens“.[7] Indem er auf das vollmenschliche Sein des Menschen rekurriert, ist hier der Bezug zu den existenziellen Zwecken, die bereits kurz referiert wurden, unerlässlich.[8] Von daher gewinnt das Gemeinwohl eine erfahrungsgesättigte Konkretheit und Anschaulichkeit, die dann in sachlicher Hinsicht jeden Menschen und jede Gemeinschaft betrifft, besonders aber die Familien und den Staat sowie auch die internationale Gemeinschaft.
Im Bereich der Verteilungsgerechtigkeit ist das Vollkommene oder Ideale nie erreichbar, obwohl es konkret anzuzielen ist; anders verhält es sich im Bereich der Freiheitsrechte, die mit der Menschenwürde verbunden sind.[9] Konkret nennt er hier die gleichsam absolut bestehenden, also unbedingte Geltung beanspruchenden Rechte der „Freiheit des Gewissens, das Recht auf das eigene Leben, auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Erziehung der eigenen Kinder, das Recht auf Unterhaltserwerb“.[10]
Da das Menschenbild unterschiedlich ist, welches die Grundlage für ein umfassend gerechtes Konzept von Menschenwürde und Menschenrechten bildet und insbesondere Fragen der Verteilungsgerechtigkeit stets nur einen vorläufigen Konsens erzielen können, muss konkret eine Verständigung und ein Ausgleich erfolgen; auch dies ist eine Forderung des Gemeinwohls.
Obwohl der Utilitarismus als solcher abzulehnen ist – vor allem in der Formel vom größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl –, darf das Wahrheitsmoment in Bezug auf einen gemeinsamen Nutzen nicht übersehen werden. Dieser wurde von Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin herausgestellt, worauf Johannes Messner ausdrücklich im Zusammenhang der konkreten Verwirklichung des Gemeinwohls hinweist.[11] Auch die „Goldene Regel“ enthält eine ausdrückliche Bezugnahme darauf (vgl. Mt 7,12; Lk 6,31).
Diese kurzen Ausführungen mögen genügen als Einführung in die Wirklichkeit des Gemeinwohls, wie es Johannes Messner wiederholt dargelegt hat.
[1] Vgl. Johannes Messner, Das Gemeinwohl: Idee – Wirklichkeit – Aufgaben, in: Johannes Messner, Vom Sinn der menschlichen Gesellschaft. Zwei Spätwerke Messners (Ausgewählte Werke, Bd. 5), Wien 2003, 1-188. Vom Gemeinwohl handelt Johannes Messner ausführlich in: Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Berlin 19847, 189-217; Ethik. Kompendium der Gesamtethik, Innsbruck 1955, 266 f; 289-295; Kulturethik (Ausgewählte Werke, Bd. 1), Wien 2001, 115 f, 456-460
[2] In kurzen Schlagworten können die existenziellen Zwecke bezeichnet werden als Selbsterhaltung, Selbstvervollkommnung, Kunstfähigkeit, Familiarität, Mitmenschlichkeit, Staatlichkeit und Religiosität. Es geht um Würde und Schutz des menschlichen Lebens, die fortschreitende Entwicklung und Entfaltung des Lebens, die umfassende menschliche Fortbildung, um Ehe und Familie, um wohlwollende Anteilnahme am Schicksal der anderen, um gesellschaftliche Verbindung und um den Welt- und Gottesbezug (Immanenz und Transzendenz). Vgl. Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Berlin 19847, 42. Siehe auch Lothar Roos, Entstehung und Entfaltung der modernen Katholischen Soziallehre, in: Anton Rauscher (Hg.), Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, 103-124, hier 112 („Johannes Messner und das Naturrecht“); Josef Spindelböck, Von den Zielen des Menschseins. Anregungen zu einer Kriteriologie des Sittlichen im Rahmen der Sozialethik, in: Theologisches 34 (2004) 395-404.
[3] „Aus der immer engeren und allmählich die ganze Welt erfassenden gegenseitigen Abhängigkeit ergibt sich als Folge, dass das Gemeinwohl, d. h. die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen, heute mehr und mehr einen weltweiten Umfang annimmt und deshalb auch Rechte und Pflichten in sich begreift, die die ganze Menschheit betreffen. Jede Gruppe muss den Bedürfnissen und berechtigten Ansprüchen anderer Gruppen, ja dem Gemeinwohl der ganzen Menschheitsfamilie Rechnung tragen.“ – 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, Nr. 26; vgl. ebd., Nr. 74,1. Hier geht es um das Gemeinwohl in seiner organisatorischen, instrumentellen und institutionellen Dimension.
[4] Johannes Messner (Das Gemeinwohl, a.a.O., 26 ff) spricht vom „Gemeinwohl als Wertbestand“.
[5] So formuliert der Aquinate: „Nihil aliud est lex quam quoddam dictamen practicae rationis in principe qui gubernat aliquam communitatem perfectam“ – Thomas von Aquin, STh I-II q.91 a.1; vgl. STh I-II q.90 a.2.
[6] Messner, Das Gemeinwohl, a.a.O., 8; vgl. ebd., 12.
[7] Vgl. Messner, Das Gemeinwohl, a.a.O., 11.
[8] An anderer Stelle (Das Naturrecht, a.a.O., 189) definiert Messner das Gemeinwohl als „die Hilfe, die alle für die eigenverantwortliche Erfüllung der in den existenziellen Zwecken begründeten Lebenssaufgaben benötigen.“
[9] Vgl. Messner, Das Gemeinwohl, a.a.O., 13.
[10] Messner, Das Gemeinwohl, a.a.O., 14.
[11] Vgl. Messner, Das Gemeinwohl, a.a.O., 17.
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