Ernst Jünger und die Sehnsucht nach “Dorothea”

Ab sofort spürt Engelforscher Uwe Wolff bedeutenden Geistesgrößen sowie deren Verhältnis zu den himmlischen Heerscharen nach. Den Anfang macht Ernst Jünger (“In Stahlgewittern”, “Auf den Marmorklippen”), der seinem Schutzengel sogar einen eigenen Namen gab

Quelle
Jakobs Kampf am Jabbok – Wikipedia

11.01.2024

Uwe Wolff

“Zwei Mal Halley” heißt das 1987 veröffentlichte Tagebuch einer Reise auf die Südhalbkugel, unter deren besseren Lichtverhältnissen der Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) das Unwahrscheinliche zu erleben hoffte:

Die Wiederkehr des Halleyschen Kometen nach 76 Jahren. Im Kreis seiner vier Geschwister hatte ihn der Erstgeborene zum ersten Mal gesehen. Das war 1910 in der Villa Jünger bei Rehburg am Steinhuder Meer. Nun hatte er nicht nur die Geschwister, sondern unzählige Gefahren und Kriegsverletzungen überlebt. Wenn jemals der Schutzengel eines Menschen herausragende Arbeit geleistet hat, dann Dorothea. So nannte Ernst Jünger seinen Wegbegleiter. Dorothea hatte sich ihm im Beistand vieler Menschen gezeigt und als wahres “Gottesgeschenk” erwiesen.

“Nach Mitternacht weckte mich eine Dankeswelle für Eltern, Lehrer, Kameraden, Nachbarn, unbekannte Freunde, ohne deren Hilfe ich nie mein Alter erreicht hätte”, notiert der 91-Jährige in sein Tagebuch (22. April 1986). “Meine Knochen würden in der Sahara bleichen, in einem Granattrichter modern; ich würde in Lagern oder Zuchthäusern verschmachtet sein. Wer weiß, wer für mich eintrat, wo um Köpfe gehandelt wurde, wer für mich Akten fälschte oder verschwinden ließ. Man sagt: Freunde in der Not gehen hundert auf ein Lot. Aber einer genügt; ich habe gute Erfahrungen. Ob bei leichten Havarien, ob in schweren Katastrophen – es war immer einer da. Das kann kein Zufall sein.”

Dankbarkeit gegenüber dem eigenen Schutzengel

Greifbar wird die Gestalt des Schutzengels zum ersten Mal in den Jugenderinnerungen “Afrikanische Spiele” (1936): Sie beschreiben die Flucht des Schulversagers in das vermeintliche Abenteuer der Fremdenlegion. Zehn Mal hatte Ernst Jünger die Schule gewechselt. Der Knabe erfährt Dorotheas reale Gegenwart in der Betrachtung des Schönen in der Natur und in der Kunst, aber auch als warnende innere Stimme oder Impuls von außen in Augenblicken der Gefahr. Ihre Anwesenheit beschreibt Jünger auch als eine körperlich spürbare “kurze, blitzartige Berührung”, bei der er “wie durch eine ausgestreckte Hand an den Schläfen berührt” wird: “Ich entsinne mich nunmehr an Einzelheiten, wie etwa die, dass ich mit vierzehn Jahren eine leidenschaftliche Jagd auf Schmetterlinge zu treiben begann. Zu dieser Zeit begegnete es mir häufig, dass mir auf Blütentrauben und Dolden eine neue Form ins Auge fiel, und jedes Mal war ich überrascht und tief erheitert wie durch den Einfall eines Geistes von höchst erfinderischer Kraft. In solchen Augenblicken fühlte ich Dorothea ganz nahe, und ich zögerte noch eine kurze, köstliche Weile, ehe ich die Beute ergriff. Diese kurze, blitzartige Berührung war aber nicht die einzige, die mich mit Dorothea verband. Ich fühlte ihre Nähe auch, wenn ich mich wie hier auf dieser Landstraße im Zweifel befand. Wenn ich, wie eben jetzt, den Entschluss fasste, einfach vorwärts zu gehen, so wusste ich, dass Dorothea ihn verstand, und ich fühlte ihre Zustimmung wie einen elektrischen Funken, der überspringt, oder wie ein Signal, das in der Ferne erklingt. Ich war also nicht ohne Mittel, denn Dorothea gehörte zu meinem Eigentum. Ihr Traumbild sollte sich als wertvoller erweisen, als ich vermutete.”

Der Revolver, den Jünger bei einem Trödler gekauft hatte, war auch für seinen neuen Besitzer eine gefährliche Waffe. Dorothea ermahnt ihn daher: “Wirf den Revolver ins Meer – der Trödler hat dir eine Waffe mit zerbrochener Sicherung verkauft!” Eine letzte Begegnung mit Dorothea findet vor der Rückkehr ins Vaterhaus statt. Jünger verbringt die kalte Winternacht in einer schlichten Absteige. Es ist Vollmond. Aus dem ersten Schlummer erwacht der Träumer und sieht die Kammer seltsam verwandelt: “Das Schneetreiben hatte aufgehört, und draußen schien ein blendender Vollmond auf die weißen, spitzgiebligen Dächer, von denen der Hinterhof umschlossen war. Sein kalter Widerschein erfüllte den Raum mit einem blauen, glasigen Licht. Kaum erstaunte ich, als ich in diesem spinnenden Glanze eine Figur erblickte, die am geöffneten Fenster stand. Obwohl ihr Gesicht mir abgewandt war, erkannte ich Dorothea; sie blickte schweigend auf den Hof hinaus.” Und er ergänzt: “Von einem Gefühl der Neugier ergriffen, stand ich leise auf und trat mit angehaltenem Atem hinter sie, um über ihre linke Schulter zu sehen. Der Schnee, der sich im Fensterrahmen wie eine Leinwand spannte, rief eine zweite und stärkere Müdigkeit hervor. Ich schloss die Lider für einen Augenblick; dann begann ich Dorothea sowohl nach vergangenen als auch nach zukünftigen Dingen auszufragen, und sie antwortete in kurzen Sätzen, von denen manche mir in Erinnerung geblieben sind.”

Für Ernst Jünger erwies sich sein Wegbegleiter als ein wahres “Gottesgeschenk”

Am Hochfest der Maria Immaculata 1941 notiert Ernst Jünger in sein erstes “Pariser Tagebuch”: “Im Traume fühlte ich, wie Dorothea, aus alten Kinderzeiten wiederkehrend, mich anflog und mit ganz zarten schlanken Fingerspitzen abtastete. Sie zog zuerst die Hände nach, jeden Finger einzeln, besonders dort, wo die Nägel ansetzen. Dann nahm sie Teile des Gesichtes auf, die Augenlider, die Augenwinkel, die Jochbögen.” In der Kunst werden Engel mit weiblichen Zügen dargestellt. Sie deuten nicht auf ein erotisches oder gar sexuelles Verhältnis, sondern sind Ausdruck von Innigkeit und Fürsorge. Das Dorothea-Erlebnis im dritten Kriegsjahr bildet eine Zäsur. Wie einem Sterbenden legt Dorothea ihre Hand auf Ernst Jüngers Stirn und flüstert: “Mein armer Freund, mit der Freiheit ist es vorbei.”

Vom Taufschein-Protestanten zum Katholiken

In den Pariser Jahren während des Zweiten Weltkriegs liest Ernst Jünger zwei Mal die Lutherbibel vollständig durch und kommentiert einzelne Sprüche und Perikopen. Als ich vor vier Jahrzehnten mit der Dokumentation von Engelerfahrungen begann, stieß ich auf eine Eintragung zu jenem berühmten Kampf mit dem Engel (Genesis 32), den Jakob am Fluss Jabbok durchsteht. Das Ringen währt die ganze Nacht. Mit dem Anbruch der Morgenröte gibt sich der Engel besiegt und fordert seine Freilassung aus der Umklammerung. Jakob gewährt sie ihm, doch fordert er den Segen seines Engels. Er wird ihm zuteil, doch zugleich erhält er einen gewaltigen Schlag gegen die Hüfte, sodass er für seine Restlebenszeit hinken muss. Der Erwählte ist zugleich der Gezeichnete. Künstler aller Zeiten haben in diesem Engelkampf ein Bild ihres eigenen Ringens um Ausdruck ihrer Berufung gesehen.

Ich hatte mir Jüngers Kommentar zu der berühmten Stelle notiert und bat ihn, dieses Zitat als Widmung für meinen Sohn Jaakob Elias Wolff in die Bildbiographie von Heimo Schwilk zu schreiben. Das war am 10. Dezember 1988. Jaakob mit doppeltem “a” hätte ich von Thomas Manns Schreibweise in seinem Roman “Joseph und seine Brüder” übernommen. Die Erklärung interessierte Jünger nicht. Dann nahm Jüngers Frau, das “Stierlein”, meinen Zettel und diktierte ihrem Mann jene berühmte Tagebucheintragung vom 23. Dezember 1944: “Wir müssen uns in unserer Eigenschaft als Rationalisten überwinden lassen, und dieser Ringkampf findet heute statt. Gott tritt den Gegenbeweis gegen uns an.” Ernst Jünger schraubte die Kappe auf den Füller mit schwarzer Tinte und legte ihn beiseite. “Das ist gut!”, sagte er. Er war nicht der Mann, mit dem der Besucher über religiöse Erfahrungen und Engel sprechen konnte. Was er zu sagen hatte oder sagen wollte, war in seinen Büchern nachzulesen. So zeigte sich selbst der innerste Kreis seiner Vertrauten von Jüngers späterer Konversion zum Katholizismus im Jahr 1997 im Alter von 101 Jahren überrascht.

Die Gegenwart des Schutzengels gehört zu den prägenden Erfahrungen in seinem über hundert Jahre dauernden Leben. Sie erfüllte seine späten Jahre mit einem Gefühl großer Dankbarkeit. Diese Dankbarkeit schließt alle Erfahrungen des Lebens ein. Dass sie im berühmtesten Gebet der Christenheit fehlt, war ihm den Kommentar wert: Das Vaterunser enthalte nur Bitten, aber keinen Dank.

Bis zum Ende mit Dorothea und noch weiter

Jünger hatte zeitlebens an einer Sammlung mit Sprüchen Sterbender gearbeitet. Von ihm selbst ist kein letztes Wort überliefert. Doch wissen wir aus seinem nächsten Umkreis, dass ihn bis zum Schluss schreckliche Alpträume geplagt haben. Nicht von den Erlebnissen des Ersten Weltkrieges, in dem er achtzehn Mal verwundet wurde, sondern von der Schule. Damals am Steinhuder Meer erschien Dorothea zum ersten Mal. Ob sie ihn noch einmal in Wilflingen besuchte und die Hand auf die Stirn gelegt hatte, wissen wir nicht. Da Schutzengel aber über den Tod hinaus treu sind, spricht alles für diese letzte Begegnung, die keine gefährliche mehr war.

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