Der Bewahrer der Offenbarung *UPDATE

Der Rücktritt Benedikts XVI. vom Petrus-Amt am 28. Februar 2013 wird immer als ein markantes Ereignis in der künftigen Papstgeschichtsschreibung kontrovers diskutiert werden

Quelle
Papst Benedikt XVI.: Ein Kirchenlehrer der modernen Zeit
Dossier zur Missbrauchsbekämpfung durch Joseph Ratzinger veröffentlicht
Hl. Augustinus
Irenäus Gegen die Häresien
Enzykliken | BENEDIKT XVI. (vatican.va)
Santo Subito!
*Neuheidentum früh erkannt | Die Tagespost (die-tagespost.de)

Gerhard Kardinal Müller, 5. Januar 2023

Der Rücktritt Benedikts XVI. vom Petrus-Amt am 28. Februar 2013 wird immer als ein markantes Ereignis in der künftigen Papstgeschichtsschreibung kontrovers diskutiert werden. Unabhängig von der kirchenpolitischen Hintergrundforschung geht es um das theologische Prinzip der Einheit der katholischen Kirche, die im römischen Bischof als Nachfolger Petri verkörpert ist. Im Unterschied zu den Bischöfen, die die Vielheit der Ortskirchen in der Einheit der universalen Kirche vertreten, stellt der römische Papst in seiner Person die Einheit der Kirche in der Vielheit der Ortskirchen dar. Denn damit der Episkopat einer sei, hat Christus, der göttliche Stifter der Kirche, “den heiligen Petrus an die Spitze der übrigen Apostel gestellt und in ihm ein immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft eingesetzt” (Lumen gentium 18). Und niemand wird bezweifeln, dass Benedikt XVI. seinen Pontifikat (2005-2013) im vollen Bewusstsein um die Würde und Last des römischen Primates verstanden und ausgeübt hat.

Seine Wahl: Eine Fügung der göttlichen Vorsehung

Als Präfekt der Glaubenskongregation hatte er 23 Jahre lang dasjenige Amt in der Kurie inne, das am engsten mit der wesentlichen Mission des Papsttums verbunden ist. Die Kirche gründet im Glauben an Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, den Sein Vater im Himmel dem heiligen Petrus für die Kirche aller Zeiten geoffenbart hat. Und darum wurde er auch von IHM, der das wahre Haupt der Kirche als der messianischen Heilsgemeinde ist, auch als der unerschütterliche Fels bezeichnet, auf den er Seine Kirche bauen wird all ihren Feinden zum Trotz (vgl. Mt 16,16-18.).

Es war darum eine Fügung der göttlichen Vorsehung, dass die Kardinäle aus ihrer Mitte den Spitzentheologen Joseph Ratzinger zum Nachfolger von Johannes Paul dem Großen (1978–2005) auf den Stuhl Petri wählten. Er war die Verkörperung der reinen Kontinuität der Glaubenslehre im Zentrum des päpstlichen Dienstes. Das ist gemäß dem Wort Jesu im Abendmahlsaal die Bewahrung der Offenbarung inmitten der Versuchungen und Turbulenzen der künftigen Kirchengeschichte aber auch des Wankelmutes und der menschlichen Grenzen seiner Stellvertreter: “Simon, Simon, siehe, der Satan hat verlangt, dass er euch wie Weizen sieben darf. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich bekehrt hast, dann stärke deine Brüder” (Lk 22, 31f.). Die geistlichen Ressourcen, aus denen der Lehr- und Jurisdiktionsprimat des römischen Papstes schöpft, sind nicht zuerst die intellektuellen und charakterlichen Stärken eines Menschen, sondern ursprünglicher noch der Beistand des Heiligen Geistes, der sogar unserer Schwachheit aufhilft, wenn wir ihn nur demütig darum bitten (vgl. Röm 8, 26).

Theologe von der Art und Statur der Kirchenväter

Das Papsttum ist also eine Einrichtung in der Kirche göttlichen Rechtes und keineswegs nur eine zufällige Konstellation der Geschichte. Aber jeder einzelne Papst vermag den Dienst des Petrus nur im Kontext seiner Zeit auszuüben und seinem Pontifikat sowohl mit den Stärken als auch den Grenzen seiner Person das besondere Gepräge zu geben. Joseph Ratzinger war durch und durch ein Theologe von der Art und Statur der Kirchenväter. Wie schon seine Doktorarbeit mit dem Titel “Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche” (1954) zeigt, ist der tiefgründigste Genius des christlichen Abendlandes ihm so nachhaltig zum Lehrer geworden, dass man ihn schon einen Augustinus redivivus nennen möchte. Und die monumentale Habilitationsschrift zum Thema „Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras“ (1955) hat die tiefe Erneuerung des katholischen Offenbarungsverständnisses im Zweiten Vatikanum erst möglich gemacht, das in der Dogmatischen Konstitution “Dei verbum” (1965) vom jungen Theologieprofessor und Konzilsberater Joseph Ratzinger wesentlich mit formuliert worden sollte.

Programmatisch war darum seine Weihnachtsansprache am 22. Dezember 2005 an die Mitarbeiter der Römischen Kurie. Souverän zeigte er den Weg auf zwischen der Ablehnung des Zweiten Vatikanums seitens der “Traditionalisten”, die hinter das Konzil zurückwollen, und seiner Relativierung durch die “Progressisten”, die über das Zweite Vatikanum hinaus wollen, das sie nur gelten lassen als Zwischenetappe zu einer anderen Kirche gemäß ihrer vom katholischen Glauben abweichenden Theologie.

Die Lösung besteht in der einzig adäquaten Hermeneutik der Reform und der Kontinuität, die das Zweite Vatikanum einfügt in die Einheit der katholischen Lehrentwicklung im Gefüge ihrer inhaltlichen und formalen Kriterien, wie sie schon im zweiten Jahrhundert Irenäus von Lyon in seiner antignostischen Schrift “Gegen die Häresien” mit unnachahmlicher Klarheit formulierte: die Heilige Schrift, die Apostolische Tradition und das Kirchliche Lehramt von Papst und dem Gesamtepiskopat.

Es ist hier nicht der Ort, die ganze Geschichte dieses Pontifikates zu schreiben, aber man kann ihn würdigen anhand der Beiträge, die für den Lehrprimat des Papstes von bleibender Wichtigkeit sind.

Seine Regensburger Rede geht in die Geschichte ein

Gewiss geht seine Regensburger Rede (2006) in die Geschichte ein. Ich war damals als Bischof von Regensburg in unmittelbarer Nähe als Zeitzeuge dabei. Unabhängig von dem würdelosen Spektakel, das Ignoranten veranstalteten, steht die hier geschlagene Brücke zu einem friedlich verstandenen Islam auf festen Pfeilern. Glaube und Vernunft sind in Gott untrennbar. Der Würde des von Gott geschaffenen Menschen entspricht allein die Glaubensantwort in der Freiheit und Wahrheit des Gewissens auf das Wort Seiner Offenbarung hin. Das gilt auch, wenn innerweltlich unter den Menschen verschiedener Religionen ein Konsens über die Tatsache und den Inhalt des Wortes Gottes keine Übereinstimmung erreicht wird und schon gar nicht unter Drohung von Gewalt erzwungen werden kann und darf. Darum ist ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen möglich, wenn nur die Gesellschaft und der Staat auf der Anerkennung der natürlichen und vernunftgemäß begründeten Menschenrechte beruhen. Papst Franziskus hat in seiner Enzyklika “Fratelli tutti” (2020) diesen Gedanken weiter ausgeführt. Diese Botschaft von einer in Gottes Willen ermöglichten universalen Brüderlichkeit richtet sich an alle Menschen guten Willens.

Wenn wir das Pontifikat Benedikt XVI. unter dem Gesichtspunkt des päpstlichen Lehrprimates betrachten, der dem großen theologischen Denker zweifellos mehr am Herzen lag als der Jurisdiktionsprimat, dann fällt seine geniale Idee ins Auge, die drei göttlichen Tugenden zum Thema seiner wichtigsten Enzykliken zu machen. Glaube, Hoffnung und Liebe sind die innersten personalen Akte, durch die wir aufgrund der eingegossenen Gnade mit Gott vereint werden, der sich uns in seinem Sohn als Wahrheit und Leben mitgeteilt und uns den Heiligen Geist als Gabe des Vaters und des Sohnes ins Herz gegeben hat (vgl. Röm 5, 1-5). Damit sind aber auch die drei zentralen Heilsgeheimnisse angesprochen: Das Mysterium der dreifaltigen Liebe (Trinität), die Menschwerdung des Sohnes Gottes (Inkarnation) und das Innewohnen (Inhabitation) des Heiligen Geistes in unseren Herzen (Gotteskindschaft und Gottesfreundschaft).

Schon in seiner berühmten und in viele Sprachen übersetzen “Einführung in das Christentum” (1968) zur Erklärung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses hatte der noch junge Tübinger Theologieprofessor den Gedanken formuliert, den er auch in seiner päpstlichen Verkündigung immer neu aussprach: Das Christentum ist kein System von spekulativen Lehren im Sinne der Philosophien und Weltanschauungen oder eine Summe von einzelnen, nur positivistisch miteinander verbundenen Geboten und Verboten.

Während des Pontifikats entstand die Jesus-Trilogie

In Glaube, Hoffnung und Liebe begegnen wir einer Person: dem konkreten Menschen Jesus von Nazareth. Dieser Jesus offenbarte inmitten seiner menschlichen Geschichte und mittels seiner menschlichen Natur das Geheimnis seiner Person als das Wort, das von Gott ausgeht und Gott ist (vgl. Joh 1, 1) und das in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes mit dem Vater der eine Gott ist in den drei göttlichen Personen.

Christus, dem wahren Gott und wahren Menschen, hat er auch die Jesus-Trilogie gewidmet, die während seines Pontifikates entstand. Sie möchte aber auch die Summe seines Lebenswerkes sein und noch mehr das Vermächtnis seines Glaubenszeugnisses und geistigen und geistlichen Lebensweges. Denn ein “Diener des Wortes” (Lk 1, 2) und “Hirte für die Kirche” (Apg 20, 28; 1 Petr 5,2) ist im Kreis seiner Brüder nach dem Vorbild des heiligen Petrus “Zeuge der Leiden Christi, der auch an der Herrlichkeit teilhaben soll, die sich offenbaren wird.” (1 Petr 5, 1)

Die Enzyklika “Deus caritas est” (2005) spricht aber nicht nur von unserer Liebe als Antwort auf Gottes Liebe, sondern von der Liebe als der höchsten Erkenntnis des Seins, Wesens und Lebens Gottes, von Gott, der Liebe ist, wie es im 1. Johannesbrief als Ursprung und Summe der gesamten heilsgeschichtlichen Selbstmitteilung Gottes ausgesagt wird (vgl. 1 Joh 4.8.12).

Die Enzyklika “Spe salvi” (2007) beschreibt die Tugend der Hoffnung als die tragende Kraft und Motivation des Christen gerade in unserer Zeit, die geprägt ist von einer tiefreichenden Entchristlichung des geistigen und kulturellen Lebens in der westlichen Welt. Wo die Transzendenz des Menschen auf Gott hin nicht mehr die entscheidende Dimension im menschlichen Selbstverständnis ist, wird der Mensch zum Gefangenen in einem Kerker, in dem er sich selbst vor dem Licht des Höheren verbirgt und sich selbst dem Leben in Freiheit verschließt.

Die Lüge des Neuheidentums in der Zeit der Nazi-Diktatur miterlebt

An die Stelle der “Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gotte” (Röm 8, 21) treten die innerweltlichen Heilslehren und politischen Religionen, die die begrenzten Sichtweisen einer Führerfigur oder eines Parteikollektivs verabsolutieren und sich in den politischen Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts und heute in der “Diktatur des Relativismus” als die neomarxistische Emanzipationsideologie des ehemals liberalen Westens organisieren.

Als ein Deutscher, der im Jahre 1927 das Licht der Welt erblickte, hat Joseph Ratzinger in der zarten Kindheit und aufstrebenden Jugendzeit die zerstörerische Macht des Bösen und die Lüge des Neuheidentums in der Zeit der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges mit allen Zerstörungen von Leben und dem Meer aus Leiden unmittelbar erleben müssen. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der sowjetischen Zwangsherrschaft in Osteuropa hatte der junge Priester, der wache Intellektuelle auf dem theologischen Lehrstuhl, der Erzbischof von München und der römische Kardinalpräfekt bis zum Jahre 1989 warten müssen. Erst dann konnte sich die Vision Johannes Pauls II. von einem Europa erfüllen, das wieder mit seinen beiden Lungenflügeln die freie Luft des Evangeliums und des christlichen Humanismus atmen konnte. Es offenbart den zeit- und lebensgeschichtlichen Erfahrungshintergrund, dass ihm zeitlebens das biblische Wort so wichtig geworden ist, dass Päpste und Bischöfe in der Nachfolge der Apostel “Mitarbeiter der Wahrheit” (3 Joh 8) sind und nicht wie die Ideologen ihre Schöpfer, Erfinder und Zwangsvollstrecker. Denn die Wahrheit kann nur den freimachen, der sie im Wort Jesu, des Sohnes Gottes, erkennt. (vgl. Joh 8, 32)

Idee und der Entwurf der Enzyklika “Lumen fidei” (2013) gehen ganz auf Papst Benedikt XVI. zurück. Sie ist aber nach dem Pontifikatswechsel von Papst Franziskus abgeschlossen und der Kirche und Öffentlichkeit übergeben worden als Zeugnis ihres Willens zur Kontinuität in der Ausübung des Petrus-Dienstes.

“Folge mir nach”

Von uns allen bleibt auf Erden nur der vergängliche Staub, in den unser Leib zerfällt, und das Gemisch von Lob oder der Tadel der Zeitgenossen, das wie eine Rose sowohl mit ihren Blüten als auch mit ihren Dornen im Gedächtnis der Nachgeborenen verwelkt.

Ob ein Nachfolger Petri aus dem Papsttum geschieden ist durch Amtsverzicht oder durch den Tod, ist im Horizont der Ewigkeit nachrangig. Als der auferstandene Herr dem Petrus den universalen Hirtendienst übertrug, hat er ihm keine glanzvolle Regierungszeit verheißen, sondern das Martyrium, durch das ihn der Erste seiner Zeugen in Rom mit dem Tod verherrlichen werde (Joh 21, 19), indem er ans Kreuz geschlagen wurde – mit dem Kopf nach unten.

Und auf uns alle dürfen wir das Wort Jesu beziehen in seiner Nachfolge vom Leiden durch das Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung. “Amen, amen, ich sage dir: Als du jünger warst, hast du dich selber gegürtet und gingst, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst. Das sagte Jesus, um anzudeuten, durch welchen Tod er Gott verherrlichen werde.” (Joh 21, 18f.)

Was bleibt und für alle Zeiten gilt, ist Jesu Aufruf an Petrus und jeden einzelnen seiner Nachfolger: “Folge mir nach.”

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