Selbstbehauptung im Baltikum

Die Litauer schöpfen aus dem Wissen um ihre Befreiungskämpfe Kraft für die Gegenwart

Quelle
Litauen
Bundeswehr-Soldaten sind in Rukla in Litauen im Einsatz | Die Tagespost (die-tagespost.de)

05.10.2024

Michael Leh

Auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast in Vilnius ist ein großer blau-silberner NATO-Stern installiert. Silberne kleine Spiegel sind noch daran montiert, so dass es aussieht wie eine Kunstinstallation. Alles ist blitzblank sauber und unbeschädigt. Der Besucher aus Berlin reibt sich die Augen, denn in der deutschen Hauptstadt könnte das NATO-Symbol nirgends öffentlich aufgestellt werden, ohne in kürzester Zeit mindestens beschmiert, wenn nicht zerstört zu werden. Dafür würden die Antifa und andere Linksextremisten sorgen – oder “Russlandfreunde” anderer Herkunft.

Nicht so in der Hauptstadt Litauens, die immerhin 569.000 Einwohner hat. Hier ist man unverkennbar froh und dankbar dafür, dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis anzugehören. Vor dem Verteidigungsministerium in Vilnius steht in großen weißen Lettern aus Stein: “MES NATO” – Wir sind NATO! Außerdem hängt am Ministerium, wie an vielen anderen öffentlichen Gebäuden, neben der Fahne Litauens auch die der Ukraine. Die öffentliche Solidarität der Litauer mit dem von Russland überfallenen Staat ist unübersehbar. Sogar auf den elektronischen Displays der modernen rot-schwarzen städtischen Busse erscheint abwechselnd mit dem Fahrtziel immer der Slogan: “Vilnius loves Ukraine”.

Den Litauern, auch den jungen, ist die eigene Bedrohungslage bewusst. Das Land wird wieder die Wehrpflicht einführen, die es vier Jahre nach dem NATO-Beitritt 2008 abgeschafft hat. 2025 sollen die ersten Musterungen erfolgen, 2026 Einberufungen. Derzeit hat Litauen 18.000 Berufssoldaten. Dass Deutschland eine ganze Brigade der Bundeswehr in Litauen stationieren wird, ist hochwillkommen. Bereits jetzt sind 800 deutsche Soldatinnen und Soldaten in dem baltischen Staat präsent. Die schwere Kampfbrigade mit 4.800 Bundeswehrsoldaten soll bis 2027 ihre volle Einsatzfähigkeit in Litauen erreicht haben.

Die Vorsitzende der litauischen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), Jurgita Samoskiene, erklärt gegenüber dieser Zeitung: “Momentan ist die Situation in Litauen sehr angespannt, die Zukunft ist ungewiss. Darauf bereiten wir uns vor. Vereine wie die Schützen-Union und Freiwilligen-Bataillone haben in den letzten zwei Jahren einen massiven Zulauf erhalten.” Die Litauer würden versuchen, Russland mit allen Mitteln abzuschrecken. Die Mehrheit sehe Russland als Bedrohung. Cyber-Angriffe aus Russland auf die digitale Infrastruktur seien zum Alltag geworden.

Ein Lehrmeister im Versöhnen und Vereinen

Das “Museum der Besatzungen und Freiheitskämpfe” in Vilnius leistet einen beachtlichen Beitrag für das historische Wissen über die litauischen Befreiungsbewegungen. Es ist im ehemaligen KGB-Gebäude untergebracht. In dessen Kellerräumen war auch das KGB-Gefängnis, dessen alte Zellen ebenso zu besichtigen sind wie ein größerer Raum, in dem mehr als tausend Menschen erschossen wurden.

Auch Papst Franziskus hat es 2018 besichtigt und dort gebetet. “Herr, möge Litauen ein Leuchtturm der Hoffnung sein!”, betete Franziskus im KGB-Museum, es sei “ein Land mit einem tätigen Gedächtnis, das immer neue Einsätze gegen alle Ungerechtigkeit führt. Dieses Land möge kreative Anstrengungen zur Verteidigung der Rechte aller Menschen fördern, insbesondere der schutzlosesten und verletzlichsten. Und es sei ein Lehrmeister im Versöhnen und Vereinen von Unterschieden.”

Das Museum verfügt über 100.000 Exponate. Es veranstaltet Seminare, Filmvorführungen, Ausstellungen, Treffen mit früheren politischen Gefangenen, Deportierten und Partisanen. Das Gebäude beherbergt auch das wissenschaftliche “Zentrum für die Erforschung von Völkermord und Widerstand der litauischen Bevölkerung”. Das staatlich finanzierte Institut mit über 100 Mitarbeitern wurde bereits 1992 gegründet. Seine Ursprünge liegen noch in der Zeit der Volksbewegung Sajudis, welche die Verbrechen des Stalinismus zu untersuchen begann. Wie der Direktor des Forschungszentrums, der Historiker Arunas Bubnys, erklärt, untersucht dieses “alle Formen von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Das Augenmerk gelte Opfern wie Tätern. An Strafverfolgungsbehörden würden Informationen weitergegeben.

“Die Aufdeckung der Funktion von Repressionsorganen, ihren Führern und Mitarbeitern hat dazu beigetragen, dass Staatsanwälte und Justizangestellte sich in den Irrungen und Wirrungen der neueren Geschichte nicht verlieren”, erklärt Bubnys. Forschungen über den Holocaust, den Terror der Regime, den Widerstand und die Folgen hätten zur Verabschiedung von Rechtsvorschriften über die Sozialhilfe für Besatzungsopfer und Freiheitskämpfer geführt. Dank dieser Forschungen hätten viele Menschen vom Schicksal ihrer getöteten oder vermissten Familienangehörigen erfahren. Es seien Datenbanken über politische Gefangene, Vertriebene und Mitglieder des bewaffneten Widerstands erstellt worden; sie würden ständig aktualisiert. “Wir beschäftigen uns in unserer Forschung nicht nur mit der Leidensgeschichte der Litauer, sondern auch der Polen, Juden und anderer nationaler Gemeinschaften in Litauen”, sagt Bubnys. Bereits 1992 sei ein erster Band, ein Verzeichnis der Opfer der sowjetischen Besatzung von 1939 bis 1942, veröffentlicht worden. Später seien weitere Daten aus Geheimarchiven des KGB und der litauischen Sowjetrepublik erschlossen worden. Inzwischen gebe es eine “einzigartige Sammlung von Zehntausenden Namen” von Litauern, die während der sowjetischen Herrschaft unterdrückt worden seien, mitsamt biographischen Angaben. Zahlreiche Monographien und 200 wissenschaftliche Publikationen habe man herausgebracht. Zweimal jährlich erscheine die Zeitschrift “Völkermord und Widerstand”; 51 Ausgaben gebe es bisher.

Interesse junger Menschen an der Geschichte Litauens geweckt

Das Museum habe 30 mobile Ausstellungen in Litauen und im Ausland organisiert. Zu den meistbesuchten Ausstellungen gehörten: “Krieg nach dem Krieg: Bewaffneter antisowjetischer Widerstand in Litauen 1944-1953”, “Der Tod der Partisanen der Genys-Gruppe im Bezirk Dainava im Mai 1952”, “Wolfskinder: Auf dem Weg des Brotes von Ostpreußen nach Litauen. 1945-1948”. Bubnys hebt als wichtigen Erfolg hervor, dass es gelungen sei, das Interesse junger Menschen an der Geschichte Litauens zu wecken. Diese seien heute besonders an den Widerstandskämpfen litauischer Partisanen interessiert, darunter die “Waldbrüder”.

Das Forschungszentrum nennt Opferzahlen: Während der sowjetischen Besatzung Litauens vom 15. Juni 1940 bis 22. Juni 1941 wurden 11.000 Menschen festgenommen, inhaftiert und ermordet. 18.000 Menschen wurden in dieser Zeit deportiert. 700 kamen bei einem Aufstand ums Leben. Zwischen 1944 und 1953 wurden 186.000 Menschen festgenommen, inhaftiert und verhört; 118.000 wurden deportiert. 20.500 Partisanen und Unterstützer wurden getötet. In Lagern und Gefängnissen starben in dieser Zeit bis zu 25.000 Menschen. In der Verbannung starben 28.000 Litauer. Zwischen 1954 und 1986 wurden in Litauen 1.000 Personen festgenommen und inhaftiert. Im Jahr 1991 wurden bei der Verteidigung der litauischen Unabhängigkeit 23 Menschen getötet sowie 900 verwundet oder auf andere Weise versehrt.

Während der Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland vom 22. Juni 1941 bis zum Juli 1944 wurden 29 500 Menschen inhaftiert und in Konzentrationslager verbracht. 60.000 Personen mussten als Zwangsarbeiter nach Deutschland. 240.000 Menschen wurden ermordet, davon waren etwa 200.000 Juden. Damit wurde fast die gesamte jüdische Bevölkerung Litauens ausgelöscht. Daran hatten sich auch Litauer beteiligt. Der Historiker Arunas Rukšenas vom Forschungszentrum schätzt die Zahl der Litauer, die an der Verfolgung der Juden teilnahmen, auf 23.000 Personen. Direkt an den Massakern beteiligt waren laut Rukšenas 3.000 bis 6.000 Litauer. Ein ergreifendes Zeugnis über das Leben im Ghetto von Wilna ist das Tagebuch des 14-jährigen jüdischen Jungen Yitskokh Rudashevski, der wie fast seine gesamte Familie ermordet wurde. Eine umfangreiche Darstellung “Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen. Litauen und der Zweite Weltkrieg“ hat die Bonner Historikerin Ekaterina Makhotina 2017 veröffentlicht.

Mitfühlender Blick auf die Ukraine

Wie Arunas Bubnys gegenüber dieser Zeitung sagt, arbeitet das litauische Forschungszentrum mit dem polnischen Pilecki-Institut (benannt nach dem großen katholischen Widerstandskämpfer Witold Pilecki) in Warschau zusammen. Beide Institutionen pflegen enge Kontakte in die Ukraine, unter anderem zur Abwehr russischer Propaganda und Desinformationen. “Wir haben im letzten Jahr in diesem Gebäude drei ukrainische Ausstellungen gezeigt”, so Bubnys. Eine habe “Russkij Mir” behandelt, die “Russische Welt”, die anti-westliche, anti-liberale und neo-imperiale Ideologie des Putin-Regimes. Eine weitere informierte über ukrainische Partisanen. Die dritte über den “Holodomor”, die durch Zwangskollektivierung verursachte große Hungersnot in der Ukraine in den 1930er Jahren unter Stalin.

Wie Anne Applebaum in ihrem Standardwerk “Roter Hunger – Stalins Krieg gegen die Ukraine” schreibt, verhungerten zwischen 1931 und 1934 mindestens fünf Millionen Menschen in der Sowjetunion, darunter mehr als 3,9 Millionen Ukrainer. Die Hungersnot war “nur ein Teil der Geschichte”, so Applebaum. “Während auf dem Land die Bauern starben, attackierte die Geheimpolizei die geistigen und politischen Eliten der Ukraine.”

Hintergrund

Im 20. Jahrhundert wurden die drei baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen) Opfer des nationalsozialistischen Deutschland wie der kommunistischen Sowjetunion. Erst 1991 konnten sie ihre Unabhängigkeit von Moskau wiedererlangen und drängten, um ihre Freiheit und Selbstständigkeit zu sichern, in die NATO wie in die EU. Die Solidarität mit der von Moskau attackierten Ukraine ist in diesen Staaten besonders groß. In der neuen EU-Kommission, die im November ihr Amt antreten soll, werden zwei Ex-Regierungschefs aus dem Baltikum eine Verantwortung übernehmen, die mit diesem Hintergrund zu tun hat: Estlands Ex-Regierungschefin Kaja Kallas wird die neue EU-Außenbeauftragte, Litauens vormaliger Premierminister Andrius Kubilius wird erster EU-Verteidigungskommissar.

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