Weihnachtszeit ist Lesezeit

Wer das passende Geschenk sucht, kann zu guten Geschichten und Sachthemen greifen

BuchdruckLiteratur/Musik/DVD: (839)

Über Bücher, die unter dem Tannenbaum nicht fehlen sollten.

Von Björn Hayer

Die Tagespost, 17. Dezember 2014

Das Lese- und Veröffentlichungsjahr 2014 geht zu ende. Vieles ist darunter, das gerade zur Weihnachtszeit, die bekanntlich auch eine exzellente Lesezeit sein kann, unsere Aufmerksamkeit verdient. Doch was lohnt sich wirklich – für einen selbst oder als bedenkenloses Geschenk? Wohin darf die Lektüre-Reise unter dem Tannenbaum gehen? Vielleicht in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts?

Genauer gesagt ans Meer, wo Winston Churchill und Charlie Chaplin sich 1927 getroffen haben sollen. Das klingt verlockend und ist das Thema von Michael Köhlmeiers zuletzt für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman “Zwei Herren am Strand“. Erzählt wird die “Freundschaft zwischen dem grössten Staatsmann und dem grössten Schauspieler“, die “beide gegen Hitler kämpften, der eine mit dem Lachen, der andere mit dem Krieg“. Zu den politischen kommen private Erschütterungen: Während sich der Tramp-Darsteller mit einer medialen Schlammschlacht um seine Scheidung von seiner ersten Ehefrau Mildred Harris herumschlagen muss, sieht sich der spätere Premierminister Grossbritanniens neben dem bevorstehenden Krieg mit Nazi-Deutschland mit Sorgen um seine heranwachsenden Kinder konfrontiert. Der eine rettet sich in Dreharbeiten, der andere sucht Halt im Alkohol. Es ist ein präzises, mitunter humorvolles Porträt zweier unterschiedlicher Charaktere, die schmerzhaft und zugleich kämpferisch die Umbrüche ihrer Zeit, angefangen vom Aufkommen des Sprechfilms bis hin zu Hitlers Zerstörungskrieg, verwinden. Was der Autor dem Leser bietet, ist literarische Bewältigungsarbeit, ein gemächliches, manchmal allerdings auch etwas zu ruhiges und ausuferndes Buch, geschrieben für alle Tiefen des Lebens.

Mitten aus der menschlichen Existenz heraus und voll druckfrischer Aktualität ist auch Thomas Melles Sozialroman “3 000 Euro“ geschrieben, der wohl als das bislang treffsicherste Porträt des Prekariats gelten kann. Nach seinem fulminanten Debüt “Sickster“ über gefallene Aufsteiger der New Economy richtet sich sein Fokus indes auf das untere Ende der Gesellschaft, nämlich all die hoffnungslos Gestrandeten am Ufer einer leistungsorientierten Spätmoderne. Neben Denise, einer wenig erfüllten Lidl-Kassiererin und alleinerziehende Jungmutter, gehört inzwischen auch Anton zum Kreis verelendeter Grossstadtnomaden. Als obdachloser Studienabbrecher fristet er sein Dasein in einem Zwischenheim. Während er verzweifelt versucht, die titelgebende Summe für einen anstehenden Prozess aufzutreiben, stehen auch der vom Alltag überforderten Supermarktverkäuferin seit langem 3 000 Euro zu. Was die eine bald hat, fehlt dem anderen.

Um die 3 000 Euro und zweier darum ringender Protagonisten entfaltet Melle mit zumeist wenigen Worten und jungdynamischer Erzählverve eine dichte Milieustudie über den unteren Rand westlicher Lebensverhältnisse. In der “Asozialenkneipe“ trifft der Leser auf Typen wie den “ältere[n] Gnom mit langem weissem Bart, der zahnlos auf die Ausländer schimpft“, oder die “Frau, ein Zwerglein mit verhutzeltem Gesicht“, die sich über ihre fernen Kinder auslässt und mit zunehmender Bierseligkeit in Weinen übergeht. Zugegeben, ein derartiges Stammtischpublikum wimmelt nur so voller Klischees. Statt aber allein die Lachmuskeln zu reizen, setzt der Autor vielmehr darauf, die Situationen und Hintergründe, Sorgen und Sehnsüchte seiner Figuren plausibel zu machen. Mehr noch, gerade die Reflektiertheit seiner Helden zeugt von einem Potenzial: Melle gibt den ansonsten Stimm- und Zukunftslosen eine Sprache, zeigt, wie sie kämpfen, leiden, lieben und zu guter Letzt manches überwinden. Von nicht mehr, aber auch nicht weniger handelt Melles grossartiger und stets humorvoll gebrochener Blues vom Überleben in schweren Zeiten. Weder die Erschütterungen eines Weltkrieges noch die alltägliche Armut, weder die Helden von Köhlmeier noch von Melle lassen sich niederstrecken. Die Zeit der postmodernen Gleichgültigkeit ist vorbei und einer Literatur gewichen, die sich der Ernsthaftigkeit der Realität zu stellen weiss. Vor allem der Humor scheint einen Ausweg zu weisen, um nicht an der Tragik zu zerbrechen.

Dass Leid auch buchstäblich durch das Lied Linderung erfahren kann, macht hingegen die jüngere Lyrik deutlich. Insbesondere Silke Scheuermann sprengt mit Liebe und Kreativität alle Grenzen zwischen Zeit und Raum. Die Frage sei daher erlaubt: Was haben der ausgestorbene, leider flugunfähige Vogel Dodo, der Säbelzahntiger und Alice im Wunderland gemeinsam? Sie sind Teil einer “Zweite[n] Schöpfung“. Während sich mancher ihrer schreibenden Zeitgenossen betulich auf Alltags- und Naturlyrik versteht, geht die 1973 in Karlsruhe geborene Autorin in ihrem neuen Gedichtband “Skizzen vom Gras“ aufs Ganze: Noch einmal beschwört sie ausgestorbene Tierarten herauf, lässt Rosen ein “Gloria Dei“ singen, arbeitet an einem “Paralleluniversum“, worin literarische Figuren auch mal auf Urzeitwesen treffen können. Alles ist möglich.

Im utopischen Glanz wird das Alte förmlich “wild überwuchert von etwas Neuem“. Indem die Poetin “behauptet, dass das ‘Ich‘ […] Leben schafft“, kommt der Dichtung ein schöpferischer Auftrag zu. In dieser feinen Wortkunst, wo Untergang und Aufbruch in wenigen Versen kulminieren können, liegen alle Möglichkeiten. Oft wird der Leser einer anfänglichen Unschärfe gewahr, die mehr und mehr Gestalt annimmt, bis schliesslich Visionen daraus hervorgehen: In Etuden auf Liebe, Schönheit, silberngraue Regentage, Augenblicke zwischen Licht und Schatten schimmert ein Hauch von Paradies und Ewigkeit durch.

Die wunderbar klare Vogelperspektive dieses Buches auf unsere Erde einzunehmen heisst, im Grossen und Ganzen Trost zu finden. Auch wenn man es nicht verdrängen kann: Die Genesis von Scheuermanns zweiten Schöpfung baut auf einem deprimierenden Hier und Heute auf, erst die Verse streben nach Höherem. Sinnbildlich beschwert sich das Efeu in einem Gedicht über all die menschlichen Klagen angesichts seines ungezügelten Wachstums. Doch was lohnt es, hinter jeder sich ausbreitenden Bewegung zugleich einen schlimmen Ausgang zu vermuten? Das weise Rankengewächs entgegnet hellsichtig: “Erst, wenn ihr aufhört, das Ende / zu denken, seid ihr geheilt.” Silke Scheuermanns Gedichte sind dafür das zuverlässigste Therapeutikum. Und nicht nur ihre. Mit Werken wie Helmut Kraussers “Verstand & Kürzungen“ oder Marcel Beyers “Graphit“ endet im Winter 2014 eine hervorragende Saison der Lyrik. Sie ist trotz Verkaufs- und Vermarktungskrise so vital und virtuos wie selten zuvor. Sie weist uns einen Weg in die Form, während die reale Aussenwelt immer mehr an klaren Konturen zu verlieren droht. Gerade Friederike Mayröckers “Cahier“, ein atemlos-überwältigendes Diarium, erzählt fantasievoll, wie Gedächtnisfetzen und Gegenwartsaufnahmen fluide ineinander übergehen und ein Leben voll und ganz in Kunst dokumentieren. Um am Alter, aber auch den Verlusten des Lebens nicht zugrunde zu gehen, tritt sie in den Notaten die Flucht ins Poetisieren an. Was sie sieht, überführt sie in einen fantastischen Kosmos schönster Sprachmelodien.

In einem Bewusstseinsstrom, durchdrungen von rauschhaft vorüberziehenden Bildsequenzen, taucht der Leser etwa in vergangene Urlaubstage in Triest ein, lässt sich in teils surreale Gedankenlandschaften entführen oder folgt der Autorin auf den Spuren ihrer Kindheit. Nachdem in ihren letzten Werken der Fokus ihrer Retrospektiven bislang fast ausschliesslich auf Ernst Jandl lag, ihrem langjährigen Lebens- und Schreibpartner, steht indes auch die in Träumen auftauchende Mutter im Vordergrund. Schuld, Liebe und Sehnsucht vermischen sich zu einer Collage der kontemplativen (Rück-)Besinnung. Das ist grosse Literatur, getragen von Innerlichkeit und Seelenreichtum. Wen es eher zu wahrem Wissen treibt, dem seien hier insbesondere zwei Sachbücher nahelegt. Als würde man leichtfüssig durch die europäische Kulturgeschichte flanieren, liefert uns Franco Morettis Studie “Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne” Einblick in die Geschichte der Bürgerlichkeit.

In Werkinterpretationen von Daniel Defoes “Robinson Crusoe“ (1719) über Henrik Ibsens naturalistische Gesellschaftsporträts bis hin zu Thomas Manns Roman “Buddenbrooks“ (1901) rekonstruiert der 1950 geborene Autor die Geschichte eines einzigartigen Aufstiegs. Nachdem sie noch vor der Jahrhundertwende ihre Blüte feiert, an Einfluss und Finanzstärke gewinnt, geht die Bourgeoisie im Untergang der Belle Époque einen späten Teufelspakt mit all jenen ein, die Europa 1914 in den Krieg stürzen werden. “Ausgerechnet in dem Moment, in dem die alte Ordnung unterging, erwiesen sich die neuen mächtigen Männer als unfähig, wie eine echte Herrscherklasse zu agieren.“ Stets strebt das Bürgertum im Laufe seiner Historie nach sozialer Macht, die sie allerdings kaum zu nutzen weiss. Über einen heroischen Mythos wie die schwindende Gruppe der Aristokraten und deren traditionsreichen Ritterorden verfügt es nicht. Ferner charakterisiert die aufstrebende Schicht Mass und Rechtschaffenheit. Mit dem Verfall bürgerlicher Werte kehrt der Bourgeois der Gegenwart den Rücken. Statt der Zeitenwende zu frönen, wendet er sich, als die bürgerlichen Werte zunehmend unter Legitimationsdruck geraten, einem traditionsbewussten Weltbild zu.

Dass das konzentrierte Soziogramm des Moderneexperten Moretti, das seinen Nährwert umfänglich aus der Literatur zieht, mit einer intelligenten Ausarbeitung des Kapitalismus in Ibsens Werken endet, sagt vieles aus. In Ibsens “Die Stützen der Gesellschaft” (1877) stehen sich ein um Sicherheit bemühter Baumeister und ein profitversessener Prokurist einer Werft gegenüber. Der Bourgeois wird sich auf die Seite von Letzterem schlagen und sich am Ende doch im zeitweise noch kritisch beäugten Kapitalisten wiederfinden. Das altgediente Bürgertum mit seinem hehren Sittenkodex hat sich somit selbst abgeschafft – eine bemerkenswerte Einsicht dieser erkenntnisreichen Studie, die angesichts eines bedrohten Mittelstandes in der Gegenwart aktueller nicht sein könnte. Einen sehr ernsten Hintergrund fächert ebenso John L. Allens beklemmender Bericht “Krieg gegen Christen” über die aktuelle Verfolgung der Anhänger Christi zutage. Über 400 Millionen sind, laut Allen, akut durch Verfolgung bedroht, 100 Millionen leiden unter direkter Gewalt wie Massaker oder Inhaftierung. Wie der 1965 geborene Korrespondent des “National Catholic Reporter“ herausarbeitet, bereit vor allem eine Mixtur aus Ultra-Nationalismus, totalitärem Staatsverständnis, organisiertem Verbrechen und bisweilen wirtschaftlicher Interessen den gefährlichen Nährboden für Diskriminierungen, die bis zu ganzen Pogromen reichen. Dass wir in diesen Tagen das christliche Fest der Liebe begehen, sollte uns daher gerade auch für das Leiden unserer Schwestern und Brüder im Glauben überall in der Welt wach sein lassen. Mitmenschlichkeit ist längst keine Selbstverständlichkeit und muss daher stets aufs Neue gewagt werden. Die Literatur kann dazu einen ersten Impuls geben. Denn was sie lehrt, ist Einfühlungsvermögen, die Übernahme fremder Standpunkte, die Spiegelung des Ich im Du. Und was könnte ein persönlicheres Geschenk sein, als unseren Nächsten besser zu verstehen?

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