Rede von Martin Grichting zur Kirchgemeindeversammlung

Martin Grichting: Umfrage zum “Bistum Zürich”, Vorgeschichte und weitere Schritte

Quelle

Rede von Martin Grichting zur Kirchgemeindeversammlung, Chur am 25. Mai 2016

Das II. Vatikanische Konzil hat im Jahr 1965 gefordert, dass die Grösse der Bistümer weltweit überprüft werden solle. Dies geschah auch in der Schweiz: Im Jahr 1980 legte im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz eine Kommission ihren Bericht vor. Dieser sah unter anderem vor, den Kanton Zürich vom Bistum Chur abzutrennen und mit Schaffhausen zusammen zu einem “Bistum Zürich” zu vereinigen. Das Projekt kam aber, weil es ein gesamtschweizerisches war, ins Stocken und wurde nie umgesetzt.

Im Jahr 1990 brachte dann die Römisch-katholische Körperschaft des Kantons Zürich gegenüber der Schweizer Bischofskonferenz ihren Wunsch nach einem “Bistum Zürich” zum Ausdruck. Die Bischofskonferenz beantwortete das Gesuch nie. Es ging in der damaligen Problematik unter. Deshalb erneuerte die Zürcher Körperschaft im Jahr 2012 ihr Gesuch an die Bischofskonferenz, die Gründung eines “Bistum Zürich” zu prüfen. Die Bischofskonferenz erklärte jedoch, zuerst müsse der Bischof von Chur sich dazu äussern. Bischof Vitus nahm deshalb das Thema auf und sprach mit den Vertretern der Körperschaft. Sodann trug er das Anliegen dem damaligen Apostolischen Nuntius vor. Dieser unternahm jedoch, da er am Ende seiner Amtszeit war, nichts mehr. In der Folge wurde das Anliegen in Rom besprochen, auch anlässlich des Ad-Limina-Besuchs der Schweizer Bischöfe im Dezember 2014.

Im November 2015 wurde das Thema “Bistum Zürich” schliesslich vom Bischofsrat und von den kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaften aufgegriffen anlässlich einer gemeinsamen Tagung in Zürich. Man lud dazu auch den Weihbischof von Lausanne-Genf-Freiburg ein, Msgr. Alain de Raemy. Der Grund dafür war, dass der Bischof von LGF, Msgr. Charles Morerod, im Hinblick auf die Abtrennung Genfs vom Bistum LGF eine Umfrage hatte durchführen lassen. So entstand anlässlich der erwähnten Sitzung des Bischofsrats mit den Präsidenten der Körperschaften die Idee, auch im Bistum Chur eine Umfrage durchzuführen. Die Körperschaften standen also hinter der Umfrage. Nur Zürich wollte keine Umfrage, und zwar mit dem Argument, es sei doch eh schon alles klar. Bischof Vitus hat dann so schnell wie möglich die Zustimmung des neuen Apostolischen Nuntius für eine Umfrage eingeholt.

Der Bischofsrat hat den Fragenkatalog für die Umfrage danach einstimmig verabschiedet, so dass die Umfrage im März 2016 durchgeführt werden konnte. Um die Objektivität zu wahren, wurde eine externe 2 Stelle beauftragt mit der Durchführung der Umfrage, die “Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften” (ZHAW) in Winterthur. Befragt wurden etwa 900 Personen: die in der Seelsorge Tätigen, die diözesanen Beratungsgremien, die Ordensgemeinschaften und alle rund 400 Kirchgemeindepräsidenten im Bistum. Ebenfalls wurden direkt vom Bischof die Körperschaften, die Evangelischreformierten Landeskirchen und die Kantonsregierungen um ihre Meinung gefragt.

Am 12. Mai 2016 konnte Bischof Vitus den Auswertungsbericht der Winterthurer Hochschule publizieren, zusammen mit einem längeren Schreiben. Beides kann auf der Homepage des Bistums Chur nachgelesen werden. Die Medien haben darüber auch ausführlich berichtet.

Die hauptsächlichen Ergebnisse der Umfrage, die repräsentativ ist, weil fast 50% der Angefragten teilgenommen haben, sind:

1. Man will kein “Bistum Urschweiz”, das aus den Kantonen Schwyz, Uri, Obwalden und Nidwalden bestehen würde. Es wäre zu klein, um lebensfähig zu sein.

2. Die Meinungen, ob es ein “Bistum Zürich” geben soll, sind geteilt, sowohl im ganzen Bistum als auch im Kanton Zürich selbst. Ebenfalls sind die Körperschaften und die Kantonsregierungen unterschiedlicher Ansicht. Es gibt gute Argumente für ein “Bistum Zürich”. Hier ist vor allem die Bedeutung Zürichs als heimliche Hauptstadt der Schweiz zu nennen, auch die Grösse des Kantons und die Anzahl der Gläubigen, die ja heute über 50% der Bistumsangehörigen ausmachen. Da erscheint es wichtig, dass ein Bischof vor Ort ist. So kann er auf die pastoralen Herausforderungen, die doch recht verschieden sind von denjenigen im übrigen Bistumsgebiet, gut eingehen. Gegen das “Bistum Zürich” wurde vor allem geltend gemacht, dass das zurückbleibende Bistum Chur zu schwach würde, dass durch mehr Bistümer mehr Personal in der Verwaltung gebunden würde und dass sich finanzielle Probleme ergeben würden im Bistum Chur.

Angesichts des vielfältigen und ambivalenten Bildes, das die Umfrage betreffend ein mögliches “Bistum Zürich” ergeben hat, hat es Bischof Vitus als verfrüht betrachtet, das Kapitel einfach zu schliessen. Er hat deshalb den Ball zurückgespielt an diejenigen, welche das Thema aufgebracht haben: An die Römisch-katholische Körperschaft des Kantons Zürich. Diese soll nun mit dem Regionalen Generalvikar Dr. Josef Annen klären, ob der Bischof eine kleine Kommission einrichten soll. Deren Auftrag wäre es gegebenenfalls, die Argumente pro und contra vertieft zu prüfen und Vorschläge auszuarbeiten, ob und wie das Projekt “Bistum Zürich” weiterverfolgt werden kann. 3 Das ist heute der Stand der Dinge. Die Körperschaft in Zürich wird sich durch den Regionalen Generalvikar Dr. Josef Annen in den nächsten Wochen zur Frage des Bischofs äussern. Ich kann Ihnen dazu im Moment auch nicht mehr sagen, denn Sie wissen ja: Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.

Ich möchte deshalb noch auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen. Vom Bischof wurde mit zustimmendem Votum des Bischofsrats ausdrücklich darauf verzichtet, in die Umfrage vom vergangenen März eine Frage nach dem so genannten “Doppelbistum” einzufügen. Gemeint ist mit diesem Begriff folgendes: Man möchte das Bistum Chur zwar in seinen bisherigen Grenzen bestehen lassen. Aber allmählich möchte man, im Sinne einer “Salamitaktik”, das Schwergewicht des Bistums von Chur nach Zürich verschieben. Promotor dieser Idee ist der Offizial des Bistums Chur, Bischofsvikar Dr. Joseph Bonnemain. Er ist seit längerem davon überzeugt, dass mit diesem Vorgehen dem Wohl des Bistums Chur und seiner Gläubigen am besten gedient wäre. In diesem Sinn hat er für seinen Arbeitsbereich bereits eine Verschiebung der Gewichte nach Zürich vorgenommen. Er hat das Offizialat, das Ehegericht, das bisher in Chur domiziliert war, weitgehend nach Zürich an den Hirschengraben 66 transferiert. In diesem Stil soll auch das Bischöfliche Ordinariat nach und nach – und damit auch der Diözesanbischof – von Chur nach Zürich verschoben werden. In Chur würde dann noch die altehrwürdige Kathedrale und das Schloss verbleiben. Stattdessen würde die Liebfrauenkirche zur so genannten Konkathedrale, also zur Mitkathedrale. Mit der Zeit würde die Konkathedrale dann – so ist der Plan – zur primären Kathedrale. Der Bischof von Chur würde auf diese Weise binnen von etwa 10 Jahren faktisch nach Zürich verschoben. Er würde dort leben und arbeiten und noch ab und zu für einen Gottesdienst in der Kathedrale Chur anwesend sein. Das Bistum Chur würde dann “Bistum Chur-Zürich” heissen, wobei der Bischofssitz eben faktisch in Zürich wäre.

Mit dem Ziel, diesem Projekt zum Durchbruch zu verhelfen, wurde im Bistum Chur im Jahr 2007 eine Umfrage bei den Kantonsregierungen und den Körperschaften durchgeführt. Ich arbeitete damals, nach meiner Tätigkeit als Pfarrer in Surcuolm und Obersaxen, bereits wieder im Bischöflichen Ordinariat. Und meine Aufgabe war es, sozusagen als Schreibkraft, die Umfrage zu tippen. Das Vorhaben stiess damals allerdings noch auf geteilte Sympathie. Zudem reagierte die Regierung von Graubünden sehr deutlich, indem sie sagte, sie würde sich einer Verschiebung des Bischofssitzes nach Zürich vehement widersetzen.

Als nun durch den neuen Vorstoss der Zürcher Körperschaft von 2012 klar war, dass das “Bistum Zürich” wieder aktuell werden würde, habe ich – für manche vielleicht etwas überraschend – im November 2014 öffentlich ein “Bistum Zürich” 4 befürwortet. Ich konnte damals aus Gründen der Diskretion nicht alle Gründe nennen, weshalb ich das getan habe. Vorwiegend nannte ich das Faktum, dass wir in Zürich mittlerweile sehr viele Migranten haben und dass wir vor allem für diese Gläubigen, die zu einem guten Teil den lebendigen Teil des Zürcher Katholizismus ausmachen, besonders sorgen sollten. Diese Auffassung teile ich nach wie vor. Es ging mir aber noch um etwas anderes. Ich wusste eben aufgrund meiner bisherigen Tätigkeit im Ordinariat, dass es hinter dem Plan A, ein “Bistum Zürich” zu gründen, einen Plan B gab: das Bistum formell in seinen bisherigen Grenzen bestehen zu lassen, aber eben im Sinne des so genannten Doppelbistums und Doppelnamens Chur-Zürich, den Churer Bischofssitz sukzessive nach Zürich zu verlegen.

Die Befürchtung, dass es den Plan B tatsächlich immer noch gibt, hat sich dann leider bewahrheitet. Kaum hatte Bischof Vitus im vergangenen März 2016 begonnen, die Umfrage zum “Bistum Zürich” durchzuführen, lancierten zwei Mitglieder des Bischofsrats in den Medien das Thema Doppelbistum und Doppelnamen. Vielleicht wird jetzt klarer, weshalb ich mich schon Ende 2014 für das “Bistum Zürich” ausgesprochen habe. Wenn dieses entsteht, entgeht der Churer Bischofssitz der Gefahr, marginalisiert zu werden. Denn wenn Zürich abgetrennt wird, wird Chur nicht nur theoretisch Bischofssitz bleiben, sondern auch in Wirklichkeit. Wenn aber Zürich nicht Bistum wird, wird es immer mehr Kräfte im Bistum Chur geben, die zuerst stückchenweise das Bischöfliche Ordinariat und dann den Bischof nach Zürich verschieben wollen.

Die Umfrage vom vergangenen März hat es gezeigt: Immer mehr Stimmen befürworten mittlerweile ein solches Vorgehen zu Lasten des Churer Bischofssitzes. Wir können der Regierung von Graubünden deshalb dankbar sein, dass sie ihre Stellungnahme von 2007 gegen dieses Vorhaben anlässlich der neuen Umfrage von März 2016 noch einmal bekräftigt hat. Dies hat auch Bischof Vitus geholfen, noch einmal klar sagen zu können, dass der Churer Bischofssitz nicht zu einer Art “Castel Gandolfo” gemacht werden darf, also zu einer Art Sommerresidenz oder Depandance des dannzumal in Zürich residierenden und wirkenden Diözesanbischofs. Es wäre nicht der schlechteste aller Gründe, wenn man die Verschiebung des Bischofssitzes nach Zürich aus patriotischen Gründen, auch aus Gründen des Tourismus in einer wirtschaftlich gefährdeten Bergregion, verteidigen würde. Aber es gibt noch andere Gründe, die uns als Christen sicher noch wichtiger sind. Bischof Vitus hat es in seinem Schreiben zur Umfrage gesagt: Der Churer Bischofssitz, der im Jahr 451 zum ersten Mal erwähnt worden ist, ist ein Monument des Glaubens. Es grenzt, wenn man die Geschichte des Churer Bischofssitzes seit dem Ende des Römischen Reichs und der Zeit der Völkerwanderung kennt, fast an ein 5 Wunder, dass es ihn noch gibt. Er ist ein Stein gewordenes Zeugnis des Glaubens, das alles überdauert hat, auch die Reformation, die Konfessionskriege, die Französische Revolution, die Säkularisation der Kirche in Europa im 19. Jahrhundert und vieles mehr. Glaube beruht auch auf dem Zeugnis der vor uns Glaubenden. Und dieses Zeugnis darf man nicht leichtfertig marginalisieren. Glaube hat auch eine emotionale Seite. Er schafft eine emotionale Bindung an die Kirche vor Ort. Und auch wenn einige im Bistum diese Bindung nicht so stark verspüren, weil sie anders oder anderswo kirchlich sozialisiert worden sind, heisst das noch nicht, dass diese Bindung vieler Gläubiger leichtfertig geopfert werden darf.

Das Problem, das die Gläubigen und die Mitarbeitenden in der Seelsorge in Zürich haben mit der derzeitigen Bistumsstruktur, ist aber zweifellos ebenso real und muss ernst genommen werden. Und dieses Problem besteht nicht erst heute. Es besteht seit über 50 Jahren, seit dem Zeitpunkt, als die Kirche im Kanton Zürich personell sowie finanziell selbstständig wurde und auch zahlenmässig immer mehr gewachsen ist. Diese Entwicklung ist auch dem Apostolischen Stuhl nicht entgangen. Deshalb hat er schon im Jahr 1956 vom damaligen Bischof von Chur verlangt, dass er für Zürich einen eigenen Generalvikar einsetzen solle. Dadurch wurde Zürich in den Zustand einer Halbselbständigkeit versetzt. Dieser Zustand hat sich konsolidiert und in den letzten Jahrzehnten noch mehr ausgeprägt. Man kann es so sagen: Zürich ist im Bistum Chur eine halbautonome Teilrepublik. Das heisst: In vielen Bereichen wird in Zürich selbständig gehandelt. Aber immer dann, wenn es wirklich darauf ankommt, wird Zürich von Chur aus geleitet. Das schafft seit Jahrzehnten Missstimmung und Frustrationen in Zürich und in Chur. In Zürich fühlt man sich im eigenen Autonomiestreben durch den Churer Bischof immer wieder eingeschränkt. Und in Chur fühlt man sich verletzt durch allerlei pastorale und mediale Alleingänge der Zürcher Katholiken und ihrer Repräsentanten. Meiner Meinung nach wäre es deshalb an der Zeit, Zürich in die Selbständigkeit zu entlassen. Und das würde dann auch den Charakter von Chur, der Sitz des Bistums Chur zu sein, nicht länger in Frage stellen.

Sie sehen also, dass es für die Zukunft des Bistums Chur und seines Bischofssitzes verschiedene Visionen gibt. Es werden unterschiedliche Wege vorgeschlagen, wie man das Gebiet des derzeitigen Bistums Chur zukünftig gestalten sollte. Selbstverständlich muss man allen, die hier für ihre Sichtweise werben, zugestehen, dass sie damit einzig dem Wohl des Bistums und seiner Gläubigen dienen wollen. Aber wie auch immer es weitergeht: Klar muss den Gläubigen gerade in Graubünden sein, dass es bei der Frage “Bistum Zürich” um mehr geht als nur um Zürich. Es geht auch um Graubünden und um Chur als Bischofssitz. Und deshalb könnte man es “ein Bisschen paradox formuliert” auch so sagen: Wer für das “Bistum Zürich” ist, der ist damit auch für das “Bistum Chur” und für dessen Bischofssitz, wie wir ihn kennen und lieben.

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