‘Nie ist der Mensch grösser, als wenn er kniet’
Meisner: Liebe zum Menschen war das wichtigste Vermächtnis des Papstes
Interview mit Joachim Kardinal Meisner
Der Erzbischof von Köln, Joachim Kardinal Meisner, hat die Liebe zum Menschen als das Hauptvermächtnis des verstorbenen Johannes Paul des Zweiten bezeichnet. In der Weltsicht des Papstes seien Solidarität und Brüderlichkeit die Leitbilder des Zusammenlebens gewesen, sagte Meissner. Er betonte, bei der Nachfolge spiele nicht die Nationalität, sonder ausschliesslich die Eignung eine Rolle.
Moderation: Jürgen Liminski
Jürgen Liminski: Niemand wird diesem Papst nachsagen können, er habe nicht alles gegeben, um Frieden zu stiften, Vergebung zu predigen und Barmherzigkeit zu erhoffen. Schon Thomas von Aquin definierte, Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit. Johannes Paul II. steht durchaus in der Linie der grossen Kirchenlehrer. Herr Kardinal Meissner, was würden Sie als sein grosses Vermächtnis, seine geistige Erbschaft für die Kirche und die Welt bezeichnen?
Joachim Kardinal Meissner: Ich meine es ist seine geradezu biblische Sicht von der Welt und den Menschen. Wie im Himmel, so auf Erden. Das ist eine Vision. Das heisst weil Gott der Vater aller Menschen ist, ist das Bestimmende für die Menschen die Bruderschaft, die Solidarität, die Geschwisterlichkeit oder wie man das auch immer bezeichnen soll. Die französische Revolution, die ja von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit redet; die Brüderlichkeit ist dort nie zum Zug gekommen, weil der gemeinsame Vater ausgeblendet worden ist. Das ist bei der kommunistischen Internationale genauso. Der Papst gibt hier wirklich ein gelungenes Bild menschlichen Zusammenlebens. Das heisst wie im Himmel, so auf Erden, der eine Vater, von dem alle kommen. Die sind nicht einander Feinde, sondern Geschwister und sie haben zueinander zu stehen gerade in Not. Darum ist das grosse Stichwort Solidarität.
Liminski: Das grosse Stichwort des Alternativprogramms Solidarität. Gibt es noch andere? Ist das das Stichwort zur Zerrissenheit als Alternative dieser Welt?
Meissner: Ich meine schon. Sehen Sie, die alten Römer haben schon gesagt: der Mensch ist des Menschen Wolf. Hier setzt der Papst diese universale Bruderschaft. Das setzt aber immer voraus, dass ich ein wenig weiss, wer Gott ist. Was Guardini sagte, das war für den Papst eine selbstverständliche Praxis: Nur wer Gott kennt, der kennt auch den Menschen. Das heisst wer Gott nicht kennt, der kennt sich selber nicht und der kennt auch seine Mitmenschen nicht und der kann auch nicht an einer wirklich zufrieden stellenden Gesellschaft arbeiten. Der Papst hat uns hinterlassen eine theologische Anthropologie, die für die Kirche eigentlich immer normativ war, aber sie ist uns in diesem Pontifikat in einer Weise geschenkt worden. Schauen Sie diese Sicht vom Menschen hat ja dem Kommunismus einfach den Boden unter den Füssen weggezogen.
Liminski: Herr Kardinal, Johannes Paul II, war auch ein Mensch, an dem sich die Geister schieden, der aber durch seine Menschlichkeit überzeugte, in der Stärke der ersten Jahre ebenso wie in der Gebrechlichkeit der späteren Jahre. Sie galten als enger Vertrauter, als sein Verbündeter in Deutschland, in Zeiten inhaltlicher Auseinandersetzungen auch: Stichwort Lebensschutz und Abtreibung. Wie sah dieser Papst solche Auseinandersetzungen: als Herausforderung, als Chance, als Kreuz vielleicht?
Meissner: Vielleicht wird man alles beide zusammen sehen müssen. Er verstand es ganz sicher als eine Herausforderung, und zwar seiner leidenschaftlichen Liebe zu den Menschen. Und Liebe, die um des geliebten Willen nicht auch hart sein kann, die verdient nicht die Vokabel Liebe. Eine solche Liebe zu den Menschen wird auch immer zum Kreuz, zum Leid für den Liebenden. Schauen Sie mal, in unserer deutschen Sprache drückt sich das ganz gut aus. Wenn ich einen sehr gern habe, sage ich „ich mag dich leiden“. Das heisst was ich sehr schätze, das wird mir zur Passion. Die grosse Passion des Papstes war der Mensch, wie Gott ihn sieht. Mir ist heute noch in den Ohren unvergesslich seine Inaugurationsrede, also vor fast 27 Jahren, die er dann schloss: Mit welcher Ehrfurcht muss ein Jünger Jesu das Wort Homo, Mensch aussprechen.
Liminski: Ein Vorgänger dieses Papstes, Johannes der 23., sagte einmal, der Mensch ist nie grösser als wenn er kniet. Was macht die Grösse des Karol Wojtyla aus: seine Echtheit, seine intellektuelle Schärfe, seine Sorge als Pastor, als Seelsorger?
Meissner: Ich will es mal so sagen: er war hoch intelligent wie ein halbes Dutzend Professoren und war dabei fromm wie ein Erstkommunionkind. Darum stieg ihm die Intelligenz nicht in den Kopf, sondern sie stieg ihm, wenn ich das so sagen darf, in sein Herz. Das heisst sie setzte sich um in einer unwahrscheinlichen Liebe zu den Menschen und in einer grossen Liebe zu Gott. Das war das unverwechselbare Charisma dieses Papstes. Man ging von ihm immer ein wenig positiv verändert wieder weg, als man zu ihm gekommen ist. Das war seine Ausstrahlung und das war sein ganzer Charme, eben aufgrund seines Charismas.
Liminski: Was hat Sie denn am meisten an diesem Papst beeindruckt?
Meissner: Ich will mal so sagen: seine Identität als Christ, als Priester, als Bischof und natürlich als Papst. Er hat nie Theater gespielt. Er ist nie in eine Rolle geschlüpft. Er war überall er selbst, ein Jünger Jesu in aller Schlichtheit, Klarheit, Unkompliziertheit. Darum war er immer eine Ermutigung, wenn man zu ihm kam. Dann haben wir in ihm immer so etwas von der Einfachheit, von der Klarheit, von der Identität des Meisters Christi erblicken können. Das ist eigentlich sein grosses Geschenk an die Kirche und nicht nur die Kirche wird das in diesen Tagen merken, sondern an die gesamte Menschheit.
Liminski: Herr Kardinal, Sie haben den Papst zum Weltjugendtag in Köln erwartet. Was nun? Gilt die Erwartung auch dem Nachfolger?
Meissner: Ich will erst mal so sagen: An seinem Sterbetag, als er früh wieder das Bewusstsein erlangt hat, hat er sofort gesagt, ihr müsst die Sorge um die Jugend mir abnehmen. Die Jugend ist so wichtig, weil die Jugend die Zukunft ist. Herr Liminski, ich bin ja überzeugt, dass die Heiligen, wenn die erst im Himmel sind, ganz besonders wirksam werden. Dieser Papst Johannes Paul II. wird uns einen Weltjugendtag in Köln ausrichten, wie wir ihn noch nie erlebt haben. Der neue Papst wird seine erste Auslandsreise nach Köln unternehmen. Ich darf es etwas humorvoll sagen: ich werde keinen wählen, der nicht vorneweg mir sagt, ich komme aber auch nach Köln.
Liminski: Sie werden mit den Vorbereitungen zum Weltjugendtag also weiter machen?
Meissner: Ja. Wir werden es ein wenig verändern. Wir brauchen jetzt nicht mehr so viel Rücksicht nehmen auf die Gebrechlichkeit des Papstes. Mein Bad hätten wir gar nicht umbauen brauchen. Es ist aber jetzt geschehen. Das ist auch kein Schaden. Aber wir werden den Papst voll einplanen können und viel exzessiver, als wir das im Hinblick auf Johannes Paul II. getan haben, wobei eben die Alternative besteht, wahrscheinlich wird der neue Papst das auch brauchen, um bei den Jugendlichen bekannt zu werden. Ich habe unserem guten Johannes Paul II. immer gesagt, sie brauchen nur da zu sein, sie brauchen gar nichts zu sagen, ihre Präsenz spricht lauter als ihre Worte. Darum ist es so wichtig, dass sie zu uns kommen.
Liminski: Johannes Paul II., der Papst aus Polen. Muss der nächste Papst wieder ein Italiener sein, oder halten Sie die Zeit für gekommen, dass auch mal ein deutscher Kardinal Papst wird?
Meissner: Also wissen Sie, das ist für mich gar keine Frage. Das erste müsste doch sein, dass wir den geeignetsten nehmen und nicht die nationale Zugehörigkeit oder nationaler Proporz. Wenn sich dann gleichsam im zweiten Nachgang herausstellt, er kommt aus der Nation oder aus jener Nation, dann ist das wirklich sekundär. Primär ist, dass wir den geeignetsten finden und das muss ich Ihnen schlicht sagen ist mir völlig egal, aus welcher Nation der kommt.
Liminski: Kann man denn jetzt sagen, eine neue Ära bricht an, sozusagen quo vadis Vatikan? Wird sich viel ändern, oder ist das eher eine Ära der Konsolidierung, die vor uns steht?
Meissner: Also ich muss ja immer sagen, wenn Sie die Papstgeschichte, Kirchengeschichte betrachten: ein Papst übernimmt ja nicht ein Unternehmen, mit dem er machen kann was er will. Ihm wird ein Unternehmen, wenn wir das Wort sagen dürfen, in die Hände gegeben, das ihm gar nicht gehört. Er ist Treuhänder und er muss es im Sinne dessen verwalten, der ihm das zu guten Händen anvertraut. Ich liess mir sagen, bevor wir jetzt ins Konklave gehen, werden wir ausserhalb des Konklaves in den Kardinalsversammlungen gleichsam Panoramaberichte hören, wie die geistige Situation in den einzelnen Regionen, Ländern, Nationen ist, dass man das gleichsam dann im Hinterkopf hat, das geistige Panorama der Weltkirche, und dass man mit diesem Wissen im Hinterkopf dann versucht, im Konklave vielleicht auch über Personen zu sprechen, wer von den ehrwürdigen Mitbrüdern nun der geeignetste wäre, der diesen Herausforderungen besonders entsprechen kann, das alte, ewig gültige Evangelium in den gegenwärtigen Horizont hinein zu sprechen ohne jeden Abstrich.
Liminski: Das heisst Sie haben jetzt noch keine konkrete Person vor Augen, die Sie wählen würden?
Meissner: Das kann ich ganz glatt bejahen, weil ich mich auch immer gewehrt habe, auch für mich privat, solange der Papst noch da war, schon nachzudenken, wer könnte denn mal sein Nachfolger werden. Ich halte das eigentlich für unanständig. Da gibt es jetzt Zeit genug. Kommt Zeit, kommt Rat. Kommt Zeit, kommt Gnade. Da wird uns der heilige Geist sicher auf die Sprünge helfen.
Liminski: Das war Joachim Kardinal Meissner, Erzbischof von Köln. Besten Dank für das Gespräch, Herr Kardinal.
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