Wachet auf!
In der Brutalität des Alltags feiern Christen an Weihnachten die “wirkliche Wirklichkeit”. Gott selbst kommt nicht im Wohlfühlmodus sondern im Elend
Quelle
Vatikan enthüllt Krippe zu Ehren des Heiligen Franziskus von Assisi (catholicnewsagency.com)
22.12.2023
Heute morgen bin ich aufgewacht – und mich überfiel die Welt: Frierende, zitternde Menschen in zerschossenen Wohnsilos, zerfetzte Leiber auf Schlachtfeldern, Tränen der Mütter im Nahen Osten. Dazu privates Leid in der Nähe: Hier Long Covid, da ein Gehirntumor, dort eine Ehe, die auseinanderkracht und um die Ecke ein lieber Mensch, der in Depression versinkt. Wie kann ein fühlendes Wesen die ganze Realität, die Brutalität des Alltags, die wirkliche Wirklichkeit, ertragen, ohne von ihr verschluckt zu werden?
Manche saufen oder koksen sich die Welt schön. Andere schauen keine Nachrichten mehr (ich gebe zu, dieser Versuchung manchmal zu erliegen). Oder sie härten sich durch die Glotze ab, schauen sich beim Glühwein immer neue Mord- und Totschlagfantasien an, – ein perverser Modus der Tröstung: Mich betrifft das Schlimme ja nicht. Bin weder Täter noch Opfer. Sitze im Warmen. Mir geht es gut. Ich habe die nötige Bettschwere, um die Welt für ein paar Stunden Welt sein zu lassen.
Ein ganz kleiner Gott
Nun sind wir Christen. Kann sich Weihnachten nur noch im Nebengelass der Wirklichkeit ereignen, schalldicht isoliert von allen Detonationen, beseligt von Süßkram und besoffen von uns selbst? Es wäre die christliche Variante zum allgemeinen Selbstbetrug, mit dem man das eigentliche Menschliche, nämlich das Mitleid, ausblendet, sich rosarote Brillen aufsetzt und sich in einen Wohlfühlmodus zurückzieht.
In dieser Mitternacht der Gefühle erreicht mich das wunderbare Kirchenlied “Wachet auf!” des Hamburger Hauptpastors Philipp Nicolai von 1599. Da ist die finstere Mitternacht die Nacht der Wenigen, denen das Öl der Hoffnung nicht ausgegangen ist. Ich erinnere mich, dass mir einmal jemand sagte: Gott findest du nicht indem du vor der Wirklichkeit fliehst. Wach auf! Dreh dich um! Schau hin! Wende dich der Wirklichkeit zu. Hinter der Wirklichkeit ist noch eine Wirklichkeit. Und noch eine. Und noch eine. Gott ist nämlich die “wirklichste Wirklichkeit”. Und er ist Liebe, auch wenn dir dein Vordergrund das Gegenteil ins Gesicht schreit. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Könnte es sein, dass wir gerade mit unseren Wirklichkeitsabsenzen den lichterblinkenden “Freudensaal” verfehlen, das Fest verpassen, dass der Herr für die Leute mit den Lampen und dem Öl vorgesehen: “Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat mehr gehört – solche Freude!”
Und plötzlich sind wir mitten in dem, was das Christliche am Christlichen ist: dass Gott eben nicht im Wohlfühlmodus geblieben ist, sondern sich dem Elend unserer menschlichen Wirklichkeit aussetzte, um uns erkalteten Realisten seine rettende Nähe zu erweisen. Wie ließ Jean-Paul Sartre in einem Krippenspiel von 1941 die Maria sagen? “Dieser Gott ist mein Kind. Dieses göttliche Fleisch ist mein Fleisch. Er ist aus mir gemacht, er hat meine Augen, und diese Form seines Mundes ist auch die Form von meinem … Und keine Frau hat ihren Gott derart für sich allein gehabt. Einen ganz kleinen Gott, den man in den Arm nehmen kann und mit Küssen bedecken, einen ganz warmen Gott, der lächelt und atmet, einen Gott, den man berühren kann und der lebt.”
Der Autor ist Initiator des Jugendkatechismus “Youcat“.
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