Kreisauer Kreis – Rechtsstaat und vereintes Europa

Vision eines vereinten Europa: So plante die Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis die Zeit nach Hitler

Quelle
Freya von Moltke Stiftung
Es ist unsere Pflicht, das Widerliche zu erkennen

Vision eines vereinten Europa: So plante die Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis die Zeit nach Hitler.

FOCUS-Online-Autor

Donnerstag, 09.08.2018

Sie wollten einen radikalen Neuanfang nach der Nazi-Herrschaft: Vor 75 Jahren verfassten Widerstandskämpfer des Kreisauer Kreises die „Grundsätze für die Neuordnung“. Zentrale Forderungen ihres Programms wurden später Realität – und sind noch immer hochaktuell.

Deutschland würde den Krieg verlieren. Auch bei vielen, die lange an den „Endsieg“ geglaubt hatten, setzte sich diese Erkenntnis spätestens 1943 immer mehr durch. Die Niederlage von Stalingrad Anfang des Jahres, die Kapitulation der deutsch-italienischen Afrika-Verbände im Mai, die Landung alliierter Truppen auf Sizilien im Juli – es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das „Tausendjährige Reich“ Geschichte sein würde.

Widerstandsgruppen in Deutschland suchten nach Wegen, das NS-Regime schon vor dem militärischen Zusammenbruch zu stürzen und so weitere sinnlose Opfer zu verhindern. Höhepunkt dieser Bemühungen war das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Auch Mitglieder des so genannten Kreisauer Kreises beteiligten sich an der Verschwörung. Der Anschlag scheiterte bekanntlich. Zahlreiche Verschwörer bezahlten dafür mit ihrem Leben.

„Umfassendster Zukunftsentwurf des deutschen Widerstands“

Doch es waren andere Aktivitäten, welche die „Kreisauer“ innerhalb des deutschen Widerstandes besonders auszeichneten. „Im Vergleich zur ‚Weissen Rose‘ oder zur ‚Roten Kapelle‘, die vor allem das Regime beseitigen wollten, machte sich der ‚Kreisauer Kreis‘ am meisten Gedanken über die Nachkriegszeit“, sagt Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.

Jahrelang konspirierten dessen Mitglieder, bildeten Arbeitsgruppen, hielten Treffen ab und verfassten Dokumente. Auf den 9. August 1943 datiert ein Schriftstück, das die bis dahin erzielten Ergebnisse zusammenfasste. „Grundsätze für die Neuordnung“ lautete sein Titel. Wie der Historiker Volker Ullrich in seinem Buch „Der Kreisauer Kreis“ schreibt, stellt es „den umfassendsten Zukunftsentwurf dar, der in Kreisen des deutschen Widerstands gegen Hitler ausgearbeitet worden ist.“

Der Kreis entstand bereits, als Hitler im Zenit seiner Macht stand

Den Namen „Kreisauer Kreis“ hatte sich die Gruppe übrigens nicht selbst gegeben, sondern von der Gestapo erhalten. Er leitet sich ab von dem schlesischen Gut Kreisau, das der Familie von Helmuth James Graf von Moltke gehörte. Zusammen mit Peter Graf Yorck von Wartenburg galt dieser als Kopf der Gruppe. Auf seinem Gut waren etliche Mitglieder in den Jahren 1942 und 1943 drei Mal zu mehrtägigen Treffen zusammengekommen. Aber auch anderswo fanden immer wieder Zusammenkünfte in kleinerem Rahmen statt, vor allem in Berlin.

Gebildet hatte sich der Kreis bereits ab 1940, als Moltke und Yorck in engeren Kontakt miteinander traten und intensiv über die Zeit nach der NS-Herrschaft zu diskutieren begannen – obwohl Hitler damals durch die deutschen Siege über Polen und die europäischen Westmächte den Zenit seiner Macht erreicht hatte. Sie sammelten zahlreiche Regimegegner um sich und zogen verschiedenste Fachleute zu Rate, um eine künftige Verfassung und Wirtschaftsordnung auszuarbeiten. Vor allem planten sie, eine neue Gesellschaft in Deutschland aufzubauen und den Frieden für kommende Generationen zu sichern.

Kein Zurück zu Weimarer Verhältnissen

Denn die Weimarer Republik wollten die Kreisauer nicht wiederherstellen. Die damalige Spaltung der deutschen Gesellschaft und den Parteienstreit machten sie mitverantwortlich für ihr Scheitern und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Eine parlamentarische Demokratie lehnten sie deshalb ab, ebenso aber auch einen Obrigkeitsstaat oder gar eine Militärdiktatur. Stattdessen setzten sie auf Dezentralisierung und Selbstverwaltung. Sogenannte „kleine Gemeinschaften“ – eine Idee Moltkes – sollten die Deutschen ermutigen, Verantwortung zu übernehmen und sich mit dem Gemeinwesen zu identifizieren.

Um einen möglichst umfassenden Konsens zu erreichen, führten Moltke und Yorck Vertreter unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen zusammen. Adelige und Bürgerliche, Konservative und Sozialdemokraten, katholische und evangelische Geistliche trafen sich in Kreisau und fassten dort gemeinsame Beschlüsse.

„Sittliche und religiöse Erneuerung“ durch das Christentum

Als geistige Basis der neuen Ordnung sollte das Christentum dienen. Programmatisch verkündet der Einleitungssatz der „Grundsätze für die Neuordnung“: „Die Regierung des Deutschen Reiches sieht im Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes, für die Überwindung von Hass und Lüge, für den Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft.“

Praktisch umgesetzt wurde das Staats- und Gesellschaftsmodell der Kreisauer allerdings nie. Im Westen Deutschlands entstand 1949 unter Aufsicht der Westalliierten eine parlamentarische Demokratie, im Osten auf Druck der Sowjetunion eine sozialistische Diktatur. Doch der Rechtsstaat, den die Widerstandsgruppe zu ihren zentralen Forderungen zählte, wurde zumindest in der Bundesrepublik Wirklichkeit.

Vision eines vereinten Europas

Auch andere Ideen, die sich in den „Grundsätzen“ und weiteren Dokumenten aus Kreisau finden, nahmen spätere Ereignisse und Entwicklungen vorweg. So entsprachen die wirtschaftspolitischen Überlegungen der Gruppe verblüffend dem Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“, das entscheidend zum ökonomischen Aufschwung der Bundesrepublik beitrug. Die Forderung, NS-Verbrecher zu bestrafen, gehörte ebenfalls zu ihren wichtigsten Anliegen – wie es in den Nürnberger Prozessen nach Kriegsende dann geschah. Allerdings plädierten Moltke, Yorck und deren Mitstreiter dafür, dass Deutsche selbst über die Missetäter zu Gericht sitzen sollten.

Um den künftigen Frieden zu sichern, forderten die Kreisauer ausserdem ein vereintes Europa. Eine damals kühn erscheinende Vision, die heute längst ganz selbstverständlich Realität ist. Zu selbstverständlich vielleicht, was die Gefahr in sich birgt, sie zu vernachlässigen und nicht mehr genug gegen ihre Feinde zu schützen. Moltke träumte sogar von einem europäischen Bundesstaat. Aber so weit wollten ihm etliche aus der Gruppe dann doch nicht folgen.

Hingerichtet, weil sie „zusammen gedacht haben“

Selbst in die Tat umsetzen konnten gerade die zentralen Figuren des Kreisauer Kreises ihre Forderungen nicht mehr. Viele von ihnen wurden 1944 und 1945 hingerichtet. Entweder weil sie, wie Yorck, in das Hitler-Attentat vom 20. Juli verstrickt waren. Oder weil sie „zusammen gedacht haben“, wie der am Attentat unbeteiligte Moltke nach der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof an seine Frau Freya schrieb.

Ihre Ideen haben jedoch überlebt und sind immer noch aktuell. „Vor allem das Ziel der Kreisauer, die durch den Nationalsozialismus verkorksten Gehirne der Deutschen wieder in Ordnung zu bringen, bleibt bis heute eine Herausforderung“, sagt Tuchel.

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