Begabt – Die Gleichung eines Lebens | Gifted

Der Film von Mark Webb (Regie) und Tom Flynn (Drehbuch) handelt auf sensible Weise von der universalen Frage, was dem Wohl eines hochbegabten Kindes entspricht

Zenit.org, 21. Juli 2017, José García
Bücher in der Jugendarbeit

Die siebenjährige Mary (Mckenna Grace) wächst bei ihrem Onkel Frank (Chris Evans) in einem Küstenstädtchen in Florida wohlbehütet auf. Frank hat sich offensichtlich hierher zurückgezogen, wo er Bootsmotoren repariert. Bei der Erziehung des quirligen Kindes hilft Frank die herzensgute Nachbarin Roberta (Octavia Spencer) gerne, die Mary ins Herz geschlossen hat. Frank besteht darauf, dass seine Nichte eine ganz normale Schule besucht, um unter Gleichaltrigen Freunde zu finden. Natürlich weiß Frank von der besonderen Mathematik-Begabung seiner Nichte. Deshalb wirkt er auch nicht sonderlich überrascht, als Marys Lehrerin Bonnie (Jenny Slate) die Begabung des Kindes entdeckt. Obwohl Lehrerin und Schuldirektorin beteuern, dass sie das Kind in ihrer Schule nicht adäquat fördern können, weshalb sie Mary an eine Privatschule für Hochbegabte überweisen wollen, sperrt sich Frank gegen dieses Vorhaben entschieden.

Drehbuchautor Tom Flynn und Regisseur Marc Webb enthüllen in ihrem Spielfilm „Begabt – Die Gleichung eines Lebens‪‪‪“ („Gifted‪‪‪“) Franks Beweggründe erst nach und nach. Bereits Marys Großmutter Evelyn (Lindsay Duncan) hatte an der Universität Mathematik studiert, gab aber ihre akademische Karriere für die Familie auf. Diese Karriere sollte deshalb ihre Tochter, Franks Schwester und Marys Mutter, einschlagen. Sie zerbrach jedoch an den hohen Erwartungen, und nahm sich das Leben, als Mary noch ein Baby war. Gerade vor dieser Gefahr möchte Frank seine Nichte schützen. Er selbst gab deshalb seine Stelle als Philosophieprofessor an einer Universität der Ostküste auf, und zog mit dem Kind in das kleine Küstenstädtchen.

Die Handlung wird mit dem Auftreten von Franks Mutter Evelyn vorangetrieben: Nach Jahren ohne Kontakt zu ihrem Sohn reist sie von Boston nach Florida, um sich der Erziehung ihrer Enkelin anzunehmen. Sie ist davon überzeugt, dass Marys Talent unbedingt gefördert werden soll. Der Streit darüber, was für das Kind am besten ist, eskaliert zu einem Sorgerechtsstreit. „Begabt – Die Gleichung eines Lebens‪‪‪“ wird teilweise zu einem Gerichtsfilm. Die Entscheidung, ob ein „normales‪‪‪“ Leben wie bisher bei ihrem Onkel und in einer Regelschule, oder aber der Besuch einer Schule für Hochbegabte unter der Vormundschaft der Großmutter besser für Mary ist, liegt nun beim Gericht. Im Streit zwischen den Anschauungen der Erwachsenen droht indes Marys Wohl in den Hintergrund zu geraten.

Den Filmemachern gelingt es, den Zuschauer in die Handlung einzubeziehen. Auch er soll darüber befinden, welche der beiden Einstellungen eher dem Kindeswohl entspricht: Würde das Mädchen einer glücklichen Kindheit beraubt, wenn es in ein Internat gesteckt würde, in dem es vorwiegend um die Förderung ihrer mathematischen Begabung ginge? Andererseits: Wäre es nicht eine Art Betrug, wenn Mary die Möglichkeit verwehrt würde, dieses Talent zu entwickeln? Der Zuschauer sieht beispielsweise, wie Mary die Stunden in der Regelschule als quälend empfindet. Auf der anderen Seite steht aber das gute Verhältnis zwischen Nichte und Onkel sowie zur Nachbarin Roberta … und darüber hinaus auch zur Katze. Das Urteil darüber fällt dem Zuschauer jedoch nicht leicht, weil Drehbuchautor Tom Flynn und Regisseur Marc Webb wichtige Informationen erst allmählich bekannt geben, die dazu führen, das Urteil neu zu überdenken. Außerdem: Hat eine solche Begabung nicht auch eine soziale Komponente? Bedeutet sie nicht gleichzeitig eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, das Talent zum Wohle der Wissenschaft zu fördern? Zwar mag oberflächlich gesehen einiges klischeehaft erscheinen, etwa Evelyns, an eine „‪‪‪böse Stiefmutter“ erinnernde Verhalten. Auf den zweiten Blick erweist sich „‪‪‪Begabt – Die Gleichung eines Lebens“ als ein in mancherlei Hinsicht tiefgründiger Film.

Dies spiegelt sich in der Figurenzeichnung wider: Evelyn stellt sich nicht als so egoistisch heraus, wie es anfangs den Anschein hatte. Frank wird ebenso wenig trotz großer Liebe zu seinem Nichte zum idealen Ersatzvater stilisiert. Bei aller Schematisierung, die ein Gerichtsfilm mit sich bringt, vermeiden Drehbuchautor Tom Flynn und Regisseur Marc Webb eine Schwarzweiß-Zeichnung der beiden Prozessparteien. Dies trägt entscheidend dazu bei, dem Familiendrama Tiefe zu verleihen.

„‪‪‪Begabt – Die Gleichung eines Lebens“ handelt deshalb auf sensible Weise von der universalen Frage, was dem Wohl eines hochbegabten Kindes entspricht. Denn dies kann auch auf andere Fähigkeiten, etwa auf eine musikalische oder sportliche Begabung, angewandt werden. In einer Zeit, in der etwa weltweit agierende Fußballvereine bereits unter Kindern nach den großen Fußballstars der kommenden Jahre Ausschau halten, gewinnt eine solche Thematik ungeahnte Aktualität.

Marys Kindheit verlief bislang wohlbehütet in der Zurückgezogenheit des kleinen Städtchens glücklich. Aber: Empfindet nicht auch sie mit zunehmendem Alter das Bedürfnis, ihr außergewöhnliches Talent zu vertiefen? Die Bedürfnisse eines normalen Kindes mit einer solchen Hochbegabung zu vereinbaren, scheint kein einfaches Unterfangen, ob sich das Kind als ein mathematisches oder eben auch ein sportliches oder musikalisches Genie herausstellt.

Die Filmemacher verzichten wohlweislich darauf, auf solche Fragen einfache Antworten zu geben. „‪‪‪Begabt – Die Gleichung eines Lebens“ konzentriert sich zunehmend auf ein Familiendrama, das unabhängig von der Frage der mathematischen Begabung des Kindes den Zuschauer einnimmt.

*

Filmische Qualität: Vier Sterne (max. fünf Sterne)
Regie: Mark Webb
Darsteller: Chris Evans, Mckenna Grace, Lindsay Duncan, Jenny Slate, Octavia Spencer, John Finn
Land, Jahr: USA 2017
Laufzeit: 101 Minuten
Genre:
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen:

im Kino: 7/2017

Dr. José García, geb. 1958, Magister Artium 1982, promovierte in Mittlerer und Neuerer Geschichte an der Universität Köln 1989. Filmkritiker für verschiedene Zeitungen. Autor der Filmbücher „Träume, Werte und Gefühle. Die wundersame Welt von Film und Kino” und „Der Himmel über Hollywood. Was große Filme über den Menschen sagen“. Mitglied im Verband der deutschen Filmkritik, Mitarbeit an den Jurys für die Verleihung des „Preises der Deutschen Filmkritik“. José García lebt und arbeitet in Berlin.

(Quelle: textezumfilm)

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