Was ist Schönheit? – Vom Privileg, in der Wahrheit zu leben
Schönheit ist für Christen mehr als Ästhetik oder der jeweilige Zeitgeschmack. Gerade die katholische Liturgie kann nur mit einem ganzheitlichen Verständnis von Schönheit würdig gefeiert werden. Ein Zwischenruf von Robert Kardinal Sarah
Quelle
Roger Scruton
Immanuel Kant: Schönheit ist nicht beliebig | Die Tagespost
Liturgie (694)
Kardinal R. Sarah (107)
30.01.2025
Robert Sarah
Was ist Schönheit? Wir leben in einer Epoche, die von Subjektivismus und Relativismus geprägt ist, und in einer solchen Zeit werden viele unserer Mitmenschen die Frage: “Was ist Schönheit?” vermutlich mit der Aussage beantworten: “Das hängt von deinem Geschmack oder deinen Vorlieben ab.” Ein solcher Subjektivismus entleert die Schönheit jedes objektiven Inhalts: Er macht jeden Geschmack und jeden Wunsch – selbst solche, die die Gesellschaft einmal als äußerst abstoßend bezeichnet hat – gleichermaßen akzeptabel.
Der englische Philosoph Roger Scruton (1944-2020) weist das entschieden zurück. “Zu denken, dass wir Schönheit als nichts mehr denn als subjektive Vorliebe oder Quelle vorübergehenden Genusses sehen können, heißt, nicht zu verstehen, wie tief Vernunft und Wertvorstellungen unser Leben durchdringen.” Scruton fährt fort: “Es heißt, nicht zu sehen, dass es für ein freies Wesen rechtes Fühlen, rechtes Erleben und rechten Genuss sowie rechtes Handeln gibt. Die Beurteilung des Schönen bestimmt die Gefühle und Wünsche der Person, die sie vornimmt. Es mag ihr gefallen oder ihren Geschmack zum Ausdruck bringen: doch es ist Gefallen, an dem, was sie wertschätzt, und Geschmack für ihre wahren Ideale”. (Beauty: A Very Short Introduction, Oxford, 2011, S. 163 f. [eigene Übersetzung])
Die endgültige Offenbarung Gottes
Nehmen wir diese vernünftige philosophische Argumentation und übertragen wir sie auf den theologischen Bereich. Als Katholiken sind wir der Meinung, dass Jesus Christus die endgültige Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit ist und dass seine Lehre, die uns von der Kirche treu bis heute überliefert wurde, objektiv wahr ist. Es ist das, was der allmächtige Gott, unser Schöpfer, uns darüber offenbart hat, was es bedeutet, wahrhaft Mensch zu sein, und was wir tun müssen, um das Ewige Leben mit ihm im Himmel zu erlangen.
Daher gibt es für den Katholiken ganz sicher ein rechtes Handeln, eine rechte Lehre und eine rechte Anbetung – so wie die endgültige Offenbarung Gottes in Jesus Christus gewisse Erfahrungen, Freuden und Begierden klar ausschließt. Wir haben das Privileg, in der Wahrheit zu leben, und sind nicht nur auf philosophische Spekulationen beschränkt. Demnach müssen wir sagen, dass angesichts der göttlichen Offenbarung der Subjektivismus im Glauben, in der Moral oder in der Anbetung falsch ist. Er ist nicht Gottes. Er führt die Seele in die Hölle, nicht in den Himmel.
Schönheit ist in erster Linie keine Frage der Ästhetik
Ein anderer angesehener Redner hat gestern über die Fragen der “Wahrheit” gesprochen, ein weiterer wird morgen “das Gute” mit euch untersuchen und so werde ich mich selbst darauf beschränken, zu sagen, dass wahre Schönheit das ist, was an der Objektivität der Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit teilhat. Das heißt, dass Schönheit theologisch (und moralisch, pastoral etcetera) nicht in erster Linie eine Frage der Ästhetik ist, sondern eine Frage dessen, ob dieser oder jener wahrnehmbare Aspekt unserer Anbetung Gottes und unseres Lebens, das wir in und aus dieser Anbetung leben, wirklich an dem teilhat, was von Jesus Christus ist, der das Schöne, das Wahre und das Gute verkörpert.
Denn Gott allein ist Schönheit, und sein menschgewordener Sohn, Jesus Christus, ist der schönste Mensch, der je gelebt hat – sogar und vor allem an dem hässlichen Widerspruch, den das Kreuz darstellt. Seine Schönheit beruht nicht auf seinem Aussehen, sondern auf seiner Ganzheitlichkeit, seiner Heiligkeit und seiner aufopfernden Hingabe an seine Mission. Er ist schön, weil er sich ganz der Erfüllung des väterlichen Willens überantwortet.
Berufen, enge Freunde Christi zu werden
Als Priester Jesu Christi täten wir alle gut daran, dies sehr sorgfältig zu erwägen. Wir sind berufen, enge Freunde Christi zu werden. In der Tat sind wir nicht einfach dazu berufen, ein “alter Christus”, ein anderer Christus, zu werden, sondern sogar dazu, “ipse Christus”, also Christus selbst zu werden, in seine Selbsthingabe an den Vater einzutreten. Es ist möglich, ein “alter Christus” und ein Funktionär zu sein, und es gibt heute in der Kirche zu viele Beispiele für wirklich abstoßende Funktionäre.
Doch wenn wir mit jedem Atemzug danach streben, “ipse Christus” zu werden – selbst, wenn diese Atemzüge unter den Schmerzen und Leiden der Kreuze, die wir tragen müssen, erfolgen – wird uns unsere stete Zusammenarbeit mit seiner Gnade, die uns in besonderer Weise durch das Sakrament der Priesterweihe geschenkt wurde, dem schönen Christus getreuer nachgestalten. Sie wird uns, die wir zerbrechliche und schwache Menschen sind, zu einem Werk von Gottes erlösender Schönheit machen, zur Ehre des allmächtigen Gottes, zur Erlösung unserer Seelen und der Seelen, denen zu dienen wir berufen sind.
Christus ist das Schöne selbst
Das ist von grundlegender Bedeutung. Christus ist das Schöne selbst, und die Berufung des Priesters ist schön, wenn sie wahrhaft an der aufopfernden Selbsthingabe Christi in den besonderen Lebensumständen teilhat, in denen zu dienen er berufen ist. Als Mensch kenne ich meine Grenzen. Ich kenne meine Sünden. Ich kenne meine Unfähigkeit. Als Priester Jesu Christi bin ich berufen, etwas zu werden, was ich von mir aus nie erreichen kann.
Doch durch seine Gnade ist es möglich: Das schöne Antlitz Jesu Christi, die endgültige Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit, kann in mir und durch mich leuchten; aber nur, wenn ich am heutigen Tag mit dieser Gnade zusammenarbeite und meine Entschlossenheit, dies zu tun, an so vielen weiteren Tagen erneuere, wie mir auf dieser Erde gegeben sind. Wie ich sagte: Wir sollten dies alle sehr sorgfältig erwägen. Es hat Auswirkungen auf jeden Aspekt unseres priesterlichen Dienstes. (…)
Eine Schönheit, die die Schönheit Gottes vermittelt
Die Organisatoren der Konferenz haben mich gebeten, speziell mit Bezug auf die Schönheit der heiligen Liturgie im Leben und in der Sendung des Priesters zu sprechen, was ich jetzt sehr gerne tun werde, denn wie Kardinal Ratzinger einmal sagte: “Die Kirche steht und fällt mit der Liturgie. Wenn die Anbetung der göttlichen Dreifaltigkeit abnimmt, wenn der Glaube in der Liturgie der Kirche nicht mehr in seiner Fülle aufscheint, wenn die Worte, die Gedanken, die Absichten des Menschen ihn ersticken, dann wird der Glaube den Ort verloren haben, an dem er sich ausdrückt und wo er wohnt. Aus diesem Grund ist die rechte Feier der heiligen Liturgie der Mittelpunkt jeder Erneuerung der Kirche” [eigene Übs.].
Diejenigen von uns, die außerhalb Europas geboren wurden, können sich wahrscheinlich sehr gut an ihren ersten Besuch auf diesem Kontinent erinnern, vor allem an ihren ersten Besuch in Rom. Wenn wir damit aufgewachsen sind, über den Petersdom in Rom und die großen Kathedralen wie Chartres oder den Dom von München zu hören und immer nur Bilder davon gesehen haben, nimmt es uns den Atem, wenn wir zum allerersten Mal wirklich in ihnen stehen. Und das ist richtig. Wir befinden uns in der Gegenwart einer Schönheit, die an der Schönheit Gottes selbst teilhat und diese vermittelt!
Schönheit in den Stilen kirchlicher Architektur
Wenn wir ein wenig umherreisen, werden wir auf viele verschiedene Stile der kirchlichen Architektur stoßen. Die schmucklose, solide Schlichtheit der Romanik wird uns mit dem “göttlichen Christus” konfrontieren, der gewöhnlich in der Apsis dargestellt wird. Höhe und Maßwerk der gotischen Kirchen werden bewirken, dass unsere Seelen sich zu Gott erheben. Barock und Rokoko werden uns zeigen, wie einfache Menschen die Herrlichkeit der Menschwerdung mit jeder schöpferischen Faser ihres Seins überschwänglich gefeiert haben.
Die großen Kirchen des christlichen Ostens werden uns in den himmlischen Hof eintauchen lassen. Der Kontrast zu den Kirchen und Kapellen, in denen wir dienen, kann ziemlich drastisch sein. Wir werden uns angesichts dessen, was wir zuhause nicht haben, vielleicht sogar ein wenig entmutigt fühlen. Einige der Kirchen, die wir besuchen, mögen für unseren Geschmack sogar ein bisschen zu viel scheinen.
Alle Stile dienen der liturgische Anbetung Gottes
Ich möchte darauf hinweisen, dass, selbst wenn wir uns in einem Architekturstil wohler fühlen als in einem anderen, das nicht unbedingt der Punkt ist. Der Punkt ist, dass die Schönheit, die wir in den großen Kathedralen Europas oder in den bescheidenen Kirchen und Kapellen unserer Heimatländer erfahren, auf die Ganzheitlichkeit des Gebäudes zurückzuführen ist. Das heißt, das Gebäude ist das, was es sein soll, und nichts anderes: ein heiliger Ort, das Haus Gottes und das Tor des Himmels (vgl. Gen 28, 16-17) – ein heiliger Ort, der für die liturgische Anbetung Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes bestimmt ist, erbaut aus Liebe zu Gott und mit aller Großherzigkeit und allem vorhandenen Geschick.
Insofern kann eine kleine Kapelle in einem afrikanischen Dorf dieselbe Ganzheitlichkeit besitzen wie jede römische Basilika. Das Gleiche gilt für eine Dorfkapelle in Amerika oder Australien, ungeachtet ihres besonderen Stils oder vielleicht ihrer mangelnden Zugehörigkeit zu einem der großen architektonischen Stile.
Wir haben wahrscheinlich auch die Erfahrung von Gottesdienstfeiern an Orten gemacht, denen es an solcher Ganzheitlichkeit mangelt. Manchmal mag es einen gerechtfertigten Grund geben: etwa, um die Messe für einen Sterbenden zu feiern, oder sogar bei einigen großen Anlässen, wenn die Kirche oder Kathedrale zu klein wären. Doch in solchen Fällen tun wir natürlich alles, was wir können, um diesen Ort so würdevoll wie möglich zu gestalten.
Wenn Würde und Harmonie fehlen
Doch manchmal fehlt es Kirchen und Kapellen an dieser Ganzheitlichkeit. Wir erfassen das instinktiv: Etwas in uns weicht vor der räumlichen Gestaltung, vor dieser oder jener besonderen liturgischen Ausstattung oder vor diesem oder jenem besonderen liturgischen Gegenstand zurück. Wie künstlerisch wertvoll es auch in sich sein mag oder wie teuer es war oder wie bekannt der Künstler, der es entworfen hat, es fügt sich einfach nicht harmonisch ein oder es kann nicht dafür verwendet werden, wofür es vorgesehen ist. Es mangelt ihm an jener Ganzheitlichkeit, die ihm erlaubt, an der Schönheit Christi teilzuhaben, welche sich in der heiligen Liturgie offenbart und uns zu Ihm führt, und zieht die Aufmerksamkeit vielmehr auf sich selbst. Es fehlen ihm jene wahre Würde und Harmonie, die den fruchtbaren Boden bilden, in dem die Transzendenz Wurzeln schlägt und wächst.
Ich habe die Analogie der kirchlichen Architektur verwendet, um das Prinzip der Ganzheitlichkeit als grundlegenden Bestandteil der liturgischen Schönheit zu beschreiben. Dieses Prinzip der Ganzheitlichkeit kann und muss auch auf die liturgischen Riten selbst angewendet werden. Die liturgischen Riten, die wir feiern, müssen genau das sein, was sie sein sollen, und nichts anderes.
Erneuerung im Wesen und in der Bedeutung der Liturgie
Lassen Sie mich ein einfaches Beispiel geben. Wo gibt es in den Rubriken der Konzelebration eine Bestimmung für die konzelebrierenden Priester oder Bischöfe, ihre Handys herauszunehmen und Fotos zu machen? Ich bin immer wieder erstaunt und zutiefst empört über diesen völligen Mangel an Ganzheitlichkeit bei Männern, denen das einzigartige Werk Christi übertragen ist, das nur sie vollziehen können, und die sich dann mitten im Gottesdienst wie durchziehende Touristen im Teenageralter verhalten!
Dafür gibt es in der heiligen Liturgie keinen Platz. Ein Priester oder ein Bischof, der sich so verhält, muss sein Gewissen erforschen und eine tiefe Erneuerung im Wesen und in der Bedeutung der Liturgie suchen. Er muss erwägen und prüfen, ob er wirklich an die Gegenwart Jesu in der Eucharistiefeier glaubt.
Diener der heiligen Liturgie
Es gibt zweifellos viele andere Beispiele, doch was zählt, ist das Prinzip: die liturgischen Riten, die wir zelebrieren, müssen genau das sein, was sie sein sollen, und nichts sonst. Darin liegt ihre Schönheit. Sogenannte Kreativität oder sogar Inkulturation, die die heilige Liturgie in ein religiöses Meeting oder eine kulturelle Darbietung verwandelt, hat nichts mit der Anbetung des allmächtigen Gottes zu tun, den getreu zu feiern wir bei der Weihe versprochen haben! Wir sind Diener, nicht Herren der heiligen Liturgie! Selbst Bischöfe sind nur ihre Hüter und Bewahrer, nicht ihre Eigentümer.
Dieses Prinzip beinhaltet natürlich, dass wir den liturgischen Büchern treu sind, so, wie sie uns durch die rechtmäßige Autorität gegeben werden. Wir können ein bisschen mehr darüber sprechen, wenn wir die “ars celebrandi” behandeln. Die reformierten liturgischen Bücher enthalten Optionen und es ist manchmal anhand solcher Optionen möglich, die liturgische Atmosphäre oder den Gefühlseindruck jeder beliebigen liturgischen Feier zu verändern.
Der vorstehende Text ist der leicht gekürzte erste Teil eines Vortrags, den der vormalige Präfekt der Gottesdienstkongregation Mitte Januar bei der dritten internationalen Klerustagung in Rom zum Thema “Die Schönheit und die Sendung des Priesters” gehalten hat. Das englische Original wurde zuvor in der Zeitschrift “Catholic Herald“ veröffentlicht. Der zweite Teil erscheint in der Ausgabe vom 6. Februar.
Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Reimüller, Mit freundlicher Genehmigung des “Catholic Herald”.
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