Politik als Gottesdienst, geleitet von Meinungs-Priestern
Doch diese Überhöhung politischer Positionen und Institutionen ist bedenklich
Gastkommentar von Giuseppe Gracia.
Chur, kath.net, 4. Juli 2016
Seit dem Brexit sind nicht nur aus der EU-Spitze Stimmen zu hören, die sich erschüttert zeigen über diesen Austritt aus „unserer Wertegemeinschaft“. Das klingt oft so, als spräche hier eine Glaubenskongregation, die über politische Dogmen wacht. Über Glaubenssätze, deren Missachtung die Exkommunikation aus der Kirche anständiger Nationen nach sich zieht.
In besonderen Fällen droht die ewige Verdammnis, wie momentan den Briten. Wie lauten die herrschenden Dogmen? Zum Beispiel: die EU, gegründet 1992, ist identisch mit dem Kontinent Europa, darum ist jedes Votum gegen die EU ein Votum gegen Europa, ebenso ein Votum gegen den Wohlstands- und Friedensdienst der amtierenden EU-Hirten. Oder: nur EU-Integration ist pro-europäisch und tut uns gut. Oder: die Kurie in Brüssel verwaltet die Grundwerte Europas am besten und muss, um die Einheit zu wahren, Häresien verfolgen.
Bedenklich ist diese Überhöhung politischer Positionen und Institutionen auch deswegen, weil sie nicht nur die EU betrifft, sondern viele gesellschaftliche Diskurse. Ob Spannungen rund um Angela Merkel oder Orban, ob Putin, Obama, Erdogan oder Papst Franziskus. Ob Flüchtlingskrise, Terror, Nationalismus, USA oder Nahost: immer wieder erleben wir Repräsentanten, die es nicht mehr nötig haben, sich selbstkritisch dem Gegenargument zu stellen, sondern die Verkündigungen aus dem Himmel fertiger Überzeugungen präsentieren. Das geschieht in Talkshows ebenso wie im Parlament oder im Wahlkampf, im Parteienmarketing wie im Mediengeschäft. Die Politik als Gottesdienst, geleitet von Meinungs-Priestern, die das gute Leben für alle kennen. Staats- und Wirtschaftsführung? Sozialengagement und Kulturbildung? Alles eine Liturgie von Auserwählten, zum Wohl unserer Gesellschaft, die längst nicht so liberal ist, wie sie glaubt.
Durch Verweis auf höhere Werte macht man sich unangreifbar
In der Antike waren die römischen Kaiser Götter mit Hoheit über alle Werteordnungen. Individuelle Freiheit? Undenkbar. Erst mit der Aufklärung setzte sich die Trennung von Autorität und Kult durch, von Staat und Religion, Macht und Moral. Heute dürfen Politiker eigentlich keine Werte mehr verordnen. Es wäre ihre Aufgabe, stellvertretend für uns zu handeln, aber ohne sich zur moralischen Mutter- oder Vaterinstanz aufzublähen. Dennoch tun viele Amtsinhaber genau das. Durch Verweis auf höhere Werte machen sie sich unangreifbar und dämonisieren politische Alternativen. Als überlegene Gesellschaftsversteher wollen sie das Volk erziehen, statt es zu vertreten. Ähnlich wie Journalisten, die statt Information publizistische Lehrstücke bieten und unerwünschte Ansichten ahnden.
Und doch darf der moderne Rechtsstaat niemanden auf Werte verpflichten, auch nicht auf eine sogenannte „Leitkultur“. Verpflichtend sind nur Gesetze, und wer diese übertritt, wird für sein Handeln bestraft, nicht für seine Überzeugungen. Dazu schrieb der Philosoph Robert Spaemann bereits 2001: „Ein Staat, der sich der individuellen Freiheit verpflichtet sieht, verlangt die Befolgung seiner Gesetze, nicht die Übereinstimmung mit Werten, welche dem Rechtssystem zu Grunde liegen. Das ist das Fundament moderner Freiheit, unter Schmerzen im Zuge der Religionskriege erobert. Deshalb ist es gefährlich, vom Staat als ‚Wertegemeinschaft‘ zu sprechen, denn die Tendenz besteht, das säkulare Prinzip zu Gunsten einer Diktatur der politischen Überzeugungen zu untergraben. Das Dritte Reich war eine Wertegemeinschaft. Die Werte – Nation, Rasse, Gesundheit – hatten dem Gesetz gegenüber immer den Vorrang. Das Europa von heute sollte sich von diesem gefährlichen Weg fernhalten.“
Gefragt ist eine Toleranz, die grosse Differenzen aushalten kann
Das ist hochaktuell. Unsere Gesellschaft wird immer pluralistischer. Jürgen Habermas, ein wichtiger Denker des Liberalismus, sieht in der Gegenwart eine zunehmende „weltanschauliche Polarisierung“. Das ist logisch: im Rahmen des Grundgesetzes darf jeder seinen Glaubens- und Wertekanon haben. Das erhöht die Spannungen zwischen politischen, religiösen und kulturellen Lagern. Der Erhalt des inneren Friedens wird schwieriger. Gefragt ist eine Toleranz, die grosse Differenzen aushalten kann, die alle auf das Grundgesetz verpflichtet, ansonsten aber frei lässt. Eine Toleranz, die keine harmonisierende Volksgesinnung fordert. Sondern die religiöse Überhöhungen des Politischen gerade ablehnt und die Trennung zwischen Macht und Moral verteidigt. Im Sinn des Aufklärers Thomas Hobbes, der zu bedenken gab, dass wir der Staatsmacht nicht als Teil einer Wertegemeinschaft, sondern einer Rechtsgemeinschaft gehorchen, und zwar wegen des inneren Friedens. Mit diesem pragmatischen Ansatz lässt sich eine liberale Gesellschaft verteidigen. Ohne politischen Gottesdienst und ohne das Sakrament kollektiver Werte.
Giuseppe Gracia ist Medienbeauftragter des Bistums Chur.
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