Boualem Sansal: Der inhaftierte Friedenspreisträger
In Berlin übten unter anderem Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und Starautor Daniel Kehlmann Solidarität mit dem inhaftierten algerischen Schriftsteller
Boualem SansalQuelle
Boualem Sansal – Boualem Sansal – 10 Bücher – Perlentaucher
Amazon.de : boualem sansal
Boualem Sansal – Literatur statt Krieg – Die ganze Doku | ARTE
Boualem Sansal – Wikipedia
Algerien: Wie der Schriftsteller Sansal zwischen die Fronten geriet | tagesschau.de
10.03.2025
“Free Boualem Sansal” steht in großen Lettern auf dem Hintergrund der kleinen Bühne im Rangfoyer des Deutschen Theaters in Berlin. Der Raum ist vollbesetzt an diesem Freitagabend, dem 7. März; viele haben keinen Platz mehr bekommen und müssen auf die Live-Übertragung im Radio ausweichen.
Verhaftet am Flughafen von Algier
Am 16. November 2024 wurde der 1949 geborene frankophone algerische Schriftsteller Boualem Sansal, der seit dem letzten Jahr auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt, bei seiner Rückkehr aus Frankreich auf dem Flughafen von Algier verhaftet. Seit die Zeitung “Le Monde” Ende November davon berichtete, erhob sich eine Welle der Empörung, das PEN-Zentrum Deutschland und andere literarische Organisationen sowie bekannte Kulturschaffende setzen sich für seine sofortige Freilassung ein.
Inzwischen weiß man, dass Sansal laut Artikel 87 des algerischen Strafgesetzbuches “Vergehen gegen die Staatsgewalt” vorgeworfen wird. Sein französischer Anwalt François Zimeray darf nicht einreisen, angeblich weil er Jude ist. Der krebskranke Schriftsteller hatte Ende Februar einen Hungerstreik begonnen, den er wohl auf Anraten der Ärzte mittlerweile beendet hat. Seine noch in Algier lebende tschechische Frau darf ihn ab und zu sehen, er wird zwischen Krankenhaus und Gefängnis hin- und hertransportiert. Die beiden Töchter leben in Prag.
Ein Who is Who der Literatur setzt sich für Sensal ein
Das sind die dürren Fakten. Die Organisatoren der Solidaritätsveranstaltung, initiiert vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels (der auch den jährlichen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels vergibt, den Boualem Sansal 2011 erhalten hat), haben gemeinsam mit dem Merlin Verlag, dem Kulturmagazin Perlentaucher, Radio3 vom rbb und dem Deutschen Theater ein beeindruckendes Programm auf die Beine gestellt.
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann, die Friedenspreisträger Aleida Assmann und Wolf Lepenies sowie die Nobelpreisträgerinnen Herta Müller und Irina Scherbakowa lasen aus den Büchern Sansals, der Dichter Liao Yiwu, ebenfalls Friedenpreisträger, sprach von seiner Inhaftierung in China und rezitierte ein Gedicht mit musikalischer Untermalung seiner Klangschale. Katharina Eleonore Meyer vom Merlin Verlag, der Sansal in Deutschland verlegt, drückte im Gespräch mit der Moderatorin Natascha Freundel ihre große Sorge um den Zustand des Gefangenen aus und der auch in Deutschland bekannte algerische Schriftsteller und enge Freund Sansals, Kamel Daoud (seit 2024 Träger des Prix Goncourt) informierte im Dialog mit Thierry Chervel (Perlentaucher) über die politische Lage in Algerien. Das sachkundige Publikum, unter dem sich auch der deutsch-türkische Publizist Deniz Yücel befand, der mehrmals in der Türkei wegen angeblicher “Terrorpropaganda” inhaftiert war, sowie der Gründer und langjährige Leiter des Internationalen Literaturfestivals Berlin Ulrich Schreiber, der Boualem Sansal mehrfach als Gast des Festivals nach Berlin holte, war gekommen, um Näheres über den Stand der Dinge zu erfahren und hörte zwei Stunden konzentriert zu. Die Auswahl der lesenden Literaten vermittelte trotz der notwendigerweise kurzen Passagen einen starken Einblick in das Werk Sansals – wer ihn noch nicht kannte, wird ihn entdecken wollen.
Starautoren und Nobelpreisträgerinnen lasen aus Sansals Werken vor
Daniel Kehlmann begann den Reigen und las aus der Dankesrede Sansals zum Friedenspreis 2011 in der Frankfurter Paulskirche, die sich dezidiert mit der (damaligen) Situation in Algerien und der arabischen Welt auseinandersetzt, als der “arabische Frühling” zu einiger Hoffnung berechtigte. Das ist nun Geschichte. Aleida Assmann hatte sich “Das Dorf des Deutschen” (2008) ausgesucht, das die Beteiligung ehemaliger, als Ausbilder eingesetzter Nationalsozialisten am algerischen Befreiungskampf thematisiert. Und Herta Müller, die sich auch einige persönliche, sehr bewegende Worte aus ihrer erfahrenen Unterdrückung im Rumänien Ceaușescus gestattete, las aus “Darwin” (2011), Sansals wohl persönlichstem Roman über eine autobiographisch gefärbte Kindheit und Jugend in seinem Viertel in Algier.
Wolf Lepenies nahm sich “2084. Das Ende der Welt” (2015) vor, das angelehnt ist an Orwells “1984” und eine ähnliche Dystopie zum Inhalt hat: in Abistan, einem riesigen Reich der fernen Zukunft, bestimmen die Verehrung eines einzigen Gottes und das Leugnen der Vergangenheit das Herrschaftssystem. Jegliches individuelle Denken ist abgeschafft. Obwohl niemals der Begriff “Islam” fällt, geht es genau darum: um die Furcht vor einer islamistischen Weltherrschaft. “Es gibt keine Hoffnung”, so der mittlerweile in Frankreich lebende Schriftstellerfreund Kamel Douad, was sich auf die Situation in seinem Heimatland bezieht, aber auch seiner Befürchtung zum Fall Sansal verbitterten Ausdruck verleiht. Und doch verweist er auf die Notwendigkeit solcher Veranstaltungen wie dieser, die – auf welchen Kanälen auch immer, darüber wird selbstverständlich geschwiegen – dem Inhaftierten die Hoffnung und Zuversicht schenken, dass er nicht alleine ist.
Boualem Sansal muss freigelassen werden
Erst spät, mit 50 Jahren und zunehmend beunruhigt über die wachsende Islamisierung, begann der promovierte Ökonom und Ingenieur, der als hoher Beamter im Industrieministerium tätig war und sich nicht als Muslim empfindet, mit dem Schreiben. “Der Schwur der Barbaren” (1999), sein erster Roman, brachte ihm in seinem Heimatland den Ruf des Nestbeschmutzers ein. 2003 wurde er wegen seiner kritischen Haltung aus dem Staatsdienst entlassen. In Algerien sind seine Werke “Bückware”, offiziell ist er verboten, wird aber weltweit übersetzt und gelesen.
Am Abschluss dieses denkwürdigen Abends steht ein Gespräch der Moderatorin Natascha Freundel mit Martin Schult, dem stellvertretenden Leiter des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der auch der Referent des Friedenspreises ist. Es endet mit dem Wunsch, man möge den kranken Schriftsteller zur Behandlung ausreisen lassen – der langjährige korrupte Präsident Abd al-Aziz Bouteflika wurde in Deutschland behandelt, wie auch der derzeitige Staatspräsident Abdelmadjid Tebboune. Und mit der Forderung, die Veranstalter, Unterstützer und Gäste an diesem Abend zusammenbrachte: Freiheit für Boualem Sansal!
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