Nach dem synodalen Prozess: Kontinuität oder Bruch?

„Amoris laetitia“: Für wen aber gilt der „neue Weg“

Papst Paul VI.Quelle

Der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Müller, hat Anfang Mai das nachsynodale Papstschreiben „Amoris laetitia“ bei einem Vortrag im spanischen Oviedo im Sinne einer Hermeneutik der Kontinuität interpretiert. Da wo Franziskus irreguläre Situationen im Allgemeinen beschreibe – so etwa in der Fussnote 351 –, also jemanden, der objektiv nicht nach den Geboten Gottes lebt, dies aber subjektiv noch nicht in vollem Umfang erfassen kann, widerspreche das noch nicht der Lehre der vergangenen Päpste, die in einem ganz konkreten Einzelfall, eben dem der zivilen Wiederverheiratung, im Einklang mit der Tradition der Kirche eine ganz präzise Feststellung getroffen haben.

Unser Autor hat sich den aktuellen Text von Franziskus genau angeschaut und mit den entsprechenden Textstellen von Johannes Paul II. und Paul VI. verglichen. Und kommt zu dem Ergebnis, dass unser Papst schon ein Stück weit über die Tradition hinausgegangen ist.

Das kleine Schrittchen von Papst Franziskus

„Amoris laetitia“: Für wen aber gilt der „neue Weg“, den das nachsynodale Schreiben für die wiederverheirateten Geschiedenen eröffnet hat? Und warum mitlesender Reformeifer zu pastoralen Grenzüberschreitungen führen wird.

Von Christoph Münch

Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung war viel über den Inhalt des Nachsynodalen Schreibens „Amoris laetitia“ von Papst Franziskus spekuliert worden. Nach der Veröffentlichung dann war das päpstliche Schreiben zumindest für wenige Tage im Fokus der Medien, ehe es – sicherlich auch aufgrund seines aus medialer Sicht wenig spektakulären Inhalts – auch schon wieder aus dem öffentlichen Interesse verschwand.
Denn Papst Franziskus hatte darin zentrale katholische Standpunkte bestätigt. In aller Deutlichkeit war die Gender-Theorie als Ideologie gebrandmarkt oder eine wie auch immer geartete kirchliche Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau ausgeschlossen worden. Lediglich in einem Punkt gab und gibt es – vor allem in Kirchenkreisen – Kontroversen, nämlich bei der Frage nach dem möglichen Kommunionempfang für Wiederverheiratet-Geschiedene.
Tatsächlich lohnt eine präzise Lektüre des päpstlichen Schreibens, um aus den Vorgaben des Papstes keine falschen Schlüsse zu ziehen.

Johannes Paul II. und Paul VI. als Bezugsquellen von Papst Franziskus

Zunächst ist festzustellen, dass Franziskus im Haupttext von „Amoris laetitia“ vom vieldiskutierten Aspekt der „Unterscheidung“ ausgeht, womit gemeint ist, „dass die Konsequenzen oder Wirkungen einer Norm nicht notwendig immer dieselben sein müssen“ (AL 300). Hierzu findet sich in Fussnote 336 des Schreibens die folgende Präzisierung: „Auch nicht auf dem Gebiet der Sakramentenordnung, da die Unterscheidung erkennen kann, dass in einer besonderen Situation keine schwere Schuld vorliegt.“ Dabei verweist er explizit auf die Abschnitte 44 und 47 seines Apostolischen Schreibens „Evangelii gaudium“, in denen er zunächst auf den „Katechismus der katholischen Kirche“ Bezug nimmt: „Die Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwortung für sie können durch Unkenntnis, Unachtsamkeit, Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, übermässige Affekte sowie weitere psychische oder gesellschaftliche Faktoren vermindert, ja sogar aufgehoben sein“ (KKK 1735). Diesen Aspekt greift er in „Evangelii gaudium“ auf und führt ihn folgendermassen fort: „Daher muss man, ohne den Wert des vom Evangelium vorgezeichneten Ideals zu mindern, die möglichen Wachstumsstufen der Menschen, die Tag für Tag aufgebaut werden, mit Barmherzigkeit und Geduld begleiten“ (EG 44). Hierzu findet sich wiederum eine Fussnote im Text, welche auf das nachsynodale Apostolische Schreiben „Familiaris consortio“ des heiligen Johannes Paul II. aus dem Jahre 1981 verweist. Dort ist zu lesen: „Jedoch können sie [gemeint sind die Eheleute, Anm. d. Red.] das Gesetz nicht als ein reines Ideal auffassen, das es in Zukunft einmal zu erreichen gelte, sondern sie müssen es betrachten als ein Gebot Christi, die Schwierigkeiten mit aller Kraft zu überwinden“ (FC 34).
Johannes Paul II. kommt an dieser Stelle auf „das sogenannte ‚Gesetz der Gradualität’ oder des stufenweisen Weges“ zu sprechen. Dies muss so verstanden werden, dass jeder Mensch zur Beachtung der göttlichen Gebote berufen ist, jedoch nicht alle Menschen gleichermassen dazu fähig oder in der Lage sind, diese Gebote auf Anhieb voll und ganz zu erfüllen. Sie müssen folglich – vor allem im Angesicht von schwierigen Lebenssituationen – schrittweise und mühsam danach streben, die Gebote stetig ein wenig mehr zu befolgen.
Auch Papst Johannes Paul II. beruft sich bei seinen Aussagen in „Familiaris consortio“ wiederum auf einen seiner Vorgänger, nämlich auf Papst Paul VI. und dessen Enzyklika „Humanae vitae“. In einem „An die Priester“ gerichteten Absatz heisst es dort: „Ihr wisst auch, dass es zur Wahrung des inneren Friedens der Einzelnen und der Einheit des christlichen Volkes von grösster Bedeutung ist, dass in Sitten- wie in Glaubensfragen alle dem kirchlichen Lehramt gehorchen und die gleiche Sprache sprechen“ (HV 28).

Im folgenden Abschnitt spricht der selige Paul VI. dann über den Umgang mit dem Sünder, was für den vorliegenden Kontext von grosser Bedeutung ist. Nachdem er betont hat, dass es darum geht, „die kirchliche Ehelehre unverfälscht und offen vorzulegen“ (ebd.), nimmt er Bezug auf Jesus Christus, der „zwar unerbittlich streng gegen die Sünde [war], aber geduldig und barmherzig gegenüber den Sündern“ (HV 29). Daraus ergibt sich für Papst Paul VI. als Konsequenz für das Verhalten der Priester gegenüber den Gläubigen: „Bei ihren Schwierigkeiten und Nöten sollten die Eheleute im Wort und im mitfühlenden Herzen des Priesters ein Echo der Stimme und der Liebe unseres Erlösers finden“ (ebd.). Sodann betont er die „Darlegung der rechten Lehre“ (ebd.) durch den Priester und die Hoffnung, dass die Gläubigen durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes die Wahrheit dieser Lehre erkennen und nach ihr handeln.

Barmherzigkeit und die Unterscheidung zwischen Sünde und Sünder

Unbestreitbar ist für Paul VI. die Gültigkeit und Befolgung der katholischen Ehelehre durch die Eheleute von grosser Bedeutung. Von einem Sakramentenempfang für Wiederverheiratet-Geschiedene ist in „Humanae vitae“ folglich keine Rede. Dennoch scheint es nicht übertrieben zu behaupten, dass es trotz gravierender Unterschiede zugleich gewisse Schnittmengen zwischen der Enzyklika von 1968, dem nachsynodalen Schreiben von 1981 und dem nachsynodalen Schreiben von 2016 in Bezug auf das Verhalten von Priestern gegenüber Eheleuten gibt. Vor allem die klar herausgestellte Trennung zwischen der stets abzulehnenden Sünde und dem mit Geduld und Barmherzigkeit zu begegnenden Sünder kann hier wie dort als Grundprinzip gelten.

Wenn Papst Paul VI. an die Priester appelliert, dass sie in ihrem Verhalten gegenüber den Eheleuten darauf achten sollen, dass die Eheleute „oft, mit grossem Glauben, zu den Sakramenten der Eucharistie und der Busse kommen und niemals wegen ihrer Schwachheit den Mut verlieren“ (ebd.), hat auch er die oftmals von „Schwierigkeiten und Nöten“ geprägte Situation der Eheleute im Blick. Wenngleich er die Sünde klar als solche beim Namen nennt, zeigt er zugleich Verständnis für den einzelnen Sünder in der konkreten Lebenssituation. Dies gilt ebenso für Papst Franziskus, der diesem Aspekt noch weitaus grössere Bedeutung beimisst und auch bei einem möglichen vorliegenden Konflikt mit der katholischen Lehre die „Leistung“ des Einzelnen in den Blick nimmt. Nicht anders kann der folgende Satz aus „Evangelii gaudium“ verstanden werden, auf den Franziskus auch in der besagten Fussnote von „Amoris laetitia“ indirekt verweist: „Ein kleiner Schritt inmitten grosser menschlicher Begrenzungen kann Gott wohlgefälliger sein als das äusserlich korrekte Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stossen.“ (EG 44). Wie sehr ähnelt – trotz der bestehenden Unterschiede – diese Stelle doch der Aussage in „Humanae vitae“, wonach „der Heilige Geist […] die Herzen der Gläubigen erleuchtet und sie zur Zustimmung einlädt“ (HV 29).

Hinsichtlich des Kommunionempfangs für Wiederverheiratet-Geschiedene ist die zweite in Fussnote 336 von „Amoris laetitia“ angegebene Bezugsstelle besonders relevant. In „Evangelii gaudium“ 47 heisst es: „Auch die Türen der Sakramente dürfen nicht aus irgendeinem beliebigen Grund geschlossen werden. […] Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein grosszügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen. Diese Überzeugungen haben auch pastorale Konsequenzen, und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und Wagemut in Betracht zu ziehen.“

Papst Franziskus zum pastoralen Umgang mit den Betroffenen

Der in dieser Stelle – also bereits lange vor der ersten Familiensynode – indirekt angedeutete Weg der Zulassung Wiederverheiratet-Geschiedener zur Eucharistie stellt in „Amoris laetitia“ den Kernaspekt der theologischen Diskussionen dar. Was Papst Franziskus zu diesem wichtigen, die katholische Lehre betreffenden Thema genau schreibt, muss im Folgenden präzise betrachtet werden. Erst dann kann die Frage nach der Kontinuität der Lehre zwischen ihm und seinen direkten Vorgängern geklärt werden.

Die Vorstellung des Papstes vom zukünftigen pastoralen Umgang mit den Betroffenen gestaltet sich wie folgt: „Die Priester haben die Aufgabe, die betroffenen Menschen entsprechend der Lehre der Kirche und den Richtlinien des Bischofs auf dem Weg der Unterscheidung zu begleiten. In diesem Prozess wird es hilfreich sein, durch Momente des Nachdenkens und der Reue eine Erforschung des Gewissens vorzunehmen. Die wiederverheirateten Geschiedenen sollten sich fragen, wie sie sich ihren Kindern gegenüber verhalten haben, seit ihre eheliche Verbindung in die Krise geriet; ob es Versöhnungsversuche gegeben hat; wie die Lage des verlassenen Partners ist; welche Folgen die neue Beziehung auf den Rest der Familie und die Gemeinschaft der Gläubigen hat; welches Beispiel sie den jungen Menschen gibt, die sich auf die Ehe vorbereiten. […] Es handelt sich um einen Weg der Begleitung und der Unterscheidung, der ‚diese Gläubigen darauf aus[richtet], sich ihrer Situation vor Gott bewusst zu werden. Das Gespräch mit dem Priester im Forum internum trägt zur Bildung einer rechten Beurteilung dessen bei, was die Möglichkeit einer volleren Teilnahme am Leben der Kirche behindert, und kann helfen, Wege zu finden, diese zu begünstigen und wachsen zu lassen. Da es im Gesetz selbst keine Gradualität gibt (vgl. Familiaris consortio, 34), wird diese Unterscheidung niemals von den Erfordernissen der Wahrheit und der Liebe des Evangeliums, die die Kirche vorlegt, absehen können“ (AL 300).

Auswertung der Vorstellung des Papstes

Eine gründliche Lektüre dieses Abschnittes macht deutlich, dass Papst Franziskus die Gesamtthematik wesentlich differenzierter in den Blick nimmt, als dies beispielsweise in der medialen, gesellschaftlichen und auch kirchlichen Rezeption zumeist der Fall war.
Vom Kommunionempfang als Regelfall bei Wiederverheiratet-Geschiedenen kann hier keine Rede sein. Denn die Möglichkeit, den Leib des Herrn trotz einer zweiten Zivilehe zu empfangen, ist an klare Bedingungen geknüpft, ohne deren Erfüllung auch kein vermeintlich barmherziger Umgang mit den Betroffenen möglich ist. Es bedarf einer Anstrengung vonseiten des Sünders, um sich der Barmherzigkeit Gottes und seiner Stellvertreterin, der Kirche, als würdig zu erweisen. Genau diesen Grundsatz brachte Franziskus einige Tage nach der Veröffentlichung seines Schreibens im Rahmen der Generalaudienz vom 20. April 2016 deutlich zum Ausdruck. Ausgehend von der Sünderin, die Jesus Christus die Füsse salbt (Lk 7,36-50), ging er auf die göttliche Barmherzigkeit ein. Dabei stellte er die Wichtigkeit heraus, „zwischen der Sünde und dem Sünder zu unterscheiden. Mit der Sünde darf man keine Kompromisse eingehen, aber die Sünder […] sind wie Kranke, die der Heilung bedürfen. Doch muss der Kranke erkennen, dass er den Arzt braucht“.

In dieser Ansprache thematisiert Franziskus noch einmal das, was als grundlegender Zugang zur zitierten Textstelle aus „Amoris laetitia“ verstanden werden kann. Die Sünde wird klar verurteilt, der Sünder aber wird der Liebe Gottes anheimgestellt, sofern er erkennt, „dass er den Arzt braucht“. Mit diesem Akt des Erkennens aber ist – wie im Empfang des Busssakraments – das Bewusstsein um das eigene Fehlverhalten verbunden und die daraus resultierende Bereitschaft zur Umkehr.

Überhaupt bestehen deutliche Parallelen zwischen dem Busssakrament und dem Umgang mit Wiederverheiratet-Geschiedenen. Denn auch sie sind vor einer Entscheidung über einen möglichen Kommunionempfang verpflichtet, wie in der Beichte ausführlich mit einem Priester über ihre Situation zu sprechen. So schreibt Franziskus, dass es in diesen Gesprächen um „Momente des Nachdenkens und der Reue“ (AL 300) geht, welche zu einer „Erforschung des Gewissens“ (ebd.) führen sollen. Die Begleitung der betroffenen Personen durch den Priester erfolgt dabei ausdrücklich „entsprechend der Lehre der Kirche“ (ebd.). In einem solchen Gespräch muss das eigene Verhalten vor dem Hintergrund dessen thematisiert werden, was die katholische Kirche über die sakramentale Ehe lehrt. Es geht um die Erkenntnis bezüglich des Charakters der betroffenen Personen und die Frage, inwieweit ein von Eigennutz und Egoismus geprägtes Verhalten zum Scheitern der ersten Ehe geführt hat. Das bereits angesprochene Prinzip der „Unterscheidung“ ist hierbei von zentraler Bedeutung.
Für Papst Franziskus muss im Rahmen der Frage nach der Möglichkeit eines Kommunionempfangs für Wiederverheiratet-Geschiedene auch die Schuldfrage erörtert werden. Es bedarf beispielsweise einer Unterscheidung zwischen einem Ehepartner, der bewusst und willentlich die vor Gott geschlossene Ehe missachtet und gebrochen hat, und einem Ehepartner, der de facto schuldlos schuldig geworden ist; dessen Ehe also ohne eigenes sündhaftes Zutun gescheitert ist und der aufgrund seiner Sehnsucht nach partnerschaftlicher Nähe und seiner Unfähigkeit, alleine zu leben, eine zweite zivile Ehe eingegangen ist. Der Papst geht unter der Massgabe einer genauen Prüfung des Einzelfalls nicht mehr davon aus, „dass alle, die in irgendeiner sogenannten ‚irregulären’ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben“ (AL 301).

Die Frage nach der Kontinuität der Lehre

In diesem speziellen Punkt geht Franziskus über die bisher gültige Lehre hinaus; allerdings geschieht dies durch eine wesentlich genauere Analyse der Situation, welche kein Pauschalurteil zulässt und gerade dadurch dem einzelnen Menschen erst gerecht werden kann. Dabei stützt er sich auf klare Aussagen der Tradition und sogar des Lehreamts. Neben Thomas von Aquin, der bereits davon ausgegangen war, „dass jemand die Gnade und die Liebe besitzen kann, ohne jedoch imstande zu sein, irgendeine der Tugenden gut auszuüben“ (ebd.), zitiert er, wie weiter oben bereits angeführt, den „Katechismus der katholischen Kirche“ (Nr. 1735) und seine Aussagen zu den mildernden Umständen einer sündhaften Tat. Was dies konkret für die Situation von Wiederverheiratet-Geschiedenen bedeuten kann, thematisiert Franziskus unter Nr. 305 seines Schreibens und der dazugehörigen Fussnote 351. Er schreibt: „Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann.“

In der besagten zugehörigen Fussnote spricht er sodann davon, dass „in gewissen Fällen […] auch die Hilfe der Sakramente“ in Betracht gezogen werden kann, wobei er explizit die Beichte und die Eucharistie nennt. Allerdings legt er im weiteren Verlauf des Schreibens mehrfach grossen Wert auf die Feststellung, „dass die Kirche in keiner Weise darauf verzichten darf, das vollkommene Ideal der Ehe, den Plan Gottes in seiner ganzen Grösse vorzulegen“ (AL 307). Die katholische Lehre soll folglich weiterhin im Fokus der Verkündigung stehen.
Auf der Suche nach neuen „Wegen“ im Umgang mit den Menschen, die in ihrer ersten Ehe gescheitert sind und eine zweite zivile Ehe eingegangen sind, hält auch Papst Franziskus an bestimmten Prinzipien fest. Dabei wird es stets auf die beiden Grundpfeiler „der Wahrheit und der Liebe des Evangeliums“ auf der Seite der Betroffenen ankommen. Eine schnelle und leichte Lösung ist somit ausgeschlossen, denn die Wahrheit bezüglich des eigenen Verhaltens und der Glaube, ja sogar die Liebe zu diesem Glauben, der in der Frohen Botschaft grundgelegt ist, entscheiden über Rechtmässigkeit oder Unrechtmässigkeit einer Zulassung zum Kommunionempfang.

Damit es diesbezüglich keinerlei Missverständnisse gibt, betont der Papst „die notwendigen Voraussetzungen der Demut, der Diskretion, der Liebe zur Kirche und ihrer Lehre“ (AL 300). Es geht also bei der Bewertung des individuellen Sachverhalts nicht um den Willen des Menschen, sondern um den „Willen Gottes“ und das „Verlangen, diesem auf vollkommenere Weise zu entsprechen“ (ebd.).

Wenn Franziskus versucht, auf pastorale Weise den Menschen gerecht zu werden, welche sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden, so geht es ihm dabei nicht um ein Aufweichen oder gar eine Infragestellung der offiziellen katholischen Lehre, sondern um die vertiefte Analyse der konkreten Situation eines Menschen, der schuldlos mit dem Gesetz Gottes in Konflikt geraten ist. Aber: „Aussergewöhnliche Situationen zu verstehen bedeutet niemals, das Licht des vollkommeneren Ideals zu verdunkeln, und auch nicht, weniger anzuempfehlen als das, was Jesus den Menschen anbietet“ (AL 307).

Fazit und Bewertung der päpstlichen Aussagen

Wie Jesus dies im Johannes-Evangelium der Ehebrecherin sagt – „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr“ (Joh 8,11) –, so gewährt Papst Franziskus in seinem Schreiben den Betroffenen ebenfalls eine zweite Chance, sofern die weiter oben genannte Klärung der Umstände und der Schuldfrage, die Beachtung der Voraussetzungen und die feste Absicht einer gegenwärtig und zukünftig dem Willen Gottes entsprechenden Lebensführung positiv erfolgt sind. Die Hürden für einen aus päpstlicher Sicht rechtmässigen Kommunionempfang Wiederverheiratet-Geschiedener sind somit so hoch gesetzt, wie sie höher kaum sein könnten. Bei aller möglichen Empörung darüber, dass Franziskus die Pastoral zuweilen über die Lehre stellt, muss doch deutlich darauf hingewiesen werden, dass es sich dabei lediglich um Einzelfälle handeln kann.

Nun mag man dem entgegensetzen können, dass die praktische Umsetzung aus den besagten Einzelfällen die Regel machen könnte; dass also kaum ein Priester – sollte überhaupt ein solcher zur Beratung aufgesucht werden – die Messlatte tatsächlich so hoch hält, wie Papst Franziskus sie gesetzt hat; dass vielmehr ein Grossteil der Priester – zumindest in den liberalen Gesellschaften – im Namen der über allem stehenden Barmherzigkeit die Zulassung zum Kommunionempfang für Wiederverheiratet-Geschiedene generell ermöglichen wird.
Diese Gefahr besteht nicht nur, sondern eine solche Praxis ist bedauerlicherweise sogar wahrscheinlich. Sie passt in eine Zeit, in der die Frage nach einem würdigen Eucharistieempfang nur noch von den allerwenigsten Kirchgängern überhaupt gestellt wird. Wer von den unter zehn Prozent der deutschen Katholiken, die allsonntäglich ihrer Sonntagspflicht nachkommen, ist sich noch darüber im Klaren, dass er den Leib des Herrn lediglich im Stand der Gnade empfangen darf? Die Tatsache, dass nahezu alle Besucher der heiligen Messe wie selbstverständlich kommunizieren, lässt angesichts einer äusserst geringen Beichtpraxis nur eine Erklärung zu: Sie befinden sich vielfach nicht frei von einer schweren Sünde – also beispielsweise einem bewussten und willentlich in Kauf genommenen Verstoss gegen eines der zehn Gebote – und somit nicht im Stand der Gnade und empfangen den Leib Christi folglich unwürdig und unberechtigt, womit sie gemäss 1 Korinther 11,27–29 eine weitere Sünde begehen.

Was folglich vonseiten der unaufgeklärten oder autonom denkenden Katholiken an falschen und unrechtmässigen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem regelmässigen Kommunionempfang getroffen wird, steht in keinem Verhältnis zu der zahlenmässig marginalen Gruppe derjenigen Betroffenen, welche sich ganz bewusst und den Vorgaben des Papstes in „Amoris laetitia“ entsprechend einer Prüfung ihrer eigenen Schuld unterziehen und zu dem Schluss gelangen, dass sie am Scheitern ihrer ersten Ehe keinerlei direkte Schuld trifft.

Ungeachtet der Anerkennung der Gültigkeit der katholischen Lehre stellt sich bei dieser Thematik die Frage, inwieweit Jesus selbst mit den Menschen barmherzig umginge, welche ihren Glauben bewusst und unter Beachtung der göttlichen wie der kirchlichen Gebote leben, dabei aber in eine Situation geraten, in der sie ohne eigene massgebliche Schuld allein durch das Scheitern einer Ehe und die Sehnsucht nach zwischenmenschlicher Nähe in den Bruch des sechsten Gebotes geraten.
Natürlich müssen auch diese Menschen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie ganz im Zuge eines Konsum- und Überflussdenkens nicht bereit sind, weder auf das eine – die neue Partnerschaft und Zivilehe – noch auf das andere – den Empfang der Eucharistie – zu verzichten. Denn eine Teilnahme an der heiligen Messe ohne Kommunionempfang ist ihnen jederzeit möglich. Vermutlich wird sogar ein Grossteil der kleinen Gruppe derjenigen, die gemäss der päpstlichen Vorgaben unter Umständen zum Sakramentenempfang zugelassen werden, von sich aus darauf verzichten, gerade weil sie sich trotz ihrer eigenen Unschuld als unwürdig erachten. Für wen gilt dann aber noch der von Franziskus unter den genannten Bedingungen – und nur so! – in Aussicht gestellte neue Weg?
Denn der Papst macht am Ende der zitierten Textstelle aus „Amoris laetitia“ noch einmal unmissverständlich deutlich, welche Gefahren es zu erkennen und zu verhindern gilt: „Diese Haltungen sind grundlegend, um die schwerwiegende Gefahr falscher Auskunft zu vermeiden wie die Vorstellung, dass jeder Priester schnell ‚Ausnahmen’ gewähren kann oder dass es Personen gibt, die gegen Gefälligkeiten sakramentale Privilegien erhalten können.“ Ins Positive gekehrt bedeutet dies – ebenfalls mit den Worten des Papstes: „Wenn ein verantwortungsbewusster und besonnener Mensch, der nicht beabsichtigt, seine Wünsche über das Allgemeinwohl der Kirche zu stellen, auf einen Hirten trifft, der den Ernst der Angelegenheit, die der in Händen hat, zu erkennen weiss, wird das Risiko vermieden, dass eine bestimmte Unterscheidung daran denken lässt, die Kirche vertrete eine Doppelmoral“ (AL 300).
Wer sich ausführlich und tiefgehend mit dem genauen Wortlaut des päpstlichen Lehrschreibens auseinandersetzt, wird also feststellen, dass der medial und innerkirchlich fast schon als Sensation gefeierte neue Weg in Wirklichkeit nur auf einen verschwindend geringen Teil der Betroffenen angewandt werden kann. Wenn in der Praxis daraus anderes gemacht wird, als lehramtlich vorgesehen ist, findet eine Grenzüberschreitung statt, die auch nach den Worten des Papstes auf jeden Fall zu vermeiden ist.

Geht Franziskus also mit „Amoris laetitia“ in Bezug auf den Umgang mit Wiederverheiratet-Geschiedenen über das hinaus, was das Lehramt und seine direkten Vorgänger formuliert haben? Ja, das tut er! Aber nach gründlicher Prüfung der Sachlage und vertiefter Auseinandersetzung mit den angeführten Bezugsquellen muss man einschränkend darauf hinweisen, dass der Schritt, den er über die Tradition hinausgeht, allenfalls ein kleines Schrittchen genannt werden kann. Dass er damit das Spielfeld der katholischen Lehre überschreitet, davon kann zwar theoretisch, nicht aber praktisch gesprochen werden.

Letztlich bleibt nur zu hoffen, dass Bischöfe und Priester in ihrem pastoralen Umgang mit Wiederverheiratet-Geschiedenen das Schreiben des Papstes genauso präzise lesen, wie es geschrieben und im vorliegenden Text erläutert ist. Denn die vor allem in kirchlichen Kreisen nach Veröffentlichung des Schreibens immer wieder zu hörende Euphorie über die neuen pastoralen Möglichkeiten kann – vor allem angesichts des bei der Lektüre mitlesenden Reformeifers – sehr schnell zu einer falschen Rezeption und gerade dadurch zu pastoralen Grenzüberschreitungen führen. Diese aber gilt es dem Seelenheil der Betroffenen zuliebe strikt zu verhindern.

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