Hommage an journalistische Recherche

Hervorragende Dramaturgie, komplexe Antwort auf die Vertuschung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche: Der Spielfilm „Spotlight“

die bibel amVon José García

Die Tagespost, 7. März 2016
Filmkritik zu “Spotlight”

Im Sommer 2001 brachte „The Boston Globe“ einen Bericht über den katholischen Priester John Geoghan, der Kinder sexuell missbraucht hatte. Die „New York Times Company“, zu der die Zeitung seit 1993 gehörte, hatte gerade Marty Baron (Liev Schreiber) als neuen Herausgeber nach Boston entsandt. Ihn beschäftigt vor allem die Frage, ob der Erzbischof von Boston, Kardinal Bernard Law (Len Cariou), von den Vorfällen gewusst und den Priester gedeckt hatte. Um dies zu verdeutlichen, schickt Mit-Drehbuchautor und Regisseur Tom McCarthy seinem Spielfilm „Spotlight“ einen im Jahre 1976 angesiedelten Prolog voraus: Ein Bischof holt einen Priester aus dem Polizeirevier, der sich offenbar an Kindern vergriffen hatte, nachdem er sich mit Hilfe eines Staatsanwalts mit deren Familie über eine Entschädigung geeinigt hatte. Dies konnte zwar Marty Baron im Sommer 2001 nicht wissen. Aber der Zuschauer erfährt von vorne herein, wie solche Missbrauchsfälle abgewickelt wurden.

Baron setzt das von Walter „Robby“ Robinson (Michael Keaton) geleitete, auf investigative Recherchen spezialisierte vierköpfige „Spotlight“-Team auf den Fall an. Unter der Führung von Chefredakteur Ben Bradlee Jr. (John Slattery) beginnen Robby und sein aus Michael Rezendes (Mark Ruffalo), Sacha Pfeiffer (Rachel McAdams) und Matt Carroll (Brian d’Arcy James) bestehendes Team, mit Anwälten und Opfern zu sprechen. Eine Schlüsselrolle spielt bei der Recherche die Freigabe von unter Verschluss gehaltenen Gerichtsakten, die über die Ausmasse des Skandals Auskunft geben könnten. Eher zufällig entdecken sie, wie in den Direktorien der Erzdiözese die Versetzung von des Missbrauchs schuldig gewordenen Geistlichen kaschiert wird. Nach und nach stellt sich heraus, dass es nicht nur viel mehr Missbrauchsfälle in der Erzdiözese Boston gab als bisher bekannt. Darüber hinaus gelingt es dem „Spotlight“-Team nachzuweisen, dass auch Kardinal Bernard Law davon gewusst und die Fälle vertuscht hatte.

Das Ergebnis der „Spotlight“-Recherche war eine vernichtende Reportage, die den Pulitzer-Preis 2003 gewann und zu einem Erdbeben in der US-amerikanischen Kirche sowie zum Rücktritt von Kardinal Law führte. Eine Tafel am Ende des Filmes „Spotlight“ klärt den Zuschauer darüber auf, dass die Zeitung in der Folge etwa 600 Beiträge zum selben Thema veröffentlichte.

Der bei der diesjährigen Oscarverleihung als „Bester Film“ des Jahres 2015 ausgezeichnete „Spotlight“ ist ein lupenreiner Journalismus-Thriller, der an sein grosses Vorbild „Die Unbestechlichen“ („All The President’s Men“, 1976) von Alan J. Pakula über die Aufdeckung des Watergate-Skandals durch zwei Journalisten der „Washington Post“ erinnert. Mit einem grossartigen, vom US-amerikanischen Schauspielerverband ausgezeichneten Darsteller-Ensemble besticht der Film insbesondere durch seine exzellente Dramaturgie – nicht umsonst erhielt er auch den Oscar für das „Beste Originaldrehbuch“ – und seinen ausgeglichenen Erzählrhythmus, in dem mittels einiger Wendungen die Fakten nach und nach aufgedeckt werden.

„Spotlight“ ist kein Film über den sexuellen Missbrauch – dafür spielen insbesondere die Opfer, aber auch die Täter lediglich eine Randrolle. McCarthys Film konzentriert sich auf die journalistische Recherchearbeit sowie auf die Frage, wie ein so schwerwiegendes Verbrechen jahre-, ja jahrzehntelang von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt geschehen konnte. „Spotlight“ liefert eine komplexe Antwort darauf. Zwar benennt der Film die kirchlichen Würdenträger, die, um vermeintliche Schäden von der Kirche abzuwenden, die Öffentlichkeit scheuten und mit den Opfern private Vereinbarung trafen. Dafür brauchten sie allerdings Anwälte, die sich teilweise an dieser Praxis bereicherten. McCarthy lässt aber darüber hinaus die Zeitungsleute ihre eigene Rolle selbstkritisch betrachten. Über den Geoghan-Fall hatte Anfang der 1990er Jahre etwa eine lokale Zeitung berichtet. Die leitenden Redakteure des „Globe“ verfolgten jedoch die Spur nicht – auch deshalb, weil „59 Prozent der Abonnenten katholisch sind“. „Wir hatten alle Puzzlesteine in unserem Archiv“, sagt gegen Ende Robby. Mehrfach weist „Spotlight“ darauf hin, dass der Zeitung über Jahre hinweg Hinweise, sogar Listen mit mutmasslichen Tätern zugespielt wurden, aber nichts geschah.

Als Reaktion auf den Film „Spotlight“ teilte der jetzige Erzbischof von Boston und Präsident der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen, Kardinal Sean O’Malley, mit: „Spotlight ist ein wichtiger Film für alle, die von der Tragödie des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker betroffen sind.“ Die Medien hätten der Kirche geholfen, die Verbrechen und Sünden ihrer Mitarbeiter zuzugeben und ihr Versagen einzugestehen, sowie den Schaden, der den Opfern und ihren Familien zugefügt wurde, und die Bedürfnisse der Überlebenden anzuerkennen. „Wir werden weiterhin die Vergebung aller suchen, die durch die Tragödie des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker geschädigt wurden und beten, dass der Herr uns jeden Tag auf dem Weg zur Heilung und Erneuerung führen möge.“

Auf dem langen Weg von der Öffentlichkeitsscheu zur berühmten „Null-Toleranz“, die der damalige Präfekt der Glaubenskongregation Josef Ratzinger ausgab, und die dann sowohl er als Benedikt XVI. als auch sein Nachfolger Papst Franziskus weiter verfolgen, halfen „The Boston Globe“ und andere Medien, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen: Nicht die Aufdeckung der Wahrheit schadet der Kirche, sondern die Verbrechen, die Sünden ihrer Mitglieder selbst. In diesem Sinne sind die Worte eines der Missbrauchsopfers im Film erhellend: „Der Missbrauch ist nicht nur ein physischer, sondern auch ein spiritueller Missbrauch. Denn er raubt Dir den Glauben.“

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