‘Erdogan beim Papst: „Realpolitik“’
Erdogan beim Papst: „Realpolitik“ – eine Einordnung
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Papst und Erdogan sprachen über Christen, Flüchtlinge und Jerusalem
Als „typisches Beispiel von Realpolitik“ bewertet der Türkei-Experte Ottmar Oehring die Begegnung von Recep Tayyip Erdogan mit Papst Franziskus an diesem Montag im Vatikan. Erdogan hatte Franziskus selbst um die Privataudienz gebeten.
Anne Preckel – Vatikanstadt
Der türkische Präsident habe mit seinem Besuch vorrangig den Schulterschluss mit Franziskus in der Jerusalem-Frage gesucht, bestätigte der Koordinator Internationaler Religionsdialog der Konrad-Adenauer-Stiftung im Interview mit Vatican News am Montag.
„Ich denke, dass Präsident Erdogan den Papst als einen Verbündeten in Hinblick auf die Frage der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem sieht. Der Papst hat sich kritisch dazu geäussert, Erdogan hat sich auch kritisch dazu geäussert. Erdogan sieht sich als den Führer der islamischen Welt, und er sieht auf der anderen Seite den Papst natürlich als den Führer einer grossen Weltreligion. Und damit sieht Erdogan beide auf der gleichen Linie.“
In der Tat hatte Erdogan im Vorfeld seiner Papstaudienz die Übereinstimmung des Heiligens Stuhls und der Türkei in der Jerusalem-Frage betont. Der Papst habe mit seiner Stellungnahme zur Verlegung der US-Botschaft „der ganzen christlichen Welt die richtige Botschaft übermittelt“, lobte Erdogan, der Trumps Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, als Verletzung des Völkerrechtes bewertete.
Dass Erdogan angesichts der Jerusalem-Frage derzeit wenig Interesse hat, Uneinigkeit mit Papst Franziskus zu markieren, lässt sich auch daran ablesen, dass sein Unmut über das Thema Armenier-Genozid völlig in die zweite Reihe gerückt zu sein scheint. Dazu Oehring:
„Natürlich kann man davon ausgehen, dass die türkische Führung weiterhin im Hinblick auf die Frage, ob man den Armenier-Genozid als Genozid bezeichnet oder eben nicht, verschnupft ist. Aber es gibt natürlich aus Sicht von Staatspräsident Erdogan momentan sicher Fragestellungen, die für seine Klientel oder im Hinblick auf seine Klientel und damit natürlich auch im Hinblick auf seine eigene Bedeutung in der Türkei und darüber hinaus wichtiger sind. Und deswegen spielt natürlich momentan das Thema des Armenier-Genozids nicht die Rolle, die es vielleicht unter anderen Verhältnissen spielen würde.“
Die Gründe auf Vatikanseite für Erdogans Audienz sieht Oehring anders gelagert. Franziskus‘ Einwilligung in ein Treffen mit Erdogan erklärt sich der Türkei-Experte, der selbst in Ankara aufwuchs, mit der zunehmend prekären Lage der christlichen Kirchen in der Türkei: „Ich denke, dass der Vatikan auf den Gesprächswunsch von Erdogan positiv reagieren musste, und das hängt auch mit der Situation der Kirchen in der Türkei zusammen …“
Während man noch „bis vor sechs, sieben Jahren“ Anzeichen einer Verbesserung der Beziehungen des türkischen Staates zu den christlichen Kirchen in der Türkei habe beobachten können, gehe die Tendenz aktuell in die Gegenrichtung. Oehring deutet enorme Schwierigkeiten an, mit denen die Kirchen in der Türkei aktuell zu kämpfen haben – insbesondere seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016: „Man spürt und sieht und hört, dass momentan die Kirchen in der Türkei unter Druck sind, auch vor dem Hintergrund dessen, was ihnen im Zusammenhang mit dem Putsch angelastet wird oder was man ihnen versucht anzulasten.“
Dass sich einige Kirchenvertreter diesem Druck beugten, lässt sich für Oehring an deren Stellungnahmen zur jüngsten Offensive der Türkei gegen Kurden in Syrien ablesen. „Da ist namentlich zu nennen das Verhalten des Statthalters des armenischen Patriarchen und – noch viel überraschender – auch des Ökumenischen Patriarchen, die nach türkischen Presseberichten das Eingreifen der Türkei im Gebiet von Afrin in Nordsyrien lobend bewertet haben“. Die beiden Kirchenvertreter hätten sich wohl von Seiten der Türkei zu diesem Schritt gedrängt gesehen – „jenseits jeder persönlicher Überzeugung“, wie Oehring formuliert. Was den Besuch Erdogans beim Papst an diesem Montag betrifft, sei dazu von Seiten der Kirchen in der Türkei „eigentlich nichts berichtet worden“, fügt er an.
Die türkische Tageszeitung „Hürriyet“ hatte am Wochenende ein Unterstützungsschreiben des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. an Präsident Erdogan für die Militäroffensive in Syrien veröffentlicht. Anders als in der türkischen hatte die Solidaritätsaktion in der griechischen und zypriotischen Presse grösstenteils negativen Widerhall gefunden. Bisher hatte sich der Ökumenische Patriarch dem Druck von Präsident Erdogan widersetzt, ihn öffentlich zu unterstützen. So äusserte er sich nicht zur angeblichen staatsfeindlichen Verschwörung von Anhängern des Predigers Fethullah Gülen und nahm als einzige religiöse Führungspersönlichkeit der Türkei nicht an der Massen-Treuekundgebung für Erdogan vom August 2016 teil.
Oehring geht davon aus, dass der Papst Erdogan an diesem Montag die Lage der Kirchen in der Türkei erneut vor Augen geführt hat – wie schon während seines Besuches in der Türkei im Jahr 2014. Das Vatikan-Kommuniqué zur Begegnung redet nur allgemein davon, bei der Audienz seien die Bedingungen der katholischen Gemeinschaft angesprochen worden. Oehring: „Dass er (der Papst, Anm.) eben erwartet, dass in der Türkei Religionsfreiheit umgesetzt wird. Da hat es ja über die Jahre hin immer bestimmte Fragen gegeben und bestimmte Forderungen. Und an diesen grundlegenden Forderungen (von Seiten des Heiligen Stuhles, Anm.) hat sich natürlich in den letzten Jahren nichts geändert…“
Auch mit Blick auf die in völkerrechtlicher Hinsicht bedenkliche türkische Offensive in Nordsyrien dürfte der Papst Erdogan ins Gewissen geredet haben, zeigt sich Oehring überzeugt: „Der Papst wird sicher darauf hingewiesen haben, dass man Probleme, die man mit seinen Nachbarn hat, natürlich nach Möglichkeit friedlich lösen soll. Und ich könnte mir vorstellen, dass der Papst ebenfalls darauf hingewiesen hat, dass man auch Probleme, die man mit Teilen der eigenen Bevölkerung hat, möglichst im Dialog lösen sollte…“
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