Europa wettet auf Putins Scheitern
Die Europäische Union setzt im Kolonialkrieg Moskaus mutig, klar und mit vollem Einsatz auf das Überleben der Ukraine. Ein Kommentar
09.02.2023 – Stephan Baier
Ja, es stimmt: Ursula von der Leyen hat seit jeher einen Hang zu Selbstdarstellung und medienwirksamen Auftritten in eigener Sache. Ihre vier Besuche in Kiew jedoch fallen nicht darunter: Die persönliche Präsenz der EU-Kommissionspräsidentin in dem von Putins Eroberungs- und Vernichtungskrieg schwer gezeichneten Land ist eine starke Geste europäischer Solidarität mit der Ukraine. In der Vorwoche rückte die Kommissionspräsidentin gar mit 15 EU-Kommissaren und EU-Ratspräsident Charles Michel an. Unter Lebensgefahr, denn Russland gewährte (wie einst beim Kiew-Besuch des UN-Generalsekretärs) keine Feuerpause. In Brüssel hatte Von der Leyen für alle Fälle ihren Vize Frans Timmermans als “Designated Survivor” (vorherbestimmter Überlebender) zurückgelassen.
Wir lassen die Ukraine nicht im Stich
Das ist ein Signal. Die Botschaft, die die EU-Spitzen an die Bevölkerung der Ukraine wie der EU, an den Kreml wie an die Weltmächte sandten, lautet: Wir lassen die Ukraine nicht im Stich – unter gar keinen Umständen. Vermutlich überleben wir, vielleicht sterben wir, doch die Freiheit der Ukraine ist wichtiger als unsere persönliche Sicherheit. Wladimir Putin, der seinen Truppen noch keinen Frontbesuch abstattete, mag seinen grausamen Kolonialkrieg aus sicherer Distanz dirigieren, die Spitzen der EU aber nehmen Mühen und Risiken auf sich, um ein glaubwürdiges Zeugnis ihrer Solidarität mit der Ukraine zu geben.
Dieses persönliche Zeugnis spiegelt sich erstaunlicherweise in der politischen Positionierung der EU. Nicht nur Putin hatte angenommen, die EU sei zu heterogen und entscheidungsschwach, zu zerstritten und orientierungslos, um zu einer klaren und konsequenten Politik zu finden. Tatsächlich hatte die EU ihre Hilflosigkeit mehrfach demonstriert, etwa als sich Russland 2008 zwei Stücke Georgiens schnappte und 2014, als es die Krim annektierte. Ungeachtet des Dissenses in vielem und der komplizierten Entscheidungsmechanismen jedoch fand die EU 2022 zu einer eindeutigen Linie: Sie wettete auf die Niederlage Putins und auf das Überleben der Ukraine.
Der Einsatz ist schwindelerregend hoch
Der Einsatz ist schwindelerregend hoch, denn er bemisst sich nicht alleine an den 50 Milliarden Euro, die die EU und ihre 27 Mitglieder im Laufe eines Jahres in das Überleben der Ukraine investierten, auch nicht nur an der großzügigen Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge. Mit immer neuen Sanktionspaketen gegen Putin und seine Clique, mit der Finanzierung und Lieferung von Waffen an die Ukraine, und mit der Verleihung des EU-Kandidatenstatus hat das vereinte Europa klar gemacht, dass es nicht zwischen den “Kriegsparteien” laviert, sondern an der Seite des Opfers steht und dem Aggressor Widerstand leistet.
Seit dem 24. Februar 2022 wird Realpolitik in Brüssel neu buchstabiert. Nein, die EU wird mit Putin gar keinen Deal machen, wird ihm nicht ein Stück Ukraine anbieten, wird die Ukrainer nicht alleine lassen in ihrem Überlebenskampf. Die EU setzt mit all ihren Ressourcen darauf, dass dieser Krieg nicht mit einer Kapitulation der Ukraine und einer Kreml-hörigen Marionettenregierung in Kiew endet. Vielmehr muss Putin oder sein Nachfolger den Krieg einstellen, den er willkürlich begonnen hat. Die EU tut all dies nicht – wie der Kreml propagiert – weil Europa “russophob” wäre, sondern weil die EU an das Selbstbestimmungsrecht der Völker und an Rechtsstaatlichkeit glaubt. Und nicht an das Recht des Stärkeren und historische “Einflusszonen”.
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