Erdbeben Italien: Auch die Kunst zählt ihre Opfer
In den betroffenen Gebieten sind viele Dächer von historischen Gebäuden eingestürzt und die Innenräume der Witterung preisgegeben
Das heftige Sisma vom 24. August in Mittelitalien hat nicht nur zahlreiche Menschenleben gefordert, sondern auch bedeutende Kunstwerke zerstört, darunter dutzende von mittelalterlichen Kirchen und Klöstern. Eine erste Bestandsaufnahme gab Minister für Kulturgüter Dario Franceschini vergangenen Donnerstag: rund 300 beschädigte und etwa 50 komplett zerstörte Objekte. Die Bilanz sei vorläufig und beziehe sich nur auf einen Umkreis von 20 km des Epizentrums Accumuli, der in der Schnelle untersucht werden konnte. Die Zahl wird zweifellos steigen.
Die einzelnen Diözesen sind dabei, ihre Schäden zu dokumentieren. So gab erst gestern das von den Erdstössen weniger beeinträchtigte Erzbistum Camerino in den Marken bekannt, dass die Fresken bzw. Wände in fast allen ihrer 486 Kirchen Risse aufwiesen. Selbst in den Caracallathermen des 160 km entfernt liegenden Rom werden Risse gemeldet.
Da natürlich die Bergung von verschütteten Bewohnern Vorrang hatte, kann erst in diesen Tagen die italienische task force für Kulturgüterschutz zum Einsatz kommen. Man arbeitet auch hier gegen die Zeit an, weil schwere Gewitter im Anmarsch sind. Es gilt nicht nur erhaltene Bilder, Statuen und Fresken aus den Trümmern zu retten, bevor ihnen der Regen zusetzt, sie sollen auch vor Diebeshänden geschützt werden.
Viele Dächer von historischen Gebäuden, Kirchen sind eingestürzt und Innenräume der Witterung preisgegeben. Dazu gehören in Amatrice, dem Ort, der am stärksten von der Katastrophe betroffen wurde, die beiden Hauptkirchen Sant’Agostino mit seinem gotischen Portal, und San Francesco, das Stadtarchiv und die Bibliothek. Die nicht abreissenden Nachbeben und die Lage der Trümmer, die sich wie Murmelberge über die Strassen ergossen, gestalten die Begehung der beschädigten Bauten extrem schwierig und vor allem gefährlich. Deshalb darf vorerst nur eine spezielle Einheit aus Feuerwehrleuten, Carabinieri und „Blauhelmen“ an die betroffenen Gebäude heran. Für die „italienischen Blauhelme“ ist es der erste, sicher unerwartete, Arbeitseinsatz im eigenen Land, denn die Unesco-Einheit wurde erst vor wenigen Monaten zum Kulturgüterschutz für die von Islamisten bedrohten Stätten im Nahen Osten gegründet. Die nicht begehbaren Strukturen werden mit Planen abgedeckt.
Das Katastrophengebiet befindet sich in der abgelegenen Bergregion rund um das Grand-Sasso-Massiv nördlich von Rom, an der Grenze von Latium, Umbrien, Marken und Abruzzen. Atemberaubend schöne Landschaft, nur dünn besiedelt, romantische Bergdörfer, die ihr mittelalterliches Stadtbild grösstenteils bewahrt hatten und heute in Schutt und Asche liegen. Sicherlich Provinz. Amatrice war nicht Florenz, dennoch erstaunt die Dichte und Qualität von Kunstwerken, von ziviler wie sakraler Architektur aus dem Mittelalter und der Renaissance. Diese finden sich nun fast ausnahmslos auf der Liste der beschädigten oder zerstörten Denkmäler wieder.
Amatrice kann immerhin einen begabten Künstler aus dem Umkreis des Renaissance-Genies Raffael aufweisen. Das Hauptwerk von Nicola Filotesio (1480-nach 1547), ein grosses Tafelbild mit der Heiligen Familie aus dem Jahr 1527, war in dem kleinen, nach ihm benannten Stadtmuseum ausgestellt. Es war der ganze Stolz des Städtchens. Das Dach des Museums, eine ehemalige Kirche, ist nun eingestürzt, alle Mauern haben tiefe Risse. Die task force musste über die Dachöffnung in den Bau eindringen. Man ist dabei, die wohl grösstenteils unversehrt gebliebenen Tafelbilder, Fresken, kostbare goldene Prozessionskreuze aus dem 15. Jh. aus den zerborstenen Vitrinen zu befreien. Die Kunstwerke sollen vorerst in der Kaserne der Carabinieri untergebracht werden. Besonders gefreut haben sich die Einwohner, dass das so genannte Reliquiar der Madonna di Filetta geborgen werden konnte: die winzige Kamee, deren Verehrung bis ins Jahr 1472 zurückreicht, hat eine symbolische Schutzfunktion für die Bürger von Amatrice.
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