Die Gnade ist der tiefe Kern unserer christlichen Identität
CNA Deutsch präsentiert die folgende Predigt zum bevorstehenden Hochfest der Unbefleckten Empfängnis (in diesem Jahr am 9. Dezember)
Von Aldo Vendemiati
6. Dezember 2024
CNA Deutsch präsentiert die folgende Predigt zum bevorstehenden Hochfest der Unbefleckten Empfängnis (in diesem Jahr am 9. Dezember).
“Unbefleckt” bedeutet “ohne Makel (der Sünde)”. Es ist ein marianischer Titel, der eine wichtige Wahrheit unseres Glaubens zum Ausdruck bringt. Es ist ein kostbarer Titel.
Und doch drückt er – wie es bei unseren Worten immer geschieht – nicht das ganze Geheimnis aus, sondern nur einen Teil. Tatsächlich beschränkt sich dieser Titel darauf, zu sagen, was Maria nicht ist: Sie ist nicht befleckt. Und was Maria nicht hat: Sie hat keine Sünde. Ich denke, wir sollten versuchen, diesen Titel in unserer Überlegung ins Positive zu wenden.
Bei der Erschaffung der Jungfrau Maria hat Gott sie nicht nur vor dem Bösen bewahrt, er hat sie auch mit allem Guten bekleidet. Aus diesem Grund werden ihr in der Antiphon der heutigen Messe folgende Worte zugeschrieben: Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt (vgl. Jes 61,10).
In der liturgischen Tradition können wir Titel finden, die das Geheimnis, das wir heute in Maria feiern, im positiven Sinne zum Ausdruck bringen: Sie ist die “Ganz-Heilige” (Panagia, wie unsere Geschwister der Ostkirchen sagen), die “Ganz-Schöne” (tota pulchra, wie wir auf lateinisch sagen). Aber der passendste Titel ist der, mit dem der Engel Gabriel Maria im heutigen Evangelium anspricht (Lk 1,26-38): “Voll der Gnade” (auf griechisch: kecharitoméne, was wörtlich bedeutet: Du, die du vollkommen von Gnade erfüllt wurdest und bleibst).
Halten wir also einen Moment inne, um über das Geheimnis der Gnade (charis), von der Maria voll ist, nachzudenken und es zu verkosten! Wir müssen dieses Geheimnis wiederentdecken, denn das Wort “Gnade” ist entwertet und hat an Wirksamkeit verloren. Und wir heute müssen es wiederbeleben, es für die Christen lebendig, pulsierend machen; denn es ist für uns lebenswichtig, die Gnade zu kosten und in die Gnade “verliebt zu sein”.
Wenn wir das Neue Testament lesen, erkennen wir, dass “Gnade” ein Schlüsselwort ist. In der zweiten Lesung (Eph 1,3–12) verkündet Paulus, dass Gott uns bestimmt hat “zum Lob seiner herrlichen Gnade. Er hat sie uns geschenkt in seinem geliebten Sohn.”
Im Grunde haben die Apostel der Welt eine Botschaft zu bringen: die Botschaft der Gnade. So, dass wir in der Apostelgeschichte drei- oder viermal den Ausdruck “Evangelium der Gnade” finden; das heißt, das gesamte Evangelium wird in diesem Wort zusammengefasst: die Gnade Gottes. Wenn Paulus oder andere Apostel Briefe an die Gemeinden schreiben, so lautet ihr Gruß zu Beginn: “Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von unserem Herrn Jesus Christus.”
Die Gnade ist der tiefe Kern unserer christlichen Identität und sie ist auch der tiefe Kern der Kirche. Die Kirche hat ihren Daseinszweck gerade als Hüterin der Gnade, als diejenige, die den Menschen die Gnade übermittelt. Und Maria, die voll der Gnade ist, ist das vollkommene Abbild der Kirche, das heißt unserer Gemeinschaft. Auch wir sind gerufen, mit Gnade erfüllt zu werden, um der Welt Jesus zu schenken!
Pater Raniero Cantalamessa OFMCap gebraucht dieses Bild: Wenn man Kupferdrähte nimmt, die alle identisch sind und die gleiche Länge und Dicke haben und sie auf einem Tisch auslegt, dann sind sie nicht voneinander zu unterscheiden. Wenn man aber einen dieser Drähte an Strom anschließt, dann wird man den Unterschied merken. Wenn ihr sie nur anseht, scheinen alle gleich zu sein, aber wenn ihr diesen einen berührt, dann bekommt ihr von ihm einen Stromschlag – und von den anderen nicht.
So ist es mit den christlichen Gemeinden, den Pfarreien, den religiösen Instituten. Jeder von uns ist ein Kupferdraht. Nur sind einige nicht mit dem Strom verbunden. Ihr berührt sie und es passiert nichts. Andere hingegen sind an den Storm der Gnade angeschlossen, das heißt mit Christus verbunden, der mit der Macht des Heiligen Geistes wirkt: Wenn ihr mit diesen “Drähten” in Berührung kommt, dann merkt ihr den Unterschied!
Ein Christ, eine Gemeinschaft, die die Gnade ablehnen würde, die einfach das eigene “natürliche” Leben leben wollte – was wären sie in den Augen Gottes, der Engel, Mariens? Sie wären leere Hüllen, eine tote Realität.
Nachdem wir nun verweilt haben, um die Schönheit Mariens, die “voll der Gnade” ist, zu betrachten, nehmen wir den Weg des Advents wieder auf, der ein Weg der Bekehrung ist: Stellen wir die Gnade Gottes wieder in den Mittelpunkt unseres Lebens! Schätzen wir die Sakramente Christi, die Zeichen und Werkzeuge sind, durch die uns die Gnade erreicht! Es geht darum, das Geschenk anzunehmen, das uns in Christus gegeben wird; das Geschenk, durch das auch wir nach dem Bild Mariens “erwählt wurden vor der Grundlegung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor ihm”.
Aldo Vendemiati ist Priester und Professor an der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Universität Urbaniana. Sein Blog findet sich HIER. Die Predigt wurde mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht.
Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.
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