“Schwarzbuch Putin”: Unverzichtbare Aufklärungslektüre

Für wirkliche Putin-Versteher und solche, die es werden wollen: Das “Schwarzbuch Putin” ist eine unverzichtbare, erhellende Aufklärungslektüre

Quelle
Zerbrochene Einheit
Neues aus  “Moskovien”?
Das Schwarzbuch des Kommunismus – Wikipedia
Putin – der neue Zar: Seine Politik – Sein Russland

Aktualisiert am 03.05.2023

Stephan Baier

Mit dem unter seiner Führung edierten, in 27 Sprachen erschienenen “Schwarzbuch des Kommunismus” hat der französische Historiker Stéphane Courtois vor einem Vierteljahrhundert Furore gemacht. Nach diesem dringend notwendigen, nach wie vor empfehlenswerten geschichtswissenschaftlichen Beitrag zur Aufklärung und Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen hat er nun gemeinsam mit der Osteuropa-Historikerin Galia Ackerman einen Beitrag zum Verständnis der russischen Gegenwart vorgelegt. Das “Schwarzbuch Putin“ liefert jene Hintergründe und Informationen, die der unvoreingenommene Beobachter braucht, um die Motive und Ziele Wladimir Putins einordnen und das von Putin errichtete Herrschaftssystem beurteilen zu können.

Postkommunistisches Russland ist eine destruktive Macht geworden

Anders als die voluminöse Biografie von Steven Lee Myers, “Putin. Der neue Zar”, ist das vorliegende Werk durch die Vielfalt seiner Autoren und die klare Systematik weniger biografisch angelegt, dafür umso stärker in der politischen Analyse. Den Autoren ist das Kunststück gelungen, profunde Hintergrundinformationen mit hellsichtigen Gegenwartsanalysen zu verbinden. Was Putin antreibt und bewegt, wie seine Macht gebaut und abgesichert wurde, warum er die Ukraine überfiel und auch für andere Nachbarn Russlands eine Gefahr darstellt, wie er die russische Orthodoxie und den tschetschenischen Islamismus instrumentalisiert: all dies wird hier fast ohne Polemik, dafür mit zahlreichen Belegen und überzeugenden Argumenten dargelegt.

Manches liest sich so aktuell wie der Leitartikel einer guten Tageszeitung, etwa wenn die Herausgeber schreiben: “In nur 22 Jahren hat sich das sogenannte postkommunistische Russland unter Putin in eine destruktive Macht verwandelt, deren wichtigster Exportartikel die Angst ist.” Mit der Angst des Westens vor einem Atomkrieg versuche Moskau “seinen imperialistischen Krieg zu gewinnen”. Die Eroberung der Ukraine sei “zu einer wahren Obsession Putins” geworden. Darum wurde die Invasion im eigenen Land von langer Hand vorbereitet, wie Ackerman darlegt: “Die Mobilisierung des Bewusstseins und die Militarisierung der Gesellschaft, diese messianische Vorstellung des Heiligen Krieges, den die Russen führen müssen, wird der Gesellschaft selbstredend von einem Heer gut bezahlter und höchst effizienter Propagandisten eingeimpft.”

Russland sieht sich im Belagerungszustand

Die Historikerin und UdSSR-Expertin Cécile Vaissié zeigt die Propaganda-Tools des russischen Präsidenten, die Methoden des Cyberkrieges und die gezielten Investitionen Moskaus im Westen. Dass unter den britischen Lords, europäischen Parteichefs, westlichen Ministern und Ex-Regierungschefs, die mit russischen Aufsichtsratsposten und anderen gut dotierten Mandaten in Putin-Nähe auch ein deutscher Ex-Bundeskanzler genannt wird, wird wohl keinen Leser überraschen.

Mehrere Autoren zeigen die anti-ukrainischen Narrative der russischen Propaganda, die systematische Kriegshetze und die Verleumdung politischer Entscheidungsträger. Sie verweisen auf den im Auftrag (und in Sichtweite) des Kreml ermordeten russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow, der geschildert hatte, „wie Russland sich in der Geisteshaltung eines Belagerungszustands einkapsele und von einem revanchistischen und militaristischen Nationalismus angetrieben werde, der auf Lügen und Unterdrückung beruhe”. Fast alle Beiträge zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur behaupten, sondern belegen: Faktenreich wird die Verwandlung Russlands unter Wladimir Putin offengelegt.

Dazu gehören ganz wesentlich die bewaffneten Kräfte aus Geheimdiensten und Militär (die Silowiki), die mit Großkriminellen verbunden sind und dem Kreml dienen, die an Putins kurzer Leine geführten Oligarchen, die endemische Korruption und die verdeckten oder offenen Militäroperationen in mehreren Nachbarländern. An detaillierten Schilderungen des Vorgehens gegen Tschetschenien (ab 1999) und Georgien (2008) wird klar, dass Putin Lüge, Desinformation, Gewalt und Krieg für legitime Mittel hält, um seine innen- wie außenpolitischen Ziele zu erreichen. Die von Militarisierung der Gesellschaft und jahrelanger Hasspropaganda vorbereitete Invasion der Ukraine liegt auf dieser Linie.

Mehrere Texte des vorliegenden Werks zeigen, wie Putin die Sowjetnostalgie mit der panslawistischen und imperialistischen These, dass Russland als das “Dritte Rom” eine natürliche Vorherrschaft und Führerschaft beanspruchen dürfe, verbindet. In dieser Propaganda spielt auch Patriarch Kyrill – der als KGB-Mitarbeiter mit den Tarnnamen “Michailow” ja eine Art Kollege des heutigen Präsidenten war – seine Rolle. Kyrill und Putin teilen nicht nur, wie hier gut belegt wird, eine Obsession für die Ukraine, deren Hauptstadt “die Wiege der russischen Orthodoxie” sei, wie Patriarch Kyrill immer wieder sagt, sondern auch den Hang zu Privilegien, Macht und Reichtum. “Kyrill besitzt mehrere Luxuswohnungen in Moskau und Sankt Petersburg, Immobilien an der Schwarzmeerküste, Luxusautos, Privatjachten und -flugzeuge”, so die Herausgeber. Dramatischer ist, wie Kyrill die russische Orthodoxie zum Instrument der Kriegspropaganda und der Resowjetisierung, beginnend mit der Rehabilitierung Lenins und Stalins, gemacht hat.

Russische Orthodoxie mit heidnischen Zügen

Der Historiker Antoine Arjakowsky schreibt über Kyrill: “Er förderte eine neue Religion mit stark heidnischen Zügen und pries (…) einen Kult der Stärke.” Für Putin wurde die russische Orthodoxie überaus nützlich, “als einzige russische Institution, die noch die gesamte ehemalige UdSSR abdeckt” und als “Plattform, um die Macht des russischen Staates wiederherzustellen”. Putin habe Kyrill ausdrücklich zu dem Treffen mit Papst Franziskus auf Kuba im Jahr 2016 ermutigt, “um der Weltöffentlichkeit weiszumachen, dass es sich beim Ukrainekonflikt lediglich um einen Bürgerkrieg handelte”.

Putin strebe nach der “Wiederherstellung der geopolitischen Größe der UdSSR, unter kompletter Leugnung der historischen Niederlage des Kommunismus”, schreiben die Herausgeber. “Er stützt sich dabei auf eine ultranationalistische Geopolitik der Einflusszonen, die vorsieht, dass nur bestimmte Länder, wie Russland, wirklich souverän sind.” Und er verfolge die “Fantasievorstellung von der Einheit der russischen und ukrainischen ‘Brüder’ und ‘Brudervölker'”. Die Herausgeber plädieren für eine harte Bestrafung des Aggressors, denn nur eine solche Bestrafung werde die Russen zur Besinnung bringen.

Mit denen, die Lenin einst als “nützliche Idioten” bezeichnete, beschäftigen sich mehrere Beiträge des vorliegenden Sammelbandes. Das primäre Ziel der Propaganda sei es, “Verwirrung und Aufruhr innerhalb von Demokratien zu säen und den Äußerungen von Protestbewegungen Nachhall zu verleihen”, schreibt der französische Politik-Analyst Nicolas Tenzer. Moskau unterstütze im Westen gezielt “systemfeindliche Gruppierungen”, ja Putin versuche, “ihm feindlich gesonnene Regierungen zu stürzen”.

Der ukrainische Politologe Mykola Rjabtschuk und die Historikerin Iryna Dmytryschyn skizzieren die ideologischen und mythologischen Hintergründe des Vorgehens gegen die Ukraine, schildern die imperialistische und innerhalb Russlands zunehmend totalitäre Politik Putins. Sie schälen aber auch den rationalen Kern der Destabilisierungspolitik heraus, indem sie darauf verweisen, dass die Ukraine trotz “turbulenter und instabiler Verhältnisse” immer eine Demokratie war. Genau deshalb versuchte Putin die Ukraine zu verleumden und scheitern zu lassen: “Da er den postsowjetischen Raum stets als seine ‘legitime Einflusssphäre’ ansah, hatte der Kremlchef gute Gründe, die Demokratie in diesem Raum ebenso zu fürchten wie in Russland selbst.”

Stéphane Courtois, Galia Ackerman (Hr.): “Schwarzbuch Putin”. Piper Verlag, München 2023, ISBN 978-3- 492-07098-0, 504 Seiten, EUR 26,-

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Hier kostenlos erhalten!

Themen & Autoren

Stephan Baier
Herausgeber
Josef Stalin
Papst Franziskus
Russische Regierung
Wladimir I. Lenin
Wladimir Wladimirowitsch Putin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel