Die letzte Kapelle am Ende der Welt
Kap Hoorn ist einer der wildesten Flecken der Erde. Einsam stemmen sich die letzte Kapelle und der letzte Leuchtturm im tiefen Süden Amerikas den Naturgewalten entgegen
Quelle
Das Denkmal am Ende der Welt – Das Albatros Monument und Gedicht am Kap Hoorn
Stella maris – Wikipedia
O Stern im Meere, Fürstin der Liebe – ein vergessenes Marienlied
Die Virgen del Carmen spaziert durch die Straßen von Torre del Mar · Diözese Málaga : Portal der Katholischen Kirche von Málaga/Übersetzung
Andreas Drouve
Über Nacht hat es Kapitän Omar Galindo ab Feuerland durch Kanäle und Inselwelten vor das Kap Hoorn geschafft. Nun dümpelt das Schiff, die “Ventus Australis”, in einer Bucht vor der magischen Landspitze. Sie gehört zu Chile und bereitet mit ihren Klippen einen rauen Empfang. Die aufgehende Sonne pinselt ein zartes Gelb an den Horizont. Das Meer liegt silbergrau und ruhig da. Der Wind bläst mit weniger als 30 Knoten. Außentemperatur: fünf Grad über Null. Warm verpackt und in Schwimmwesten warten die Passagiere an Bord, um in sogenannten Zodiacs, motorisierten Hartgummischlauchbooten, an Land überzusetzen. Ein Expeditionsteam ist vorausgefahren, um den Anleger zu prüfen. Die Manöver gelten als äußerst knifflig. Sicherheit hat Vorrang. Grünes Licht! Zügig verlassen die Zodiacs das Schiff.
Marienschrein mit Kunstrosen
Nach dem Ausstieg führt eine Treppe steil bergauf durch Buschwerk. In einer geschützten Biegung versteckt sich ein Marienschrein, eingefasst in eine weiße Minigrotte, wo Girlanden aus Kunstrosen leuchten. Eine Holztafel verbürgt, dass dieses Bildnis der “Virgen del Carmen” (“Unsere Liebe Frau vom Berge Karmel”) 2015 von einer Familie namens Aguayo Rodríguez gestiftet wurde. Im spanischen Sprachraum genießt die “Virgen del Carmen” als Königin der Meere Verehrung, als Beschützerin der Seeleute; für Chile fungiert sie sogar als Schutzheilige. Aus ihrem Blick sprechen Güte und Zuversicht; in der Linken hält sie das Kind.
Weiter oben auf einem Plateau plätschert ein Bach, ein Schild kündigt den Nationalpark Kap Hoorn an. Hier liegt auch ein Hubschrauberlandeplatz für Notfälle – doch die hat der vierzigjährige José Luis Luarte bislang nicht erlebt. Seit über zwei Jahren hält er die Stellung am Kap, überwacht den Schiffsverkehr, gibt regelmäßig die Klimadaten weiter und steht für mögliche Hilfseinsätze in Dauerbereitschaft. Der chilenische Marineoffizier lebt mit seiner Familie gleich neben dem Leuchtturm, der wiederum schräg gegenüber der Kapelle liegt. Um beide Bauwerke, die sich vor dem Horizont mit ihren gedrungenen Formen abzeichnen, kümmert er sich. Der Leuchtturm sei zwar automatisiert, räumt er ein, aber: “Irgendwer muss hier sein, um zu bestätigen, dass er richtig funktioniert.” Besucher dürfen ein Stückchen hineingehen. Am Treppengeländer und unterhalb der schlierigen Scheiben haben Ankömmlinge signierte Wimpel und Flaggen aufgehängt. Wer es als Segler hierher geschafft hat, darf selbst im dritten Jahrtausend stolz sein auf eine nautische Meisterleistung. Manche sprechen in der Kapelle ein Gebet.
Kapelle “Stern des Meeres”
Stella Maris, “Stern des Meeres”, heißt diese letzte Kapelle am Ende der Welt. Erbaut wurde sie 1977 von der chilenischen Marine aus Lenga-Südbuchenholz. Die Ausmaße sind bescheiden. Mehr als 20 Menschen gleichzeitig passen schwerlich hinein.
Tritt man ins Innere, fühlt man sich sogleich von einer ganz besonderen Stimmung erfasst. Mystisch, archaisch ist es hier. Der Wind erstirbt, es ist dunkel. Daran müssen sich die Augen erst gewöhnen. Der Lichteinfall beschränkt sich auf die offenstehende Tür und kleine Fenster. Zudem schimmert ein wenig Helligkeit durch die Ritzen der Holzbretter. Der Altar, auf massiven Baumstücken ruhend, ist mit einem weißen Tuch bedeckt. Darauf liegen eine Bibel und Gesangsbücher. Hinter dem Altar steht, leicht schief, ein Holzkreuz, das bis ans Dach reicht. Vorne links thront auf einem Stamm – fast wie aus ihm herausgewachsen – das Schnitzwerk einer kleinen Madonna, abermals als “Virgen del Carmen” dargestellt. Darunter haben Gläubige ihre Zeichen hinterlassen, die ihre Anwesenheit bezeugen sollen: Kerzen, Pins, Muschelschalen, Heiligenbildchen, Visitenkarten. Hinzu kommen Münzen und Geldscheine. Auf einem Tischchen vorne rechts im Eck finden sich ähnliche Gaben.
Kunstblumen in Töpfchen und Vasen geben der Kapelle versprengte Farbnoten in Rot, Gelb, Rosa und Lila. An den Wänden hängen winzige Gemälde der Kreuzwegstationen. Einige wenige Holzbänkchen laden ein, Platz zu nehmen. Dem kommt man gerne nach. Die Kapelle ist ein wohliger Schutzraum, aus dem man gar nicht mehr weg will. Doch irgendwann geht die Reise des Lebens weiter – und die “Ventus Australis” fährt ab.
Der Kapellenaufseher: Gläubig auf seine Art
José Luis Luarte ist in vielfacher Hinsicht für die Kapelle zuständig. Er öffnet und schließt sie für Besucher des Kaps, hält sie sauber, nimmt gelegentlich Ausbesserungsarbeiten vor. Religiös im klassischen Sinne ist er jedoch nicht. Er beschwört lieber die Gesamtheit des Seins und wird regelrecht philosophisch: “Ich glaube, dass wir ein Teil von etwas ‘Allumfassendem’, dass wir eins sind. ‘Das Alles ist in allem, und alles ist in dem Allen’, das ist der Satz, der meinen Glauben zusammenfasst.” Er betet auch nicht, sondern erklärt: “An jemanden zu denken oder ihm alles Gute zu wünschen, ist meine Art des Betens.”
“Wir sind hier sehr zufrieden und haben alle Errungenschaften der Zivilisation, aber sind weit von ihr weg”, urteilt Luarte über das Leben in der Einsamkeit. Frau Pamela ist Rangerin im Nationalpark. Beide Elternteile unterrichten den achtjährigen Sohn Gael. Tochter Sofía (14) nimmt an Online-Klassen teil. “Um ans Kap Hoorn zu kommen, mussten wir uns vorher alle den Blinddarm herausnehmen lassen”, verrät Luarte.
Die Winter sind nicht so hart wie vermutet. “Minus fünf Grad ist die niedrigste Temperatur, etwas Schnee bleibt nur wenige Tage oder höchstens zwei Wochen liegen”, erzählt er. Stets dramatisch sei der Wind, der manchmal über 200 Stundenkilometer erreiche.
Weltweit größter Schiffsfriedhof
Stürme, Strömungen und Tragödien haben dem Kap einen berüchtigten Ruf eingebracht. Die Gewässer an der Naht von Atlantik und Pazifik, die bis zur Eröffnung des Panamakanals 1914 für die Handelsrouten so wichtig waren, gelten als weltweit größter Schiffsfriedhof. Über 800 Boote und 10.000 Menschen wurden hier ins Verderben gerissen. An die Opfer des Meeres erinnert das Albatros-Monument, das etwa zehn Gehminuten von der Kapelle entfernt auf einer Anhöhe liegt. Hinüber führt ein Holzplankenweg, der am Ende in Stufen übergeht. In der Tiefe donnert die Brandung gegen die Klippen. “Kap Hoorn treibt den Süßwassermatrosen ihren Dünkel aus und tunkt auch die Salzgewohnten in noch salzigere Lake. Wehe dem Neuling, dem Tollkühnen! Gott sei ihm gnädig!”, notierte der US-Schriftsteller Herman Melville (1819–1891), den der Roman „Moby Dick“ bekannt machte.
Plötzlich mahnt das Begleitteam der „Ventus Australis“ zur Eile. Das Wetter droht umzuschlagen. Der Ozean ist deutlich aufgewühlter als bei der Hinfahrt. Die Zodiacs krachen durch Wellentäler. Rasch lichtet Kapitän Galindo den Anker. Dann verschwimmt das Kap in der Ferne.
Der Autor ist freier Journalist und auf die Themen Reise, Religionen und Kulturen spezialisiert. Er lebt seit vielen Jahren in Spanien.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.
Hier kostenlos erhalten!
Themen & Autoren
Schreibe einen Kommentar