Ein ergreifendes Wechselspiel von Gnade und Schwäche

Eine auch für die heutige Generation wegweisende Katholikin: Menschliches und Heiliges im Blick von Ida Friederike Görres (1901–1971)

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Ida Friedericke GörresTapfer wie eine Kirschblüte: Ida Friederike Görres: Ein Porträt von Hanna Barbara Gerl-Falkowitz
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Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Die Tagespost,   22. Juli 2015

Seit 2012 liegt wieder ein Buch der früher vielgelesenen Ida Görres vor, und tatsächlich zeigt sich wider Erwarten: Die Autorin zieht an und zieht mit; ihre Einsicht besticht schon auf den ersten Blick.

Das Buch “Von Ehe und von Einsamkeit” war kurz nach dem alle Bindungen zerreissenden Krieg 1949 erschienen und trifft auch heute ins Schwarze, so wie unmittelbar folgend “Die leibhaftige Kirche” (1950). Anders als in seichten “Ratgebern” gibt es keine kurzatmige Anleitung zu “Eheführerschein” oder “Beziehungsarbeit”.

Görres geht vielmehr auf den Grund: den Grund einer verworrenen, widersprüchlichen, “unerlösten” Natur, in der die Geschlechtlichkeit als grosser ungezähmter Motor tätig ist. Lösungen, auf die das tastende Gespräch hinführt, gibt es nur in Prüfung der jahrhundertelangen Erfahrungen der Kirche, der Dichtung, der Literatur. Lösungen kommen aus dem persönlichen Gespräch und Streit mit Gott, aus dem seligen Überraschtsein von seiner Führung.

Wer so blutvoll schreiben kann, lebte selbst lange in “Einsamkeit”. Görres wurde mit dem klangvollen Namen Friederika Maria Anna von Coudenhove am 2. Dezember 1901 als sechstes Kind des österreichischen Diplomaten Dr. jur. und phil. Heinrich Reichsgraf von Coudenhove und der Japanerin Mitsuko Maria Thekla Aoyama auf Schloss Ronsperg mitten im Böhmerwald geboren. Ihr Erscheinungsbild spiegelte die europäisch-japanische Herkunft deutlich; sie selbst empfand auch ihre geistige Herkunft aus zwei so unterschiedlichen Kulturen heftig und nicht selten schmerzlich: “Ob die grosse Traurigkeit, der unbarmherzige Blick auf die Welt, mein Erbteil aus Asien ist? Es ist etwas Uraltes, Urweises, aber als unerlöst Altes und Weises, an dem ich da teilhabe.”

Ihr Vater starb, ihr kaum erinnerlich, bereits mit 50 Jahren; über ihre Mutter schreibt sie: “Ach, ihr tieftragisches Schicksal könnte erst ein grosser Romancier der nächsten Generation schreiben, so wie die Mitchell ‘Gone with the wind’. Glauben Sie, sie wäre überhaupt gefragt worden, ob sie einen Europäer heiraten wollte, einen Europäer, von dem sie nur wusste, es seien ‘weisse Teufel mit roten Haaren und Fischaugen’? Ihr später, bitterer Kommentar: ‘Es war ärger als der Tod. Aber japanische Mädchen konnten gehorchen.’ Befehl des Vaters, unwidersprechlich (…) Meine Mutter mochte von ihren sieben Kindern nur die beiden Ältesten, die noch in Japan geboren waren, und liess uns andere nie im Zweifel darüber (…) Wenn ich Hiesige wegen ‘mangelnder Nestwärme’ klagen höre, muss ich fast lachen. Wir ahnten nicht einmal, dass man sowas vermissen kann.”

In österreichischen Klosterschulen herangewachsen, begegnete das junge Mädchen dort erstmals der Kirche in ihrer starren, aber auch bergenden Form. Erst nach 1918, im jugendbewegten Bund Neuland, dessen religiösen Erneuerungswillen sie führend mitgestaltete, vertiefte sich die Kirche zu unerwarteter Lebendigkeit.

Zwischen 1923 und 1925 weilte die junge Frau (sie hatte den Namen Ida als kindliche Form von Friederike gewählt) vorübergehend als Novizin bei den Maria-Ward-Schwestern im geliebten St. Pölten. Sie studierte Staatswissenschaften 1925–1927 in Wien, dann Sozialwissenschaften 1927– 1929 in Freiburg an der Sozialen Frauenschule, anschliessend (Kirchen-)Geschichte, Theologie, Philosophie 1929–1931 an der dortigen Universität und 1931–1932 in Wien. Vom Mai 1932 bis Ostern 1935 wirkte sie als “Diözesansekretärin für die weibliche Jugendpflege” des Bistums Dresden-Meissen, genauer: als geistige Vor-Denkerin für die katholische Jugend. Gerade in Dresden war ihre lebendige, ja glühende Art der Gedankenentwicklung schon ausgeprägt; ihre Führung begeisterte.

Auf diesen Zeiten äusseren Erfolgs lastete aber zugleich eine tief erlebte Einsamkeit, grundgelegt in “der Kindheit steinernem Gewicht”, einer eigentümlich liebeleeren und elternlosen Erziehung. Diese Einsamkeit wurde überraschend und doch nicht ohne widerstrebendes Ringen gelöst: durch die Werbung eines etwas jüngeren Mannes. Als Ida Coudenhove dem Berliner Carl-Joseph Görres (1905–1973) in Dresden begegnete, waren manche Kreise über ihre Heirat an Ostern 1935 in Leipzig fast enttäuscht, weil das Ideal einer “Jungfrau von Orléans” zerstört schien. Ihr Mann, der sie in seiner Geistigkeit ebenbürtig ergänzte, bereitete ihr als Wirtschaftsberater selbstlos die Möglichkeit, als Schriftstellerin tätig zu sein. In rascher Folge entstanden ihre Werke neben vielen Vorträgen und kleinen aktuellen Schriften, die insgesamt um Kirche und die Heiligen kreisen. “Da ich keine Familie habe” – eigene Kinder blieben ihr zu grossem Leidwesen versagt –, “hat sich eben meine ganze Kraft auf die Kirche fixiert.” Von den 1930er Jahren an war ihre Schaffenskraft erstaunlich. Anfänglich hatte sie über Elisabeth von Thüringen gearbeitet (1931), dann über Maria Ward (1932), Radegundis (1934) und Johanna von Orleans (1935), der eine umfängliche Studie über Therese von Lisieux folgte. “Männliche” Heiligkeit untersuchte sie an Franziskus, Heinrich Seuse, John Henry Newman und Teilhard de Chardin, dem ihre letzte Liebe galt.

Diese erstaunliche, ja überbordende Arbeit wurde ab Oktober 1950 eingedämmt durch heftige Krankheitsschübe, die freilich die Schaffenskraft nicht völlig unterbrachen und als Läuterung empfunden wurden. Mit ausgelöst waren die Lähmungen wohl durch einen sozialkritischen “Brief über die Kirche” (1948), für den sie stark angegriffen wurde.

Das Leiden verliess sie nicht, besserte sich aber so weit, dass sie weiterhin unermüdlich schrieb. Das II. Vatikanische Konzil erlebte sie zunächst mit freudiger Aufmerksamkeit, später eher mit Bangen und beständig beschäftigt mit den in ihren Augen zweideutigen Folgen. Dies werden ihre Briefe an P. Paulus Gordan OSB zeigen, die unter dem fragenden Titel “Wirklich die neue Phönixgestalt?” im be&be Verlag Heiligenkreuz in Bälde erscheinen.

Görres bemühte sich, neuen Aussagen gegenüber aufgeschlossen zu sein, sah aber instinktiv auch Unverzichtbares im Wanken. Ein zeichenhafter Titel lautet “Abbruchkommandos in der Kirche”. 1969 erhielt sie die Berufung zur Würzburger Synode, die das Konzil zeitnah umsetzen wollte. Am 14. Mai 1971 nahm Ida Görres dort zu “Gottesdienst und Sakrament” Stellung und brach unmittelbar danach zusammen. Die Gehirnblutung führte am nächsten Tag im Frankfurter Marienkrankenhaus zum Tod.

Es war Görres’ Bitte, in ihrem weissen Kimono und mit einem “weissen Requiem” auf dem Bergäcker-Friedhof in Freiburg begraben zu werden – weiss als die japanische Farbe der Trauer drückt die späte “Versöhnung” mit der Mutter aus. Der damalige Tübinger Professor Joseph Ratzinger sprach im Freiburger Münster am 19. Mai 1971 die Gedenkworte. Auf ihrem Grabstein stehen neben dem kämpfenden, ihr so teuren Erzengel Michael die Worte “Cave adsum!“ – “Hüte dich, ich bin da!” 1943, mitten im Krieg, sollte Görres’ Meisterwerk über “Das verborgene Antlitz” der kleinen Therese erscheinen; die zweite Auflage trug den Titel “Das Senfkorn von Lisieux”. Der Wurf, der damit gelang, besteht im Ausleuchten der menschlichen Mitgift Thereses. Der zuckrige Mythos, den der Konvent um “die Kleine” aufbaute, die geschönte Glätte der überarbeiteten “Geschichte einer Seele” wichen in Görres’ scharfblickender Milieukenntnis (stammte sie doch selbst aus der Welt der “Öpferchen”, der erbaulichen Poesie und der klösterlichen Mädchenpensionate) – diese kleinbürgerlichen Dekors also wichen dem verborgenen Antlitz Thereses, durch neurotische Züge gefährdet, von der Infantilisierung durch die Schwestern bedroht, der Skrupulosität zeitweise unterlegen, endlich in eine schreckensvolle Glaubensnacht abgestürzt. Und dennoch, so Görres: In der individuell eingeengten und milieubedingt verbogenen Frömmigkeit beginnt Thereses Gesicht zu spiegeln, was göttlich ist.

“O Widerschein von Gottes Herrlichkeit, um eines Menschen Antlitz ausgegossen” – so Görres in einem ihrer sprachschönen Gedichte. Diese “Archäologie” der wirklichen Therese wirkt heute noch atemberaubend. Nichts wird psychologisch verkleinert, gar “erklärt”: Vor dem Erklärlichen, Engen erscheint das Unerklärliche wundervoll aufleuchtend. Reiz (und Trost) liegt darin, dass die Grenze des Menschen offensichtlich keine Schranke bildet für das Göttliche. Das Befremdliche, Unangenehme wird Ansatzstelle für Gnade. Der Kitsch verdunkelt die Schönheit Gottes nicht ernsthaft. Mit der Leidenschaft einer selbst an religiöser Enge Leidenden hat Görres den Kampf zwischen Poesiealbum und Hohem Lied vorgeführt. Das Wechselspiel von Gnade und Schwäche ist ergreifend, ja es wird zur Signatur der Heiligkeit.

Nochmals zur anderen Seite von Görres’ Können, dem lebensklugen Rat. Das erwähnte Buch “Von Ehe und von Einsamkeit” vermittelt gleichermassen eine Ahnung von der scharfen Beobachtungsgabe, der Leidenschaft, der Trauer, dem Eros der grossen Autorin.

Alle Einwände gegen Ehe als “unmögliche Dauerbindung” werden vorgebracht – nichts hat sich seitdem verändert. Aber auch alle Erfahrungen des “unerfüllten” Alleinseins werden – ja, herausgeschleudert, zornig und traurig. Und werden in der Antwort aufgegriffen, behutsam vertieft, in ihrem Anspruch geklärt, in der Übertreibung abgewiesen – bis sich die grossen Möglichkeiten herausschälen, wie Leben in riskanter Balance, aber doch zu bestehen ist: das ganze Leben mit einem anderen Menschen oder das ganze Leben mit vielen Menschen. Beides hat seine je eigenen Lasten, die nicht schönzureden sind, aber ohne Bitterkeit geschultert werden wollen; beides hat seine Erfüllungen, aber auch seine Abstürze. Und trotzdem können sie gemeistert werden. Auch die (Selbst-)Missverständnisse der ersten grossen Liebe werden im vierten Brief behutsam beleuchtet – ein Lehrstück über die menschliche Hingabefähigkeit und die gefahrenreiche Selbsttäuschung in einem. Aber ein Lehrstück, das nicht demütigt. Hier spricht mehr als Gefühl; hier spricht Erfahrung.

Zu hören ist eine Sprache voll Leidenschaft, die ein schlagendes Herz, aber auch einen analytischen Geist spüren lässt: ebenso zuchtvoll wie schöpferisch, ebenso elegant wie kämpferisch. Eine nuancenreiche Sprachkunst verleiht den Ausführungen ihre Deutlichkeit, mehr noch ihre hilfreiche Stärke.

Das Kostbare an diesem Denken ist die Kraft, Gott ins Spiel zu ziehen. Eben nicht als Lückenbüsser und Allheilmittel, sondern als lebendigen Wider-Stand, an dem man sich aufrichten kann. “Stützen kann nur, was widersteht.” Und gerade das erweist sich als hilfreich. Denn wenn man meint, das Ganze müsse auf den “heutigen religionsfernen Menschen” zugeschnitten sein, um ihn auf keinen Fall zu überfordern oder gar herauszufordern, so gilt der kluge Satz von Botho Strauss: “Er braucht nicht abgeholt zu werden, sondern wird angezogen, nähert sich von selbst, wenn jemand von einer etwa zehn Zentimeter höheren Warte zu ihm redet.”

In dem Tagebuch “Zwischen den Zeiten” (1960) zeichnet Ida Görres selbst ihre Fähigkeiten: “Meine Hauptprobleme, meine zentralen, existenziellen, liegen in Wirklichkeit gar nicht im Intellektuellen, wie meine Bekannten, Fremde und sogar Freunde hartnäckig von mir glauben. Sie liegen seit je im Moralischen, soweit meine Erinnerungen zurückreichen – und auch hier nicht im Theoretischen und Prinzipiellen, sondern im Leben. Den Intellekt habe ich stets nur als Hilfstruppe herbeigerufen, um den unentwirrbaren Dschungel des Lebenmüssens zu durchleuchten, und die Grundsätze, um eine Strasse durchzuhauen – der WEG, das war und ist doch der Inbegriff meines Fragens.”

Wie tief kann man ihr glauben, die fähig war zu solchen “Schreien der Liebe und des Schmerzes”. Es wird sich noch erweisen, dass sie mit solcher Sprache, mit solchem Ernst über die Jahrzehnte hinweg das Ohr auch einer heutigen, in der Tiefe verunsicherten und führungslosen Generation erreicht.

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