“Wird man erneut so naiv sein?”
Der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk warnt im “Tagespost”-Interview vor einem schmutzigen Deal mit Putin
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Herr Melnyk, hat Wladimir Putin mit seinem einjährigen Krieg gegen die Ukraine das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte? Jetzt plötzlich steht die Ukraine im Mittelpunkt des weltweiten Interesses.
In Europa wollte keiner glauben, dass die Russen uns wieder in dieser diabolischen Dimension angreifen. In den politischen Kreisen Berlins weigerte man sich ganz besonders, wahrzuhaben, dass Russland danach trachtet, die Ukraine als Staat und europäische Kulturnation auszulöschen. Heute sehen wir zumindest, dass eine Mehrheit der Europäer Sympathie für die Ukraine hat und auch bereit ist, uns zu helfen.
Die größte Nation Europas, die deutsche, ist erwacht und stellt vieles auf den Prüfstand. Die Frage ist, was nach dem Krieg geschieht. Wird man dann gegenüber Russland erneut so naiv sein und Brücken nach Moskau schlagen? Diese Sorge bleibt.
Wird die westliche Solidarität für die Dauer des Kriegs halten? Oder fürchten Sie, dass die Entscheidungsträger in Washington, Brüssel, Paris und London irgendwann einen schmutzigen Deal auf Kosten Kiews mit Moskau machen.
Diese Gefahr sehe ich nach wie vor. Wir hören zwar, dass fast gebetsmühlenartig gesagt wird, die Hilfe werde solange gegeben wie wir sie brauchen. Dafür sind wir dankbar! Aber wird das auch gelten, wenn der Krieg noch ein, zwei oder gar mehrere Jahre andauert? Es wird der Druck auf die deutsche Politik wachsen, uns irgendwie doch ganz milde zu Verhandlungen zu zwingen. Der Westen wäre dazu auch in der Lage, weil wir militärisch von den Waffenlieferungen abhängig sind. Wir verschießen am Tag mehr Munition als manche Länder im Westen im Jahr produzieren. Der Wille der Ukrainer, sich weiterhin zu verteidigen, wird stark bleiben, komme was wolle, denn wir haben gar keine andere Wahl. Wenn wir aufhören zu kämpfen, dann verlieren wir nicht nur die Gebiete, die bereits besetzt sind, sondern unsere Existenz als souveräner Staat steht auf dem Spiel. Sollte Moskau eine krachende Niederlage erspart bleiben, wird Russland in einigen Jahren ganz bestimmt erneut angreift. Denn der Wille, uns zu vernichten, bleibt in der russischen Gesellschaft bestehen.
“Sollte Moskau eine krachende Niederlage erspart bleiben, wird Russland in einigen Jahren ganz bestimmt erneut angreift”
Muss Putin also nur auf den Faktor Zeit setzen?
Das tut er schon längst. Putin kann noch zwei, drei, vielleicht auch zehn Jahre lang Menschen mobilisieren und ermorden lassen. Er hat genug Leute und genug Munition, seine Wirtschaft produziert bereits im Kriegsmodus. Die Sanktionen tun Russland weh, aber sie haben das Rückgrat seiner Wirtschaft nicht gebrochen. Putin hat alle Zeit der Welt.
Hat er wirklich alle Zeit der Welt oder spielen sich hinter den Kremlmauern bereits Machtkämpfe ab? Wenn der Chef der “Wagner“-Miliz, Jewgeni Prigoschin, jetzt den russischen Verteidigungsminister und die Militärführung öffentlich beschimpfen kann, verschieben sich doch sichtbar die Gewichte?
Da bin ich sehr skeptisch. Ich glaube weder an einen bevorstehenden Putsch in Moskau noch an den schnellen Machtverlust Putins. Er hat sich auf diesen Krieg viel zu lange vorbereitet. Die Russen sind schweigsam, nicht nur im eigenen Land, sondern sogar im Ausland. Wir haben in Berlin nicht eine einzige Demonstration der dort lebenden Russen gegen Putin gesehen. Als Machthaber hat er diese interne Konkurrenz selbst geschaffen: Prigoschin ist nur dazu da, um das Militär herauszufordern und bloßzustellen. Es läuft für Putin eigentlich nach Plan – wenn auch nicht so schnell, wie er wollte. Er hat tausende Panzer und Flugzeuge, und Millionen Menschen, die mobilisiert werden können.
Wenn Russland den Krieg nicht verlieren kann, wäre dann eine Kompromisslösung das Beste für die Ukraine? Manche im Westen argumentieren so.
Es ist nicht auszuschließen, dass man uns zu einem Kompromiss zwingen wird. Schon heute bereiten Intellektuelle wie Habermas eifrig den Boden vor. Das wäre für uns eine Katastrophe. Denn egal, wieviel die Russen dadurch bekämen, würden sie auf jeden Fall auf Rache sinnen. Das Ziel Moskaus ist und bleibt, die unabhängige Ukraine zu vernichten. Der Kreml bezeichnet die Ukraine als künstliches Produkt, das angeblich vom Westen erschaffen wurde und gegen die russische Idee gerichtet ist. Das ist der Kern des Problems: Egal, welche Kompromisse geschlossen werden könnten, wird das keinen stabilen Frieden bringen. Ich hoffe, dass sich die Verantwortlichen im Westen dessen bewusst sind. Wenn Putin an der Macht bleibt und sich in der russischen Gesellschaft nicht Grundlegendes ändert, dann gibt es keine Stabilität, keine friedliche Zukunft Europas. Wer garantiert, dass ein Deal, den Putin unterschreibt, nicht bald wieder gebrochen wird?
“Wenn Putin an der Macht bleibt und sich in der russischen Gesellschaft nicht Grundlegendes ändert, dann gibt es keine Stabilität, keine friedliche Zukunft Europas”
Glaubt Putin tatsächlich an die mythologische Idee der “russischen Welt” oder ist er ein zynischer Machtmensch, der die Ukraine scheitern lassen möchte, damit seine Russen nicht auf die Idee kommen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wären doch auch bei ihnen denkbar?
Beides! Er will die Ukraine als künstlichen, dysfunktionalen Staat darstellen. Darum verbreitet er Lügen und Unsicherheit. Tatsächlich haben bereits Millionen Menschen unser Land verlassen. Ob sie alle heimkehren werden, steht in den Sternen. Wer will angesichts des Krieges in Kiew investieren, eine Fabrik bauen oder eine Wohnung kaufen? Putin will das Gefühl verbreiten, dass dieses Land keine Zukunft hat, weil niemand weiß, was morgen geschieht. Wie man Angst verbreitet, weiß er als KGB-Mann sehr genau. Aber er ist auch ein Ideologe ohne moralische Hemmungen, denn ohne seine Wahnvorstellung gäbe es diesen Krieg nicht: Er sieht uns nicht als Menschen, die unabhängig über ihr Schicksal entscheiden dürfen. Er agiert sowohl ideologisch wie auch machtpolitisch. In seiner Ideologie des ewigen russischen Reiches ist es egal, wie viele Menschen geopfert werden, denn russische Mütter werden neue Söhne gebären.
Warum also sollte der Westen keinen schmutzigen Deal mit Putin machen?
Weil Putin morgen beispielsweise Estland auslöschen könnte. Ich traue ihm alles zu.
Ein NATO-Mitgliedsland anzugreifen, wäre suizidal.
Ja, gewiss. Aber vor dem Krieg waren in Deutschland nur 20 Prozent bereit, für ein baltisches Land in den Krieg zu ziehen, sollte es angegriffen werden. Ob das heute anders wäre? Auch beim Angriff auf einen NATO-Staat würde der Westen eine atomare Option um jeden Preis vermeiden, weil das das Ende der Zivilisation wäre. Also müsste man den Krieg doch mit konventionellen Waffen führen. Natürlich ist die NATO-Mitgliedschaft der einzige Grund, weshalb Estland, Lettland oder Litauen sich sicher fühlen können. Auch uns Ukrainer hätte eine NATO-Mitgliedschaft bestimmt vor diesem Angriffskrieg geschützt. Ich glaube nicht, dass Putin in diesem Krieg Atomwaffen einsetzt. Das wäre die letzte rote Linie, die überschritten würde. Aber der Gedanke, dass man sich auf einen großen konventionellen Krieg vorbereiten muss, ist in Deutschland fremd.
“Ich glaube nicht, dass Putin in diesem Krieg Atomwaffen einsetzt. Das wäre die letzte rote Linie, die überschritten würde”
Vor einem Jahr bat Kiew die NATO, den ukrainischen Luftraum militärisch zu sichern. Das wollte damals niemand, um nicht in den Krieg hineingezogen zu werden. War das ein Fehler?
Ja. Man hätte uns sofort die Kampfjets zur Verfügung stellen können, aber alle dachten, die Ukraine würde keine Woche überleben. Warum sollte man für einen Staat, der von Russland verschlungen wird, einen Weltkrieg riskieren? Auch ein Jahr später lähmt diese panische Angst die Entscheidungsträger. Obwohl die “Zeitenwende” im Gange ist, sagen viele noch immer, man wolle Wladimir Putin nicht provozieren. Jeder Militärexperte weiß, dass die Lieferung von Kampfjets der Ukraine entscheidend helfen würde.
Putin erreicht mit unterschiedlichen Narrativen im Westen unterschiedliche Zielgruppen. Und das trotz offensichtlicher Widersprüche.
Seine Erzählung kommt bei Links- und Rechtsextremen gut an. Aber ich musste auch mit Teilen der evangelischen Kirche streiten, weil sie bis heute zwar die Aggression verurteilen, aber zugleich Russland mystifizieren. Für viele Deutsche ist die russische Geschichte auch ein Teil ihrer eigenen Geschichte. Putin setzt auf diese Karten: auf die deutschen Schuldgefühle und die Bewunderung für die russische Kultur. Leider haben wir Ukrainer praktisch nichts getan, um unsere eigene Kultur zu fördern und zu zeigen. Putin hat Milliarden in das kulturelle Image Russlands investiert; wir sind hier bis dato kläglich gescheitert. Putin führt diesen Krieg auf vielen Ebenen, damit die Deutschen, Engländer und Amerikaner glauben, Russland sei die logische “Ordnungsmacht” in dieser Region.
Wir sprachen bisher über Russland und den Westen, aber welche Rolle könnte China spielen? Könnte Peking die Rolle eines Friedensvermittlers einnehmen?
China könnte und sollte seinen riesigen Einfluss auf die russische Staatsführung unverzüglich ausüben und Putin klarmachen, dass der Kreml diesen Vernichtungskrieg sofort beenden muss. Dass auch Peking einen Friedensplan vorschlägt, ist zwar grundsätzlich zu begrüßen. Aber wir haben große Bedenken in Bezug auf eine ganze Reihe der 12 Punkte, vor allem zur Forderung nach Waffenstillstand, der eine Zementierung der russischen Okkupation bedeuten würde. Das ist nicht akzeptierbar. Mal sehen, wie ernst diese Initiative gemeint ist. Wir sind bereit, mit der chinesischen Führung offen zu reden. Was für uns zählt, sind nicht Worte, sondern Taten.
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