Deutsche Wurzeln, brasilianische Zweige

Vor 200 Jahren erreichten die ersten deutschen Einwanderer Brasilien. Ihr Einfluss auf die katholische Kirche im Land ist auch heute nicht zu übersehen

Quelle
Nidwalden: Die Bank des Paters widersteht der Krise (luzernerzeitung.ch)
Brasilien
Neue Heimat für Deutsche: 200 Jahre Auswanderung nach Brasilien – SWR Kultur
“200 Jahre deutsche Einwanderung in Brasilien” Sondersitzung im brasilianischen Parlament | University of Tübingen (uni-tuebingen.de)
Marienerscheinungen in Marpingen 1876/1877 – Wikipedia
João Batista Becker – Wikipedia

23.08.2024

Das Jahr 2024 feiert Brasilien als Festjahr des 200. Jubiläums des Beginns der deutschsprachigen Einwanderung, die mit der Gründung der Kolonie São Leopoldo bei Porto Alegre in Rio Grande do Sul ihren Anfang nahm. Die deutsche Einwanderung nach Brasilien begann damit kurz nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1822. Die portugiesische Königsfamilie Braganza hatte 1808 vor dem Angriff napoleonischer Truppen Portugal verlassen und hatte sich in Rio de Janeiro niedergelassen, wo auch die neue Hauptstadt des portugiesischen Weltreiches entstand. 1815 ging Kaiser Joao VI. nach Portugal zurück, sein Sohn Pedro blieb in Brasilien, er heiratete 1817 die habsburgische Prinzessin Leopoldine (1797-1826). Diese erklärte 1822 an der Stelle ihres kranken Mannes die Unabhängigkeit des Kaiserreiches Brasilien.

Um diese Unabhängigkeit auf sichere Grundlagen zu stellen, brauchte Brasilien, das damals eine mehrheitlich afrobrasilianische Bevölkerung hatte, europäische Einwanderer. Diese suchte Leopoldine vor allem in deutschsprachigen Ländern. Die Kolonie São Leopoldo in Rio Grande do Sul, die Kolonie São Pedro de Alcântara in Santa Catarina, und die Kolonie Rio Negro an der Grenze zwischen Paraná und Santa Catarina wurden gegründet. Diese drei Siedlungen sollten die Muttersiedlungen aller deutschsprachigen Einwanderer in Südbrasilien werden.

Deutsche Jesuiten prägten den brasilianischen Klerus

Als im Jahre 1848 das Bistum Porto Alegre und mit ihm das gesamte Pfarreiensystem in Rio Grande do Sul neu errichtet wurde, wurden für die deutschen Einwanderer zwei Pfarreien gegründet, São Miguel (heute Dois Irmãos) und São José do Hortêncio. Die Seelsorge in diesen Pfarreien wurde deutschsprachigen Jesuiten aus der österreichischen Provinz des Ordens übertragen, die aus Uruguay vertrieben worden waren. Ihnen folgten seit 1872, als durch die Jesuitengesetze unter Bismarck der Orden auch in Deutschland verboten wurde, viele weitere Jesuiten auch aus Deutschland. Die Jesuiten in Brasilien gehörten zwischen 1872 bis 1925 zur deutschen Provinz. Insgesamt sind so mehr als 300 Jesuiten aus deutschsprachigen Ländern nach Brasilien gegangen, ein Glücksfall.

Die Jesuiten hatten einen ganzheitlichen Ansatz, sie waren bestrebt, die deutschstämmige Bevölkerung nicht nur in Glaubensfragen, sondern auch in sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen zu betreuen. Dazu haben sich die deutschen Jesuiten vor allem um die Hebung des Schulwesens, die Heranbildung eines einheimischen Klerus, die Gründung einer eigenständigen Presse, die Organisation von Pfarreien und der Förderung des Vereinswesens bemüht. Die Jesuiten wollten dem Katholizismus in Südbrasilien eine neue Orientierung geben, welche sich am deutschen Katholizismus orientierte und sich wesentlich von der portugiesisch-brasilianischen Religiosität unterscheiden sollte. 1902 führte der Schweizer Jesuit P. Theodor Amstad SJ. das Kooperationswesen und Raiffeisenkassen in Brasilien ein. Wie einst im 17./18. Jahrhundert, als Jesuiten Siedlungen zum Schutz für Indigene in Südamerika anlegten, legten sie seit 1920 unter Führung von P. Max von Lassberg SJ in Santa Catarina und Paraná eigene Siedlungen für Deutschstämmige an, um den kinderreichen deutschen Familien neues Land zu geben. Der heutige Kardinal Odilo Scherer von São Paulo, ein Siedler-Nachfahre in fünfter Generation, der noch perfekt Hunsrückisch spricht, wurde 1949 in einer dieser Siedlungen in Paraná geboren.

Münsteraner Weltpriester folgten den Auswanderern

In Santa Catarina waren die Pioniere der Seelsorgearbeit unter den deutschen Kolonisten nicht wie in Rio Grande do Sul die Jesuiten, sondern deutschsprachige Weltpriester, zum großen Teil aus dem Bistum Münster, die den Auswandererzügen aus Deutschland gefolgt waren. Der eigentliche Begründer kirchlicher Strukturen in Santa Catarina, die seit der Vertreibung der Jesuiten 1767 verloren gegangen waren, war der aus Warendorf stammende Priester Franz Topp (1854-1925), der 1890 nach Brasilien kam. Franz Topp, der eine offizielle Beauftragung durch den Bischof von Münster hatte, hat sich nicht nur durch sein eigenes Wirken als “Apostel Santa Catarinas” einen Namen gemacht.

Ihm ist es zu verdanken, dass die drei späterhin bedeutendsten deutschen Ordensgemeinschaften in Santa Catarina ihre Stützpunkte für ganz Brasilien aufbauten. Topp wurde 1896 Pfarrer in der Hauptstadt des Landes, der Insel Desterro, später Florianópolis, wo die katholische Kirche seit einigen hundert Jahren kaum noch präsent war. Hier gelang ihm die Wiederbelebung von fünf Pfarreien. Bereits im Jahre 1900 erhielt Pfarrer Topp vom Bischof von Curitiba alle Vollmachten, Maßnahmen zur Gründung eines eigenen Bistums zu ergreifen.

Imposantes Aufbauwerk

Am 17.02.1908 wurde seine Arbeit mit Erfolg gekrönt. Mit der Bulle “Quum Sanctissimus Dominus Noster” wurde das neue Bistum Florianópolis durch den Papst geschaffen. Am 12. Oktober 1908 übernahm der aus dem Saarland stammende Dom João Becker (1870-1946), der nach den “Marienerscheinungen” in Marpingen 1876, bei denen seine Mutter eine der “Geheilten” war, 1878 mit seiner Familie ausgewandert war, die Leitung dieser neuen Diözese. Becker sollte der erste deutschstämmige Bischof Brasiliens werden. Ab 1912 war Becker Erzbischof von Porto Alegre. 34 Jahre lang prägte und erneuerte er die Kirche Brasiliens. Das erste und wichtigste Anliegen des jungen Erzbischofs von Porto Alegre war die Stärkung und Verbesserung der Priesterausbildung. Als Sohn deutscher Kolonisten wusste der neue Erzbischof, dass die Kolonistensöhne, unter denen er das Hauptreservoir für das neue Seminar erhoffte, den Weg in die Großstadt Porto Alegre eher scheuten als in das Zentrum ihrer Kolonie. Deshalb gründete er das neue Priesterseminar in São Leopoldo, dort wo die deutschen Siedlungen in Brasilien 1824 ihren Anfang genommen hatten. Kein Wunder also, dass von den neuen Seminaristen fast 90 % Deutschstämmige waren. Dom João Becker legte damit die Grundlage für die führende Rolle, die die deutschstämmigen Priester und Bischöfe bei der Erneuerung und Stärkung der gesamten brasilianischen Kirche spielen sollten. Im Jahre 1944 stellten Deutsche bereits 75 % der Priesterschaft im Süden Brasiliens. Deutschstämmige Priester und Pfarreien aus Brasilien leisteten als erste nach 1945 mit elf Schiffsladungen Hilfsgüter dem am Boden liegenden kriegszerstörten Deutschland materielle Hilfe.

Die Geschichte des Christus von Rio de Janeiro

Durch das imposante Aufbauwerk von Erzbischof Becker wurde die Kirche in der Gesellschaft Rio Grandes überhaupt erst wieder präsent, gewann aber schnell an Einfluss auf die Bildung von Eliten und die gesellschaftliche Entwicklung allgemein. Die Amtszeit von Erzbischof Becker in Porto Alegre fiel zeitlich zusammen mit dem Aufstieg des mächtigsten brasilianischen Politikers der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Getulio Vargas (1882-1954), der selbst dem südlichsten Bundesstaat entstammte.

Unter Getulio Vargas? Nach dem Modell des “Estado Novo” wurde Rio Grande do Sul der wegweisende Bundesstaat Brasiliens, ganz Brasilien wurde unter seiner Amtszeit nach dem bereits stark europäisch dominierten Modell Rio Grandes wirtschaftlich und gesellschaftlich modernisiert. Fast alle Reformminister Getulio Vargas stammten aus Rio Grande, viele hatten die dortigen deutschen Jesuitenschulen besucht, Erzbischof Becker hatte die meisten von ihnen gekannt.

Als Dank für die kirchliche Unterstützung für seine unblutige Machtübernahme ließ Vargas im Jahre 1931 die 30 Meter hohe Christus Figur auf dem Corcovado-Berg errichten, die heute Rio de Janeiro überragt und als Symbol der Verbundenheit des brasilianischen Volkes mit der katholischen Kirche gilt. 2006 erklärte sie der deutschstämmige Kardinal von Rio, Eusebio Scheid, zum Wallfahrtsort.

Bis heute prägend

Nachfolger Beckers als Erzbischof von Porto Alegre wurde der in Brasilien als Sohn saarländischer Eltern geborene Vicente Scherer (1903-1996), er sollte 1969 der erste deutschstämmige Kardinal Brasiliens werden. Seit 2007 ist ein Verwandter von ihm, Odilo Scherer, Kardinal von São Paulo. 2013 galt er als papabile. Noch zwei weitere brasilianische (Erz)Bischöfe stammen aus der Scherer-Familie, die damit zur einflussreichsten katholischen Familiendynastie Brasiliens geworden ist. Um 1990 hatten 10 % der brasilianischen Priester, 20 % der Bischöfe und die Hälfte aller brasilianischen Kardinäle deutsche Wurzeln, ein Großteil davon aus dem Bistum Trier. Allein 18 davon besuchten 1996 die Heilig Rock Wallfahrt in Trier. Dieser Anteil sinkt zwar in den letzten Jahren wieder, aber die deutsche Einwanderung ist in der Kirche für Brasilien nicht nur personell bis heute prägend. Auch im Bereich der Theologie gehören deutschstämmige Theologen vor allem aus dem Franziskanerorden, wie Leonardo Boff oder Kardinal Aloisio Lorscheider und Kardinal Claudio Hummes (1934-2022), der als geistlicher Mentor von Papst Franziskus bei dessen Wahl zum Papst galt und Verwalter seines Amazonasprojektes wurde, zu Vordenkern einer erneuerten Pastoral und Theologie der Kirche der Gegenwart.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Hier kostenlos erhalten!

Themen & Autoren

Bodo Bost
Bistum Münster
Bistum Trier
Erzbischöfe
Franziskaner-Orden
Hans-Josef Becker
Jesus Christus
Kardinäle
Papst Franziskus
Pfarrer und Pastoren

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel