USA: “Es ist wie ein Pulverfass”

Als explosiv beschreibt die in Chicago lehrende deutsche Theologin Hille Haker die Lage in den USA nach der Ermordung des christlichen Influencers und politischen Aktivisten Charlie Kirk. Papst Leos Aufruf gegen politische Gewalt und für verbale Abrüstung sei “mehr als angemessen”, sagt sie im Gespräch mit Radio Vatikan

Quelle
USA: Aufruf gegen Feindseligkeit und politische Gewalt – Vatican News

Anne Preckel – Vatikanstadt

Hille Haker, Professorin für theologische Ethik an der Loyola University Chicago, wollte am Wochenende eigentlich mal ausspannen und das fantastische Wetter in Chicago genießen. Zur Ruhe zu kommen ist derzeit allerdings kaum möglich, berichtet sie gegenüber Radio Vatikan. Massive Polizeipräsenz und gewaltsame Zwischenfälle prägen die Atmosphäre – nicht nur in Chicago, wo die Bundespolizei in der Einkaufszeile und neuerdings mit Booten auf dem Chicago River patrouilliert, sondern auch in Washington oder Michigan, wo es zuletzt zwei weitere “Mass Shootings” gab.

“Die Warnung des Papstes vor der Rhetorik, aber auch der politischen Gewalt ist da mehr als angebracht und angemessen”, sagt Haker im Interview mit Radio Vatikan. Die Lage in den USA beschreibt sie “wie eine Art Pulverfass. Man kriegt das irgendwie überhaupt nicht mehr richtig zusammen. Die Schaltzahl der Nachrichten ist dermaßen schnell geworden, die Anspannung ist riesengroß. Und all das produziert eine Stimmung, wo wir alle denken, irgendwann entlädt sich das.”

Der Feind im Inneren

Eine Entladung, ja einen Tiefpunkt, hatte es schon gegeben: die Ermordung des christlichen Influencers und Trump-nahen Polit-Aktivisten Charlie Kirk, der an einer Universität in Utah niedergeschossen wurde. Der Tod des jungen Mannes, der eine Ehefrau mit zwei kleinen Kindern hinterlässt, schockierte die zivilisierte Gesellschaft. Papst Leo nahm den Vorfall zum Anlass, um gegenüber dem amerikanischen Botschafter beim Heiligen Stuhl seine Sorge über politische Gewalt und zerstörerische Rhetorik in den USA zum Ausdruck zu bringen.

Leo XIV. verurteilte politische Gewalt, aber auch die Gewalt der Worte. Auch Haker beunruhigen die Hassreden, die derzeit in den USA zu hören sind. US-Präsident Trump spricht vom “inneren Feind” und nennt das Wort “Bürger” im selben Atemzug, während sein Kriegsminister das Militär auf Krieg einschwört. “Jahrzehnte des Niedergangs” gilt es laut Hegseth rückgängig zu machen. Im Narrativ der politisch Mächtigen hat dieser Niedergang mit Vielfalt und Gleichstellung, Meinungsfreiheit und Einwanderern, Inklusion und dem “Gift der Empathie” zu tun.

Wenig Platz für Trauer

Was nach Charlie Kirks Tod in der US-amerikanischen Öffentlichkeit passierte, ist für die aktuelle Stimmung im Land bezeichnend. Von US-Präsident Donald Trump, der die politische Linke für den Mord verantwortlich machte, wurde der Aktivist mit religiös eingefärbter Sprache schnell zum “Märtyrer für die Freiheit Amerikas” und “unsterblich” erklärt.

“Der Mensch und die menschliche Tragödie gerieten doch relativ schnell in den Hintergrund von verschiedenen Seiten, weil Charlie Kirk so eine politische Strengkraft gehabt hat”, so Hille Haker über die Aussagen zu dem Aktivisten, dessen Trauerfeier zur “pseudoreligiösen Politshow” geriet, wie es der Passauer Bischof Stefan Oster ausdrückte.

Die aufgeladene Stimmung rund um den Tod des Kopfes der Trump-nahen politischen Bewegung “Turning Point USA” sorgt auch in der katholischen Bischofskonferenz der USA für Emotionen. Die Bischöfe Dolan und Barron bezeichneten den ermordeten Influencer als “modernen Paulus” und leidenschaftlichen Christen, der kein Blatt vor den Mund genommen habe.

Was verbindet, was nicht?

Solche Aussagen lösten in anderen katholischen Kreisen im Land Befremden aus, berichtet Haker und verweist als Beispiel auf die katholische Kongregation der “Sisters of Charity” in New York. Sie könnten nicht verstehen, wie “eine Person, die sehr, sehr polarisierend war und nicht hinter dem Berg hielt mit Fremdenfeindlichkeit und Hass”, als “role model” präsentiert werde, berichtet Haker.

Nach Dolans Ausage über Kirk reagierten die Ordensschwestern mit einer Erklärung, in der er es hieß: “Wir trauern um jeden Todesfall und verurteilen die Ermordung von Herrn Kirk auf das Schärfste. Was Kardinal Dolan möglicherweise nicht wusste, ist, dass viele Äußerungen von Herrn Kirk von rassistischer, homophober, transphober und immigrantenfeindlicher Rhetorik, von gewalttätiger Pro-Waffen-Propaganda und von der Förderung des christlichen Nationalismus geprägt waren. Diese vorurteilsbehafteten Äußerungen spiegeln nicht die Eigenschaften eines Heiligen wider.”

Haker kann auch nicht verstehen, warum ausgerechnet Kirk nun Vertreter einer offenen Debattenkultur sein soll. Mike Johnson, republikanischer Sprecher des Repräsentantenhauses, hatte bei CNN gesagt, der Aktivist habe niemanden gehasst, stattdessen “liebte er die offene Debatte”. Kirk verstand seine konservativ-christliche “Turning Point”-Organisation als Gegenbewegung zu existierenden Studentenschaften an US-Universitäten oder Highschools. Seine Aktivitäten seien “eine Art Propagandamaschine” gewesen, die sich als etwas ausgab, was sie nicht war, urteilt Haker. Wer das nicht sehe, sei “blind”.

“Ich kann das nicht erkennen, dass das sozusagen ein Modell sein soll, wie kontroverse Diskussionen geführt werden können in den USA. Ich kann auch nicht erkennen, dass das zu einer Überwindung dieser wirklich eingreifenden Polarisierung führen kann, wenn man diesem Modell folgt. Weil es mehr ein Simulakrum, eine Maske ist, mit der diese Organisation aufgetreten ist, und Charlie Kirk war das Gesicht davon.”

Gewissensprüfung

Zur Überwindung von Polarisierungen rief der Vorsitzende der US-amerikanischen Bischofskonferenz drei Wochen nach dem Mord an Kirk in einer Botschaft auf. “Jeder von uns sollte sein Herz, seine Gedanken und Handlungen überprüfen und sich fragen, wie er zu Polarisierung und Feindseligkeit beiträgt, die unser Land plagen”, riet Timothy Broglio in einer Botschaft vom 1. Oktober. Zuvor hatte es zwei weitere tödliche Angriffe in den USA gegeben, auf Kinder bei einem Schulgottesdienst in Minneapolis und auf eine Mormonenkirche in Michigan.

Die Sorge um Spaltungen in der katholischen Kirche ist auch in Deutschland wahrzunehmen. So warnte Bischof Oster mit Blick auf die Polemik rund um Kirk konservative christliche Kreise davor, sich “hate speech” hinzugeben und in politische Extreme abzudriften. Christen dürften Hass und Verachtung keinen Raum geben, erinnerte der Passauer Bischof. Ausländerfeindlichkeit und völkisches Denken seien ebenso wenig christlich wie die Verharmlosung von Abtreibung oder assistiertem Suizid.

Christliche Werte

War eine so deutliche Abgrenzung im US-Episkopat zu hören? “Aus meiner Sicht hat sich die Bischofskonferenz in den letzten 15 Jahren doch sehr, sehr stark an der republikanischen Partei orientiert”, findet Theologin Haker, die seit 2012 in Chicago lehrt. “Sie hat insgesamt, glaube ich, eigentlich nur beim Migrationsthema ein bisschen Widerstand geleistet”, denkt sie und verweist auf Bischöfe, die sich sehr aktiv für die Rechte von Migranten in den USA einsetzen.

Und sie fährt fort: “Wer immer meint, dass Nächstenliebe nicht zum Christentum gehört, wer immer meint, dass Migranten Versatzstücke sind, die man unmenschlich behandeln kann, der darf eigentlich das Christentum nicht in Anspruch nehmen für seine Politik. Aber das wird so laut eben häufig nicht gesagt von Seiten der Bischöfe.”

Ultrakonservative Katholiken seien in den USA längst Teil einer religionsübergreifenden Bewegung, die Geschichtsrevisionismus betreibe und “den Umbau der amerikanischen Demokratie in eine Theo-Autokratie mit Trump an der Spitze” fördere, so Haker jüngst in einem Beitrag für die Zeitschrift Publik Forum. Dahinter stehe am langen Ende nicht weniger als die Vision einer postdemokratischen Gesellschaft, die von einer weißen Tech-Elite gepusht werde, führt die Professorin aus, die im Interview mit Radio Vatikan ihre These weiter erläutert.

“Und wenn da jetzt sozusagen ein Präsidialsystem favorisiert wird, das nationalistisch ist und christlich ist und gleichzeitig aber autokratisch ist, dann ist es mit der Demokratie, so wie sie in den USA vorgesehen ist, mit der Gewaltenteilung, nicht vereinbar. Also es gibt hier eine toxische Verbindung von Demokratiefeindlichkeit und Christentumsfeindlichkeit, die letzten Endes genau in die Engführung mündet, vor der Papst Leo gewarnt hat, die nämlich ganz schnell mit Gewalt aufgeladen werden kann.”

Demontage einer Weltanschauung

“Die Ethiker, bestimmte Thinktanks, auch die katholische Kirche: wir wissen darum. Was wir politisch aber zu wenig tun ist, das zu kommunizieren und zu diskutieren und das wirklich in der Schärfe des Transhumanismus auch anzugucken, was das genau bedeutet.”

Bei dieser toxischen Verbindung würden nicht Mitgefühl, sondern das Recht des Stärkeren, Triumphalismus statt Gemeinwohl propagiert. Dabei werde auch nicht davor zurückgeschreckt, “von Feinden zu reden, die bekämpft werden müssen im Namen Christi”, hebt Haker hervor. Fremde würden in dieser Sicht als nicht schützenswert und liebenswürdig begriffen, auch das Leugnen des Klimawandels gehöre dazu. Propagiert würden Ansichten, die de facto “mit der christlichen Botschaft nicht zu vereinbaren” seien.

Haker äußert im Interview mit Radio Vatikan weiter, dass sie eine Demontage des humanistischen Weltbildes zugunsten transhumanistischer Ideologien in Gang sieht. Das Programm des Humanismus – als “menschengerechte und menschenrechtlich basierte Weltgemeinschaft mit Vielfalt, mit verschiedenen politischen Systemen, die in den Vereinten Nationen zusammenkommen können” – stehe heute zur Debatte, warnt Haker. Die Überwindung des Humanismus werde einerseits von Tech-Milliardären mit ihren Ideologien des Transhumanismus und auf der anderen Seite von ultrakonservativ politisch-christlichen Kräften vorangetrieben. Sie würden zu “Waffenbrüdern”, so Haker, “und das halte ich wirklich für dramatisch”.

Die gefärchlichen Implikationen transhumanistischer Ideologien und deren Folgen müssten heute nicht nur erkannt, sondern sehr viel deutlicher benannt werden, findet Haker: “Die Ethiker, bestimmte Thinktanks, auch die katholische Kirche: wir wissen darum. Was wir politisch aber zu wenig tun ist, das zu kommunizieren und zu diskutieren und das wirklich in der Schärfe des Transhumanismus auch anzugucken, was das genau bedeutet.”

Vom Papst erhofft sich die Theologin hier Akzente, um diese Entwicklung zu kontrastieren und warnend zu benennen. Es brauche neue Allianzen und gebündelte Kräfte, um christliche Werte in allen Sphären zu verteidigen.

Das Interview mit Haker wurde am 30. September 2025 geführt. Einige Tage später wurde bekannt, dass Chicago verfassungsrechtlich gegen den Einsatz der Nationalgarde vorgehen will. B Pritzker, der Gouverneur von Illinois, bezeichnete Trumps Entscheidung als “verfassungswidrige Invasion durch die Bundesregierung” und reichte Klage dagegen ein.

vatican news, 7. Oktober 2025

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