Am Sabbat kam der Terror

Seit dem Wochenende muss sich Israel gegen die größte Angriffswelle seit Jahrzehnten wehren. Doch Fassungslosigkeit ist nicht nur aufgrund des Vorgehens der Hamas angesagt

Quelle

09.10.2023

Stefan Ahrens

Es ist eine Kriegserklärung ohnegleichen: 50 Jahre nach dem Beginn des Jom-Kippur-Kriegs am 6. Oktober 1973 hat die palästinensische Terrororganisation Hamas am vergangenen Samstagmorgen einen Großangriff auf Israel begonnen. Durch mehr als 2.200 Raketenangriffe aus dem Gazastreifen alleine am Samstag, die vor allem Tel Aviv sowie dem Süden des Landes galten, wurden Hunderte Menschen getötet und weitere Hunderte verletzt. Gleichzeitig drangen bewaffnete Palästinenser zu Lande, zu Wasser und aus der Luft nach Israel vor und verschleppten Dutzende Zivilisten und Soldaten.

Im Nahen Osten ist nun alles denkbar

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu erklärte umgehend den Kriegszustand und reagierte mit dem Beschuss militärischer Ziele der Hamas in Gaza. Doch mit der Bombardierung militärischer Ziele wird es Israel sicherlich nicht bewenden lassen – denn diese vollkommen präzedenzlose Terrorattacke der Hamas auf israelisches Staatsgebiet, die mittlerweile durch Raketenangriffe der pro-iranischen Hisbollah-Miliz aus dem Libanon flankiert wird, schreit geradezu nach einer Reaktion, wie sie die Gegner Israels noch nie gesehen haben.

Das Zuschlagen der Hamas, welches jenseits aller islamistisch motivierten antiisraelischen Eliminationsfantasien vor allem der sich immer stärker abzeichnenden Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien einen Riegel vorschieben will, wird trotz des großen Überraschungseffektes, den die Terroristen noch am Wochenende erzielen konnten, in doppelter Hinsicht nicht von Erfolg gekrönt sein: Zum einen, da es nicht auszuschließen ist, dass die ultranationalistische Regierung Netanjahus nun mehr ohne auf internationale Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen dazu bereit sein dürfte, im Gazastreifen tabula rasa zu machen und die Hamas endgültig zu zerschlagen – und zum anderen ist es zu erwarten, dass die von der Hamas erhoffte “bewaffnete Solidarität” der arabischen Nachbarstaaten mit den palästinensischen Extremisten ausbleiben wird.

Dennoch könnten die israelisch-arabischen Beziehungen im Falle eines massiven Vorgehens Israels in Gaza und anderswo einen vorrübergehenden Dämpfer erfahren sowie Wasser auf die Mühlen des im Hintergrund seine Fäden ziehenden Irans und der palästinensischen Sache verpflichteten und gewaltbereiten Araber in Nahost sein.

Wird Israel zu einem “House of Cards”?

So oder so überwiegt in Israel gegenwärtig die Fassungslosigkeit – und das nicht nur aufgrund des Vorgehens der Hamas. Denn – so fragt man sich in Jerusalem, Tel Aviv und anderswo: Wie konnte es geschehen, dass ein Land wie Israel, zu dessen Existenzsicherung auch der Nimbus schlagkräftiger, allzeit bereiter und bestens informierter Sicherheitskräfte gehört, anscheinend keinerlei Vorahnung hatte bezüglich des Hamas-Terrors vom vergangenen Sabbat?

Hier liegt es an der Regierung Netanjahu, frühzeitig für Transparenz zu sorgen – gerade auch um möglichen Verschwörungsmythen entgegenzutreten, die besagen, dass er und sein Kabinett um die Angriffe der Hamas wussten und diese billigend in Kauf nahmen, um sich mit der Erklärung des Kriegszustandes aufgrund der hochumstrittenen Justizreform Machtspielräume im gegenwärtig extrem gespaltenen Land zu erkämpfen.

Und so muss Benjamin Netanjahu neben der Verteidigung Israels gegen dessen Feinde nun beweisen, dass er kein Politiker wie der im Netflix-Serienhit “House of Cards” agierende skrupellose, von Kevin Spacey gespielte US-Präsident Frank Underwood ist, der auch schon einmal Kriege vom Zaun bricht, um sich an der Macht halten zu können – und man darf sich durchaus die Frage stellen, welches die schlimmere Erkenntnis wäre: Dass Israels Sicherheitskräfte tatsächlich blind gegenüber der Hamas-Bedrohung gewesen ist oder die Regierung Netanjahu Israel in ein “House of Cards” verwandelt hat.

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