Was Sucht mit Bindung zu tun hat
Sichere Bindung und vertrauensvolle Beziehungen sind nicht nur für die Empathiefähigkeit wichtig, sondern generell für ein gelingendes Leben
Quelle
Fachtagung: Bindung & Beziehung: Schnittstelle Neurobiologie & Soziale Arbeit am 28. März 2025 in Wien – European Centre for Clinical Social Work
06.04.2025
Fehlende Bindung und Beziehungslosigkeit beschäftigen nicht nur Neurobiologen und Psychologen, sondern auch in der Sozialarbeit tätige Fachleute in ihrem beruflichen Alltag. Die Fachtagung “Bindung und Beziehung: Schnittstelle Neurobiologie und Soziale Arbeit” zeigte vergangene Woche die Bedeutung von interdisziplinärer Forschung in diesem Bereich auf.
Claus Lamm, Professor für biologische Psychologie an der Universität Wien, beschäftigte sich in seinem Vortrag mit Empathie, die gemeinhin als essenziell für eine gut funktionierende zwischenmenschliche Kommunikation angesehen wird. Empathie sei, so Lamm, ein affektiver Zustand und heiße nicht, dass man dem Gegenüber mit Mitgefühl gegenübertrete oder als Folge altruistisch handele. Empathie bedeute, “ich fühle, was du fühlst”, so Lamm, und dies könne auch zur Folge haben, dass Menschen dieses Verständnis für sich und ihre Zwecke nutzen. Er räumte allerdings eine gewisse Korrelation zwischen Empathie und Altruismus ein. In der “Alltagspsychologie”, so erklärt der Psychologie-Professor, heiße es immer, die Empathie werde uns in die Wiege gelegt. Er gehe aber davon aus, dass diese nicht “nur” angeboren sei. Lamm illustrierte dies an folgendem Beispiel: Die Empathie gegenüber den Flüchtlingen zum Beispiel sei im Jahr 2015 bei der europäischen Bevölkerung sehr groß gewesen. Wäre diese “nur” angeboren, wäre das “Klima” heute für Flüchtlinge noch immer genauso wohlwollend wie damals. Gesellschaftliche Strömungen und der soziokulturelle Kontext würden aber eben auch eine große Rolle spielen.
Sucht als Bindungsstörung
Lamm ist davon überzeugt, dass Menschen Empathie lernen und trainieren können. Die Fähigkeit zur Empathie entwickle sich mit einem bis eineinhalb Jahren. Das im Kleinkindalter entwickelte Mitgefühl nehme aber in der Adoleszenz ab und steige bei Menschen im mittleren Alter wieder an. Bei älteren Menschen ab 60 Jahren nehme das prosoziale Verhalten weiter zu, aber lediglich innerhalb ihrer eigenen Gruppe. “Das heißt”, so Lamm, “die Hilfestellungen werden vermehrt in ihrem Umfeld geleistet.” Auf Nachfrage erklärt der Neurobiologe auch die Korrelation von Bindung und Empathie. Es gebe vier Bindungstypen, die sicher gebundenen, die unsicher vermeidenden, die unsicher ambivalenten und die desorganisierten. Bei sicher gebundenen Menschen erfolge die empathische Interaktion ganz natürlich, alle anderen Typen müssten viel mehr Aufwand betreiben, um Empathie zu entwickeln.
Human-Friedrich Unterrainer, klinischer Gesundheitspsychologe und Professor an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien, sprach ebenfalls auf der Tagung, die vom Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung und der Austrian Neuroscience Association (ANA) in Wien veranstaltet wurde. Unterrainer betonte, dass jeder Mensch ein Suchtpotential habe, aber die Bindungsfrage eine große Rolle spiele. Gegen die Bindung an eine Droge müsse die Bindung an eine Person als “Gegengift” eingesetzt werden. Er wies darauf hin, dass schon Sigmund Freud Sucht als Bindungsstörung formuliert habe.
Wie der erfahrene Psychologe weiter erklärte, entwickle sich das Vertrauen auf die Verfügbarkeit der Bindungsfigur beim Kleinkind, das dadurch weniger Angst empfinde. Dieses Vertrauen bleibe ein Leben lang und erweitere sich auf weitere Bindungssysteme: Neben dem elterlichen kommt Bindung zu einem Partner und zu einem Freundeskreis dazu. Bei Suchtkranken seien diese Bindungssysteme, so Unterrainer, defizitär.
Traumata und Bindung
Der Frage, was für Kinder mit Bindungsstörungen getan werden könne, ging die renommierte Kinderpsychologin Gertrude Bogyi nach. Sie hat, neben ihrer Tätigkeit an der Wiener Universitätsklinik für Neuropsychiatrie für das Kinder- und Jugendalter, die “Boje” gegründet, ein Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen. “Frühe Traumata bei Kindern”, so Bogyi, “bedingen einen Mangel an Urvertrauen und machen dadurch positive Beziehungserfahrungen unmöglich.” Ein Trauma forme die gesamte Welt des Kindes und resultiere meistens aus gestörten Fürsorgekontexten, so die Psychologin. Dies könnten traumatische Trennungen von der Bindungsperson oder unverarbeitete Traumata der Beziehungsperson selbst und schließlich Traumata durch Bindungspersonen in Form von Gewalt sein. Bogyi hält es in der Sozialarbeit für unverzichtbar, eine bindungsorientierte Herangehensweise zu wählen, haltgebende Beziehungsangebote und empathische, feinfühlige Begegnungen zu ermöglichen. Wie Bogyi weiter erklärte, ermöglichen zuverlässige Bindungen korrigierende Erfahrungen und wirken gleichsam als Schutzfaktoren. “Lebensgeschichtlich belastete Kinder würden sichere Orte und viele gute Bindungen brauchen und hätten ein Anrecht auf Erwachsene, die sie bei der Selbstbemächtigung unterstützen und begleiten, so die Psychologin”. “Nur so können traumatisierte Kinder das Gefühl für sich selbst wiederfinden und lernen, ihre Gefühle und Empfindungen richtig einzuordnen.”
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