Kain und Abel – Gigantische Missgunst

Warum eine Geschichte lesen, welche die gefühlte und erlebte Ungerechtigkeit der menschlichen Existenz einzementiert?

Quelle
Brudermord, Sintflut und ein Plan | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Die 5. Literaturtagung in Trumau | radio horeb Leben mit Gott … Kain und Abel in unserer Wirklichkeit

15.09.2023

Martin Ploderer

Der erste Mord in der Bibel, gleich zu Beginn, noch dazu ein Brudermord. Was hat er uns heute zu sagen? Der sogenannte “Sündenfall” erscheint im Vergleich dazu ja fast wie ein kleines Missgeschick, obwohl wir immer noch an dessen Folgen kauen. Na ja, die Verhältnisse in der Bibel sind nicht unbedingt metrisch.

Aber wie war das davor? Vor diesen beiden Opfern? Kain und Abel, die Söhne von Adam und Eva, hatten doch wohl ein Leben vor dem Drama: Der eine war Schafhirt, Abel, der jüngere, und der andere, Kain, der ältere Bruder, Ackerbauer. So war einer der beiden vielleicht eher sesshaft, der andere führte vielleicht ein eher nomadenhaftes Leben, dies scheint der Entwicklung der Menschheit zu entsprechen. Ab und zu versammelte man sich vielleicht zu der einen oder anderen Familienzusammenkunft, jedenfalls hat man sich über all die Jahre nicht aus den Augen verloren.

Das subjektive Gefühl von “Mehr” und “Weniger”

Die beiden dürften altersmäßig nicht weit auseinander gewesen sein und vielleicht wuchs die Eifersucht schon seit langem und ganz langsam und unmerklich im Verborgenen. Zwischen Geburt und dem biblischen Drama sind einige Jahre vergangen, die Kinder wuchsen mit ihren Eltern auf, arbeiteten und erlernten durch das Leben das Leben. Natürlich stolpert man bei dieser Betrachtung auf die eine oder andere Ungereimtheit. Wie sollte diese “Urfamilie” alleine existiert haben? Wenn es nicht auch andere Menschen gegeben hat, die die Früchte der Arbeit der beiden Söhne und ihrer Eltern konsumierten, dann wäre deren Tätigkeit irgendwie sinnlos gewesen, oder vielleicht nur so etwas wie eine Art “Beschäftigungstherapie”. Dann würde man aber auch nicht verstehen, weshalb es zu dieser gigantischen Missgunst kommen konnte, die Abel das Leben kostete, denn auch Neid braucht Bezugspunkte und das wenigstens subjektive Gefühl von “Mehr” und “Weniger”. Wie bei so vielen Geschichten in der Bibel kommt man aber auch dieser mit Logik nicht bei, zumindest nicht mit unserer Logik in unserer Zeit, und doch hat sie wohl auch uns noch immer einiges zu sagen.

Kain und Abel, zwei Seiten der selben Medaille? Ying und Yang? Gut und Böse? Schwarz und Weiß? Die Liste ließe sich wohl lange fortsetzen. Wann kommt endlich der Herr und löst diese Rätsel auf und erlöst uns aus diesem Dualismus, dem wir kaum entrinnen zu können scheinen? Übrigens ist hier keine Rede von etwaigen Schwestern der beiden, also Töchtern von Adam und Eva. Das ist auch gut so, denn sonst wäre die Deszendenz des Urelternpaares womöglich auf inzestuöse Verhältnisse zurückzuführen und das will wohl auch niemand. Wir müssen also davon ausgehen, dass uns die Bibel so manches verschweigt. Auch das ist zweifellos gottgewollt, denn wenn die gesamte Menschheitsgeschichte tatsächlich schon in diesem Buch der Bücher auf Punkt und Beistrich verzeichnet wäre, bräuchte sie wohl nicht mehr gelebt oder erlitten zu werden – zumindest in der Wahrnehmung, die uns heutige Menschen prägt.

Auch die Figuren der Bibel geben also keine endgültige und allumfassende Antwort auf die existenziellen Fragen des Menschen, aber, so denke ich, sie geben Hinweise auf die zahlreichen Geister und zuweilen auch Dämonen, die die Menschen schütteln und beuteln. Wenn wir uns Zeit nehmen und in die Stille gehen und vorbehaltlos unser eigenes Leben betrachten, dann mögen sich da und dort doch schon auch Parallelen zu diesen Geschichten finden. Natürlich wäre jeder von uns gerne Abel, aber schlummert nicht auch Kain in uns? Es ist gut, wenn er nur schlummert, doch zuweilen bricht er auch aus, auch dies lehrt die Geschichte. Selig, wer ihn in sich zu beherrschen weiß!

Das Geheimnis Gottes bleibt ein Geheimnis

Andererseits, wären wir wirklich lieber Abel als Kain? Schließlich verliert dieser ja durch die Hand seines Bruders sein Leben, an dem wir meistens doch bis zum letzten Augenblick hängen, weil wir ja doch nicht wirklich “wissen”, was uns “danach” erwartet. Das wusste auch schon Shakespeares Hamlet trefflich auszudrücken, wenn er in seinem weltberühmten Monolog, in dem er über “Sein” oder “Nicht sein” sinniert, festhält, “dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu Unbekanntem fliehen…”. Wir kommen nicht darum herum, es stellt sich die Frage nach der Ewigkeit und einer in eine Art von Unendlichkeit eingebettete menschliche Existenz, die unserem irdischen Treiben doch wohl erst wirklich Sinn zu geben vermag.

In dieser Geschichte von Kain und Abel überlebt das Opfer nicht und wird der Täter ein Leben lang durch ein Zeichen Gottes vor einem Attentat geschützt. Da stellt sich dann doch die Frage, wer von beiden das “bessere Los” gezogen hat und keine wie auch immer geartete menschliche Vorstellung von Gerechtigkeit findet hier eine Antwort. Heißt es aber nicht auch “Im Tod ist das Leben“? Wozu dann überhaupt noch leben, leiden, streben und wonach? Das Geheimnis Gottes ist das Geheimnis Gottes und muss es wohl bleiben.

Geschichten sprechen uns besonders an, wenn sie in der einen oder anderen Art ein Echo in unserem Leben finden. Aufgrund so mancher Wiedererkennungsmerkmale, die nicht selten mit den ersten Lebenserfahrungen in Kindheit und Jugend zusammenhängen, als wir noch von vielen Impulsen gesteuert wurden, die nicht unbedingt auf so etwas wie einen eigenen Willen zurückzuführen waren, erhoffen wir vielleicht Ansätze zu einer Lösung tief verknoteter Fragen und Probleme im Hier und Jetzt. Wohl noch nie schwirrten so viele mehr oder weniger nachvollziehbare Lösungsangebote für Menschen auf der Suche nach ihrem eigenen Weg in Gestalt von Workshops, Lehrgängen und “neuen Methoden” durch den Äther und die Seminarräume wie heute, von denen keines das angepeilte Ziel jemals wirklich erreicht, weil eines jeden Menschen Weg eben einzigartig ist und nicht großflächig von außen und von oben herab erklärt werden kann, sondern nur an Hand eines möglichst scharfen Bewusstseins für die inneren Vorgänge der eigenen Seele.

Wie? Kain soll in unserem eigenen Leben einen Widerhall finden? Überhaupt, dieses “Alte Testament” ist doch voll von Mord und Totschlag, mit dem wir nicht wirklich etwas zu tun haben wollen! Und dann ist da auch noch dieser geheimnisvolle, unbegreifliche Gott, der sich anmaßt, das eine Opfer anzunehmen und das andere zu verwerfen, ohne dass dies für uns Heutige irgendwie nachzuvollziehen wäre. Reine Willkür, würde so mancher sagen. Oder: “So ist eben das Leben…”

Was wir nicht gleich verstehen, fordert uns heraus

Wozu dann das Ganze? Wozu eine Geschichte erzählen, die die gefühlte und erlebte Ungerechtigkeit der menschlichen Existenz noch quasi einzementiert? Ich glaube, wir können die handelnden Personen der biblischen Geschichten nicht von einem moralischen Standpunkt aus verstehen. Wenn überhaupt, dann sagen sie uns etwas anderes: schau Dich selber an, vergleiche Dein Verhalten, erkenne die Parallelen, die Analogien und ziehe Konsequenzen. Du bist nicht genau so wie diese Menschen, aber sie haben vieles in sich, das Du von Dir selber kennst, in anderen Farben, in anderen Dekorationen, aber in der Essenz sind sie eben Menschen im eigentlichen Sinne, so wie Du, also bist Du wohl auch so ein biblischer Mensch. Ich muss kein physischer Mörder sein, um zu erkennen, dass ich so manche Dinge nur sehr halbherzig tue, vor allem, wenn sie für Gott bestimmt sind und ich keinerlei Anerkennung von Menschen zu erwarten habe. Ich weiß zwar, dass Gott alles weiß und alles sieht, und doch mache ich Kompromisse, rechne mit Seiner Langmut und Seinem Verständnis für mich unbegabten Wurm, den Er so unvollständig und fehlerhaft erschaffen hat. Wenn Er doch ohnedies aus nicht weiter nachvollziehbaren Gründen den anderen bevorzugt und meine Bemühungen unbeachtet lässt, wozu soll ich mich dann anstrengen?

Wenn im Leben alles glatt zu gehen scheint, dann lauert eine andere Gefahr auf uns, jene des Einschlafens. Was wir nicht gleich verstehen, das fordert uns heraus, wir beginnen zu suchen, zu erklären, vielleicht zu rechtfertigen, obwohl wir kaum noch auf Verständnis und Barmherzigkeit durch Menschen zählen können. Wenn es uns aber gelingt, trotz aller subjektiv wahrgenommener Wahrscheinlichkeit, dass es da eben doch nichts mehr gibt, trotz aller Widrigkeiten, die die Existenz Gottes mehr als zweifelhaft erscheinen lassen, auch gegen jede menschliche Vernunft an diesem Schöpfergott festzuhalten, einfach, weil unser Herz nicht bereit ist, die absolute Leere an dessen Stelle zu setzen, dann dürfen wir uns auf so etwas wie ein Wunder gefasst machen, denn dann geschieht eben etwas anderes, als nur der logische Ablauf von Ursache und Wirkung.

Vielleicht hat Abel sich in einer Art blindem Vertrauen genau darauf eingelassen, hat keine Forderung an Gott gestellt, keine Erwartungshaltung gezeigt, sondern einfach dem Gebot gehorcht, weil Gott nun einmal Gott ist und es schon seinen Sinn haben wird. Abel hat schuldlos sein irdisches Leben verloren und er hat wohl auch nicht auf Kains Opfer geschielt. Wir sind vielleicht geneigt, anzunehmen, dass Abel sofort in die ewige Herrlichkeit aufgenommen wurde, während Kain durch Gott vor Verfolgern geschützt und zum Stammvater einer großen Nachkommenschaft wurde. Logisch ist das alles in unseren Augen wohl nicht, aber entspricht nicht genau das unserer Wahrnehmung des Lebens? Könnte es daher nicht auch so etwas wie eine Berufungsgeschichte für uns alle sein?

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Hier kostenlos erhalten!

Themen & Autoren

Martin Ploderer
Altes Testament
Ungerechtigkeiten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel