“Ehe und Familie in Gaudium et spes und heute”

P. Raniero Cantalamessa OFMCap — 4. Fastenpredigt 2016 (Volltext)

Rom,

“Nehmt euch das Wort zu Herzen, das in euch eingepflanzt worden ist”
Gaudium et spes

In der Kapelle „Redemptoris Mater“ im Vatikan hielt der Prediger des Päpstlichen Hauses, Pater Raniero Cantalamessa OFMCap, heute die vierte traditionelle Fastenpredigt 2016.

Wir dokumentieren die Predigt in einer eigenen Übersetzung.

***

Ehe und Familie in Gaudium et spes und heute

Die heutige Meditation widme ich der pastoralen Konstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute.

Unter den verschiedenen gesellschaftlichen Problemen, die dieser Konzilstext behandelt – Kultur, Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit, Frieden – ist das aktuellste und problematischste Thema das der Ehe und Familie. Diesem Thema hat die Kirche die letzten zwei Bischofssynoden gewidmet. Die Mehrzahl von uns, die wir hier anwesend sind, erlebt diesen Lebensstand nicht direkt, aber wir alle müssen mit den damit verbundenen Problemen vertraut sein, damit wir die überwiegende Mehrzahl des Gottesvolkes, die im Ehestand lebt, verstehen können und in einer Zeit, in der die Ehe Angriffen und Bedrohungen von allen Seiten ausgesetzt ist, Hilfestellung erbringen können.

Gaudium et spes handelt ausführlich von der Familie, besonders am Anfang des zweiten Teils (Nr. 46-53). Wir brauchen die Aussagen der Konstitution hier nicht zu zitieren, denn es handelt sich um nichts anderes als die traditionelle katholische Lehre, die wir alle kennen. Neu ist die starke Betonung der gegenseitigen Liebe zwischen den Eheleuten, die zum ersten Mal als grundlegender Wert der Ehe anerkannt wird, deren Sinn somit nicht mehr allein auf die Zeugung von Kindern beschränkt ist.

Was Ehe und Familie angeht, streicht Gaudium et spes nach einer wohlbekannten Vorgehensweise zunächst die positiven Errungenschaften der modernen Welt heraus („die Freuden und Hoffnungen“) und spricht dann erst über die Probleme und Gefahren („den Kummer und die Ängste“). Ich will derselben Methode folgen, dabei aber den gewaltigen Veränderungen Rechenschaft tragen, die gerade auf diesem Gebiet in dem halben Jahrhundert seit dem Konzil stattgefunden haben. Ich werde kurz über Gottes Plan für Ehe und Familie sprechen, weil dieser für uns Glaubende immer der Ausgangspunkt bleiben muss, um dann zu überlegen, welche Lösungen die biblische Offenbarung für die Probleme der Moderne bereithält. Dabei werde ich bewusst gewisse Themen meiden, die in der jüngsten Bischofssynode besprochen wurden und zu denen jetzt nur der Papst noch das Recht hat, sich zu äussern.

Ehe und Familie im Plan Gottes und im Evangelium Jesu Christi

Das Buch Genesis beinhaltet zwei unterschiedliche Darstellungen von der Erschaffung des ersten menschlichen Paares. Diese gehen auf zwei getrennte Traditionen zurück: die jahwistische (10. Jahrhundert v. Chr.) und eine jüngere (6. Jahrhundert v. Chr.), die als „Priesterkodex“ bezeichnet wird. In letzterem (Gen 1,26-28) werden Mann und Frau gemeinsam erschaffen und ihr Wesen mit der Gottebenbildlichkeit in Beziehung gebracht: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“. Das Hauptziel der Verbindung zwischen Mann und Frau wird darin gesehen, fruchtbar zu sein und die Erde zu bevölkern.

In der jahwistischen Tradition, die älter ist (Gen 2,18-25), wird die Frau aus dem Mann heraus erschaffen und die Erschaffung der beiden Geschlechter als ein Mittel gegen die Einsamkeit betrachtet („Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht“). Statt Fruchtbarkeit und Vermehrung steht hier die Bildung einer Gemeinschaft im Vordergrund („Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch“), wobei jeder der beiden vor der eigenen Sexualität und vor der des Partners Freiheit geniesst: „Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.“

Die überzeugendste Erklärung für diese göttliche „Erfindung“ der Geschlechter habe ich nicht bei einem Exegeten entdeckt, sondern bei einem Dichter, Paul Claudel:

„Der Mensch ist ein stolzes Wesen; es gab keinen anderen Weg, damit er seinen Nächsten verstand, als ihn diesen ins Fleisch dringen zu lassen; anders konnte er die Abhängigkeit, Not und Bedürfnis nicht begreifen, als durch die Macht, die ein anderes Wesen [die Frau] allein aufgrund der Tatsache, dass es sie gibt, über ihn ausübt.“[1]

Sich dem anderen Geschlecht zu öffnen ist der erste Schritt zur Fähigkeit, sich seinem Nächsten zu öffnen, bis hin zur Offenheit für jenen „Anderen“, der Gott ist. Die Ehe entsteht im Zeichen der Demut; sie ist ein Eingeständnis der eigenen Abhängigkeit. Sich in eine Frau oder in einen Mann zu verlieben ist eine radikale Demutsgeste, durch die man sich zum Bettler macht und dem anderen eingesteht: „Ich genüge mir nicht selbst, ich brauche dich.“ Wenn das Wesen der Religion, wie Schleiermacher glaubte, in einem „Abhängigkeitsgefühl“ gegenüber Gott besteht, dann können wir sagen, dass die menschliche Sexualität die erste Religionsschule ist.

Soviel zum Plan Gottes. Den Fortgang der biblischen Erzählung kann man aber nur verstehen, wenn man nach der Schöpfung den Fall betrachtet, besonders die Worte, die Gott an die Frau richtet: „Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen“ (Gen 3,16). Die Herrschaft des Mannes über die Frau ist eine Folge des Sündenfalls und gehört nicht zum Plan Gottes; mit diesen Worten verkündet Gott, dass er sie nicht gutheisst.

Die Bibel ist ein göttlich-menschliches Buch; nicht nur, weil es Gott und die Menschen als Autoren hat, sondern auch, weil es von Gottes Treue und der Untreue des Menschen handelt. Das erkennt man besonders deutlich, wenn man den Plan Gottes über Ehe und Familie mit seiner Verwirklichung in der Lebenspraxis des Gottesvolkes vergleicht. Schon der Nachkomme Kains, Lamech, bricht das Gebot der ehelichen Einheit und nimmt sich zwei Frauen. Noah und seine Familien erscheinen als eine Ausnahme inmitten der allgemeinen Korruption ihrer Zeit. Selbst die Patriarchen Abraham und Jakob haben Söhne von verschiedenen Frauen. Mose legt Regeln für die Ehescheidung fest; David und Salomon unterhalten regelrechte Harems.

Mehr noch als in den einzelnen Übertretungen wird die Entfernung vom anfänglichen Ideal in der Grundauffassung deutlich, die das Volk Israel von der Ehe hat. Zwei Schatten hängen nun über der von Gott gewollten Institution. Der erste besteht darin, dass die Ehe vom Zweck zum Mittel wird. Das Alte Testament in seiner Gesamtheit betrachtet die Ehe als eine patriarchalische Einrichtung, die in erster Linie der Fortsetzung des Familienclans dient. In diesem Sinne muss man Einrichtungen wie die Schwagerehe (Dtn 25,5-10), das Konkubinat (Gen 16) und die vorübergehende Polygamie verstehen. Das Ideal einer Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, die auf einer gegenseitigen persönlichen Beziehung aufbaut, ist nicht vergessen; es rückt aber angesichts der Wichtigkeit der Nachkommenschaft in den Hintergrund. Der zweite schwere Schatten betrifft die Stellung der Frau: Statt eine mit gleicher Würde ausgestattete Gefährtin des Mannes zu sein, ist sie ihm immer mehr untergeordnet.

Eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung des ursprünglichen Gottesplans kommt den Propheten zu, insbesondere Hosea, Jesaja, Jeremja und dem Hohelied. Indem sie die Vereinigung von Mann und Frau zum Symbol für den Bund Gottes mit seinem Volk erhoben, stellten sie indirekt die Werte der gegenseitigen Liebe, der Treue und Unauflöslichkeit wieder in den Mittelpunkt, die ja die Haltung Gottes zum Volk Israel charakterisieren.

Jesus, der gekommen ist, um die Menschheitsgeschichte „zusammenzufassen“, wirkt diese Zusammenfassung auch in Bezug auf die Ehe:

„Da kamen Pharisäer zu ihm, die ihm eine Falle stellen wollten, und fragten: Darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund aus der Ehe entlassen? Er antwortete: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat [Gen 1,27] und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein? [Gen 2,24]. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ (Mt 19,3-6).

Jesu Widersacher bewegen sich auf dem engen Feld des juristischen Schuldenkens (darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund entlassen, oder braucht man dazu besondere Gründe?); Jesus antwortet, indem er das Problem an der Wurzel fasst und zum Ursprung zurückkehrt. In seinem Zitat nimmt Jesus auf beide Traditionen hinsichtlich der Entstehung der Ehe Bezug, betont aber, wie wir gehört haben, vor allem die Gemeinschaft unter den Eheleuten.

Was jetzt folgt – die Auseinandersetzung über die Ehescheidung – geht ebenfalls in diese Richtung. Jesus stellt den Wert der Treue und die Unauflöslichkeit der Ehe über das Gut der Nachkommenschaft, das in der Vergangenheit dazu benutzt worden war, um Polygamie, Schwagerehe und Ehescheidung zu rechtfertigen:

„Da sagten sie zu ihm: Wozu hat dann Mose vorgeschrieben, dass man der Frau eine Scheidungsurkunde geben muss, wenn man sich trennen will? Er antwortete: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so. Ich sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch“ (Mt 19,7-9).

Der Paralleltext bei Markus zeigt, dass Jesus auch im Fall einer Ehescheidung Mann und Frau auf dieselbe gleichberechtigte Ebene stellt: „Er antwortete ihnen: Wer seine Frau aus der Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch. Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entlässt und einen anderen heiratet“ (Mk 10,11-12).

Mit den Worten: „Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“, sagt Jesus uns, dass jede eheliche Verbindung durch ein direktes Eingreifen Gottes entsteht. Die Erhebung der Ehe zum Sakrament, d.h. zu einem Zeichen des göttlichen Wirkens, gründet also nicht nur auf dem schwachen Argument der Anwesenheit Jesu auf der Hochzeit zu Kana und auf der Textstelle im Epheserbrief, der die Ehe als Abbild der Vereinigung Christi zu seiner Kirche bezeichnet (vgl. Eph 5,32). Sie beginnt vielmehr schon mit dem irdischen Leben Jesu und gehört zu seiner Art, zum Ursprung der Dinge zurückzukehren. Johannes Paul II. bezeichnete die Ehe als „das älteste Sakrament“.[2]

Was die biblische Lehre uns heute zu sagen hat

Das ist, grob zusammengefasst, die Lehre der Bibel. Wir können aber nicht bei ihr stehen bleiben. „Die Heilige Schrift“, sagte Gregor der Grosse, „wächst mit denen, die sie lesen“ (cum legentibus crescit); d.h., sie offenbart immer neue Zusammenhänge, sobald man neue Fragen an sie richtet. Und heute wimmelt es nur so von neuen Fragen und Provokationen zum Thema Ehe und Familie.

Wir stehen vor einer scheinbar weltweiten Anfechtung des biblischen Plans über Sexualität, Ehe und Familie. Wie sollen wir uns angesichts dieses beunruhigenden Phänomens verhalten? Das Konzil hat eine neue Methodik eingeleitet, die im Dialog statt im Kampf mit der Welt besteht; diese Methode schliesst auch die Möglichkeit zur Selbstkritik mit ein. Ich glaube, wir müssen diese Methode auch auf die Debatte über die Probleme der Ehe und Familie anwenden. Die Methode des Dialogs anzuwenden bedeutet aber, zu überlegen, ob nicht selbst den radikalsten Anfechtungen eine positive Forderung zugrundeliegt, die man annehmen sollte.

Die Kritik am traditionellen Ehe- und Familienmodell, die letztlich zu den unannehmbaren Dekonstruktionsvorschlägen geführt hat, die wir heute beobachten, begann im Zeitalter der Aufklärung und Romantik. Mit unterschiedlicher Begründung haben beide Bewegungen sich gegen die traditionelle Ehe ausgesprochen, in der ihre Zeitgenossen allzu oft nur objektive „Ziele“ sahen: Nachkommenschaft, Gesellschaft, Kirche; selten wurde sie in ihrem subjektiven und zwischenmenschlichen Wert erkannt. Von den Eheleuten wurde alles erwartet, ausser sich zu lieben und sich gegenseitig frei zu erwählen. Auch heute noch gibt es in vielen Teilen der Welt Ehepartner, die sich erst am Tag ihrer Hochzeit zum ersten Mal gesehen und kennengelernt haben. Diesem Modell stellte die Aufklärung das Ehebündnis zwischen Mann und Frau gegenüber; die Romantik das Vereintsein in der Liebe.

Diese Kritik ist ganz im ursprünglichen Sinn der Bibel und nicht gegen sie gerichtet! Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese Forderung angenommen, indem es die gegenseitige Liebe und Hilfeleistung der Eheleute als Grundwert der Ehe anerkannte. Ganz im Einklang mit der Konstitution Gaudium et spes erklärte der heilige Johannes Paul II. bei einer seiner Mittwochskatechesen:

„Der menschliche Körper mit seiner Geschlechtlichkeit, seiner Männlichkeit und Weiblichkeit, ist […] nicht nur Quelle der Fruchtbarkeit und Fortpflanzung wie in der gesamten Naturordnung, sondern umfasst von Anfang an auch die Eigenschaft des ‚Bräutlichen‘, d.h. die Fähigkeit, der Liebe Ausdruck zu geben: jener Liebe, in welcher der Mensch als Person Geschenk wird und ‒ durch dieses Geschenk ‒ den eigentlichen Sinn seines Seins und seiner Existenz verwirklicht.“ [3]

In seiner Enzyklika Deus caritas est geht Papst Benedikt XVI. noch weiter und schreibt neuartige und tiefgründige Worte über den Eros in der Ehe und selbst in der Beziehung Gottes zum Menschen: „Diese feste Verknüpfung von Eros und Ehe in der Bibel findet kaum Parallelen in der ausserbiblischen Literatur.“[4] Eine der grössten Ungerechtigkeiten, die wir Gott antun, ist, dass wir aus allem was Liebe und Sexualität betrifft einen Bereich voll arglistiger Hintergedanken gemacht haben, wo Gott fehl am Platze ist und stört. Als sei der Teufel und nicht Gott der Erschaffer der Geschlechter und der Spezialist für Liebesfragen.

Wir Gläubige – aber auch zahlreiche Nichtgläubige – sind weit davon entfernt, aus diesen Prämissen den Schluss zu ziehen, den einige heute darin sehen wollen: zum Beispiel, dass jede Art von Eros ausreicht, um eine Ehe zu bilden, auch zwischen Menschen des gleichen Geschlechts. Aber unsere Ablehnung erhält eine ganz andere Kraft und Glaubwürdigkeit, wenn wir sie mit der grundsätzlichen Anerkennung der Richtigkeit der Forderungen verbinden – und auch mit etwas gesunder Selbstkritik.

Denn wir können nicht leugnen, dass die Christen einen starken Beitrag zur Entstehung jener rein objektivistischen Betrachtung der Ehe geleistet haben, gegen die die moderne Kultur des Abendlandes so vehement aufbegehrt. Die Autorität des heiligen Augustinus, der in diesem Punkt von Thomas von Aquino noch Unterstützung bekam, hatte letztlich ein negatives Licht auf die fleischliche Vereinigung der Eheleute geworfen, die als das Mittel betrachtet wurde, durch welches die Erbsünde weitergegeben wird und die auch für sich selbst genommen nicht ganz frei von einer „zumindest lässlichen“ Sünde war. Der Kirchenlehrer von Hippo vertrat die Ansicht, die Eheleute sollten den Geschlechtsakt „widerwillig“ (cum dolore) und allein aus dem Grund vollziehen, dass es keinen anderen Weg gab um dem Staat neue Bürger und der Kirche neue Mitglieder zu beschaffen.[5]

Eine weitere Forderung der Moderne, die wir uns ohne Bedenken aneignen können, ist die nach Gleichstellung der Frau innerhalb der Ehe. Wie wir gesehen haben, gehört sie zum ursprünglichen Plan Gottes und zur Lehre Christi; sie ist aber jahrhundertelang vernachlässigt worden. Die Worte Gottes an Eva: „Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen“, haben sich im Lauf der Geschichte auf tragische Weise bewahrheitet.

Mit den Vertretern der sogenannten „Gender-Revolution“ hat diese Forderung zu wahnsinnigen Vorschlägen geführt, etwa zur Vorstellung, man könne auf die Unterscheidung zwischen den biologischen Geschlechtern ganz verzichten und stattdessen zwischen sozialen Geschlechtern (männlich, weiblich, variabel) unterscheiden; oder zur Forderung, die Frau von der „Knechtschaft der Mutterschaft“ zu befreien, indem man mit anderen, vom Menschen erfundenen Mitteln für Nachwuchs sorgt. In den letzten Monaten gingen Meldungen durch die Presse, wonach Männer in naher Zukunft schwanger werden und Kinder zur Welt bringen könnten. „Adam gebiert Eva“, lautete eine Schlagzeile; und man lacht darüber, obwohl es eigentlich zum Weinen wäre. Die Menschen der Antike hätten das alles mit einem ganz bestimmten Wort umschrieben: Hybris, die Überheblichkeit des Menschen vor Gott.

Gerade weil wir uns für Dialogbereitschaft und Selbstkritik entschieden haben, kommt uns das Recht zu, solche Pläne als „unmenschlich“ zu bezeichnen, denn sie verstossen nicht nur gegen den Willen Gottes, sondern auch gegen das Wohl der Menschheit. Wenn sie in grösserem Umfang verwirklicht würden, müssten sie zu unvorhersehbaren menschlichen und gesellschaftlichen Schäden führen. Unsere einzige Hoffnung ist, dass der gesunde Menschenverstand, vereint mit dem „natürlichen“ Verlangen nach dem anderen Geschlecht und dem Drang nach Mutterschaft und Vaterschaft, den Gott ins menschliche Wesen eingeschrieben hat, einen wirksamen Widerstand gegen diese Versuchungen darstellen werden, die mehr einem späten Schuldgefühl des Mannes entspringen, als einer echten Achtung und Liebe zur Frau.

Die Wiederentdeckung eines Ideals

Ebenso wichtig wie die Verteidigung des biblischen Ideals der Ehe und Familie ist dessen Wiederentdeckung seitens der Christen, die dazu berufen sind, es ins Leben umzusetzen und der Welt durch ihr Beispiel, mehr als durch ihre Worte, näherzubringen. Die ersten Christen veränderten durch ihre Lebensweise die Gesetze des Staates über die Familie; wir dürfen uns nicht einbilden, das Gegenteil tun zu können, d.h. durch staatliche Gesetze den Lebensstil der Menschen zu verändern, auch wenn wir als Bürger und Bürgerinnen die Pflicht haben, dazu beizutragen, dass der Staat gerechte Gesetze macht.

Seit Christus deuten wir den Bericht von der Erschaffung des Mannes und der Frau natürlich im Licht der Offenbarung der Dreifaltigkeit. In diesem Licht erst gibt der Satz „Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Mann und Frau schuf er sie“ seinen tieferen Sinn preis, der vor Christus rätselhaft und ungewiss bleiben musste. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Gottebenbildlichkeit und der Tatsache, dass wir Mann und Frau sind? Der Gott der Bibel hat kein Geschlecht; er ist weder Mann noch Frau.

Die Ähnlichkeit besteht darin: Gott ist Liebe und die Liebe erfordert Gemeinsamkeit, zwischenpersönliche Beziehung; sie erfordert ein „Ich“ und ein „Du“. Es gibt keine Liebe, die nicht jemandem gilt; wo nur eine Person ist, kann es keine Liebe geben, sondern nur Egoismus und Narzissmus. Solange man Gott als Gesetz oder absolute Macht auffasst, braucht man keine Pluralität der Personen (Macht kann man auch alleine ausüben!). Aber der Gott, den Jesus Christus uns offenbart hat, ist Liebe; er ist einzig und alleinig, aber er ist weder einsam noch allein; er ist der Eine und Dreifaltige. In ihm können Einheit und Pluralität zusammenleben: Einheit des Wesens, des Willens, der Absicht; aber Pluralität der Eigenschaften und Personen.

Zwei Menschen, die sich lieben – ein Mann und eine Frau, die in der Ehe verbunden sind, sind das stärkste Beispiel dafür – vermitteln ein Bild von einem Vorgang, der sich in der Dreifaltigkeit ereignet. Zwei Personen – der Vater und der Sohn – lieben sich und aus ihnen geht der Heilige Geist hervor, der weiter nichts ist als die sie einende Liebe. Es ist gesagt worden, der Heilige Geist sei das göttliche „Wir“, also nicht die „dritte Person der Dreifaltigkeit“, sondern die erste Person im Plural.[6]  Gerade darin ähnelt das menschliche Paar dem Schöpfer. Mann und Frau werden in der Ehe ein Fleisch, ein Herz, eine Seele, trotz ihrer Unterschiede im Geschlecht und im Charakter. In der Ehe verbinden sie Einheit und Verschiedenheit.

In diesem Licht entdecken wir auch den tieferen Sinn der von den Propheten übermittelten Botschaft über die menschliche Ehe, dass sie nämlich ein Abbild der Liebe Gottes zu seinem Volk sei. Das bedeutet nicht, einer rein weltlichen Wirklichkeit einen mystischen Sinn aufzuerlegen. Es geht hier nicht nur um ein Symbol; es geht darum, das wahre Gesicht und den Sinn der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau zu entdecken.

Was ist die Ursache der Unvollständigkeit und Unzufriedenheit, die nach der geschlechtlichen Vereinigung zurückbleibt, in der Ehe wie ausserhalb? Warum fällt dieser Höhenflug immer wieder in sich selbst zurück und warum wird dieser Vorgeschmack des Unendlichen und Ewigen jedes Mal enttäuscht? Diese Enttäuschung versucht man mit Mitteln zu umgehen, die sie aber letzten Endes nur stärker werden lassen. Statt die Qualität des Aktes zu verändern, versucht man, seine Quantität zu steigern, und so wechselt man von einem Partner zum nächsten. Damit entwürdigt man die göttliche Gabe der Sexualität, wie wir es in der heutigen Kultur und Gesellschaft beobachten können.

Wollen wir endlich einmal versuchen, als Christen eine Erklärung für diese folgenschwere Fehlleistung zu finden? Die Erklärung ist, dass die geschlechtliche Vereinigung nicht auf die Art und in der Absicht erlebt wird, wie Gott sie gemeint hatte. Ihr Ziel hätte sein sollen, dass Mann und Frau sich durch diese ekstatische Liebesverschmelzung zur Sehnsucht nach der unendlichen Liebe erheben und einen Vorgeschmack davon erfahren; dass sie sich erinnern, woher sie kommen und wohin sie sich bewegen.

Die Sünde, angefangen bei der Ursünde des biblischen Paars Adam und Eva, hat diese Pläne gekreuzt und jenen Akt entweiht, d.h., sie hat ihm seine religiöse Valenz genommen. Sie hat aus ihm eine Handlung gemacht, die Selbstzweck ist, in sich selbst endet, und eben deshalb „unbefriedigend“ ist. Das Symbol ist von der symbolisierten Wahrheit getrennt und seiner inneren Dynamik beraubt worden; deshalb ist es unvollständig. Die Worte des heiligen Augustinus passen nirgends besser als hier: „Du hast uns für dich erschaffen, o Gott, und unser Herz ist unzufrieden, bis es in dir ruht.“ Tatsächlich sind wir nicht erschaffen worden, um in ewiger Beziehung zu einem anderen Menschen zu leben, sondern um in einer ewigen Beziehung zu Gott zu leben. Das entdeckt sogar Goethes Faust am Ende seiner langen Irrwege: In den letzten Versen der Dichtung denkt er zurück an seine Liebe zu Gretchen und erkennt: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier [im Himmel] wird’s Ereignis.“[7]

Im Zeugnis mancher Ehepaare, die die erneuernde Erfahrung des Heiligen Geistes machen und das christliche Leben auf charismatische Weise führen, kann man einen Widerhall des ursprünglichen Sinns des ehelichen Aktes finden. Das überrascht nicht. Die Ehe ist das Sakrament des gegenseitigen Schenkens, und der Heilige Geist ist innerhalb der Dreifaltigkeit das „Geschenk“ oder besser das gegenseitige sich Schenken des Vaters und des Sohns; kein vorübergehender Akt, sondern ein permanenter Zustand. Wo der Heilige Geist hinkommt, kehrt die Fähigkeit zurück, sich selbst zum Geschenk zu machen. So wirkt der „Gnadenzustand“ in der Ehe.

Verheiratete und Gottgeweihte in der Kirche

Auch wenn wir Gottgeweihte die Ehe nicht selber erleben, müssen wir, wie ich schon sagte, sie kennen, damit wir denen eine nützliche Hilfe sein können, die im Ehestand leben. Ich will jetzt noch einen Schritt weiter gehen: Wir müssen sie auch kennen, damit wir die Hilfe entgegennehmen können, die verheiratete Menschen uns geben! Über Ehe und Jungfräulichkeit sagt der Völkerapostel: „Jeder hat seine Gnadengabe (chárisma) von Gott, der eine so, der andere so“ (1 Kor 7,7). Das bedeutet: Wer verheiratet ist hat seine Gnadengabe von Gott, und wer „für den Herrn“ auf die Ehe verzichtet hat auch seine Gabe.

Ein Charisma, sagt Paulus weiter, ist eine „Offenbarung des Geistes“, die einem jeden geschenkt wird, „damit sie anderen nützt“ (vgl. 1 Kor 12,7). Wenn man diese Aussage auf die Beziehung von verheirateten und geweihten Menschen innerhalb der Kirche bezieht, bedeutet sie, dass Zölibat und Keuschheitsgelübde auch für die Verheirateten da sind und umgekehrt die Ehe auch für die Geweihten, d.h. zu ihrem Nutzen. Das ist das tiefe und scheinbar widersprüchliche Wesen eines jeden Charismas: es ist eine persönliche Gabe (eine „Offenbarung des Geistes“), die aber für alle da ist und „anderen nützt“.

In einer christlichen Gemeinde können Geweihte und Verheiratete sich gegenseitig „erbauen“. Die Verheirateten werden von den Geweihten an das Primat Gottes und der unvergänglichen Dinge erinnert; sie werden zur Liebe für das Wort Gottes angehalten, das sie anderen Laien besser näherbringen können. Aber auch die Gottgeweihten können von den Verheirateten etwas lernen: zum Beispiel Grosszügigkeit und Selbstlosigkeit, den Dienst fürs Leben und nicht selten eine gewisse Menschlichkeit, die von der harten Auseinandersetzung mit dem Alltagsleben kommt.

Ich spreche aus Erfahrung. Ich gehöre einem religiösen Orden an, in dem es bis vor wenigen Jahrzehnten üblich war, nachts aufzustehen und das Morgenlob zu beten, das etwa eine Stunde in Anspruch nahm. Dann kam die grosse Wende im Ordensleben, nach dem Konzil. Es schien, als lasse der Rhythmus des modernen Lebens – das Studium für die Jungen und der Seelsorgedienst für die Älteren – diese nächtliche Schlafunterbrechung nicht mehr zu, und so wurde dieser Brauch nach und nach aufgegeben, mit der Ausnahme einiger weniger Ausbildungsstätten.

Als der Herr mich später, als Priester, verschiedene junge Familien etwas näher kennenlernen liess, habe ich eine Entdeckung gemacht, die mir eine gesunde Erschütterung war. Diese jungen Väter und Mütter mussten jede Nacht nicht nur einmal, sondern auch zwei-, drei- oder viermal aufstehen, um das weinende Kind zu stillen, ihm ein Medikament zu geben wenn es krank war, oder einfach nur seine Wiege zu schaukeln. Und am nächsten Morgen ging einer von ihnen oder auch beide zeitig aus dem Haus, brachte das Kind in die Krippe oder zu den Grosseltern und machte sich an einen langen Arbeitstag. Man musste pünktlich zur Arbeit erscheinen, und das bei jedem Wetter und egal wie man sich fühlte.

Da habe ich mir gesagt: Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, sind wir in grosser Gefahr! Wenn unser Lebensstil nicht von einer echten Einhaltung der Regel gestützt wird, zu der auch gehört, das man sich strikt an gewisse Zeiten hält, dann laufen wir Gefahr, einem bequemen Leben anheimzufallen, das uns schliesslich hartherzig werden lässt. Das, was gute Eltern für ihre leiblichen Kinder tun; die Selbstvergessenheit, mit der sie sich um die Gesundheit, das Studium und das Glück ihrer Kinder sorgen, muss zum Massstab dessen werden, was auch wir für unsere Kinder und Brüder im Geiste tun sollten. Darin ist uns Paulus ein Vorbild, der sagte, er wolle für seine geistigen Kinder in Korinth „alles aufwenden“ und sich für sie „aufreiben“ (vgl. 2 Kor 12,15).

Möge der Heilige Geist, der die Gnadengaben verteilt, uns allen, ob wir geweiht sind oder in der Ehe leben, helfen, die Aufforderung des Apostels Petrus in die Praxis umzusetzen:

„Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat […]. So wird in allem Gott verherrlicht durch Jesus Christus. Sein ist die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen!“ (1 Petr 4,10-11).

[Aus dem Italienischen übersetzt von Alexander Wagensommer]

*

FUSSNOTEN

[1]  P. Claudel, Le soulier de satin, a.III. sc.8 (éd. La Pléiade, II, Paris 1956, S. 804).

[2]  Johannes Paul II., Mann und Frau schuf er. Grundfragen menschlicher Sexualität.

[3]  Johannes Paul II., Ansprache zur Generalaudienz von Mittwoch, dem 16. Januar 1980.

[4]  Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 11.

[5]  Vgl. Augustinus, Reden, 51, 25 (PL 38, 348).

[6]  Vgl. H. Mühlen, Der Heilige Geist als Person. Ich – Du – Wir; Münster in Westfalen, 1963.

[7]  W. Goethe, Faust, der Tragödie zweiter Teil, Abschluss.

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