Vergebung und Versöhnung
Bischofswort zur Österlichen Busszeit 2016 von Bischof Manfred Scheuer
Liebe Schwestern und Brüder,
am 17. Jänner 2016 wurde ich in das Amt als Bischof von Linz eingeführt. Zu diesem Beginn grüsse ich euch alle von Herzen: die Jungen und die Älteren, die Kinder, die Frauen und Männer, die Kirchgänger, die Distanzierten und Kirchenkritischen, die Begeisterten und die von der Kirche Enttäuschten, die Einheimischen und die Zuwanderer, die vom Wohlstand Verwöhnten und jene, denen das Notwendigste fehlt. Ich grüsse aber auch die aus der Kirche Ausgetretenen und jene, die nicht mehr glauben oder glauben können. Euch allen möchte ich Bischof sein. Mit euch gemeinsam suche ich Blicke und Wege zu eröffnen, damit wir dort, wo wir leben und wirken, die Freude des Evangeliums erfahren und weitergeben können. Zur österlichen Busszeit und zum Jahr der Barmherzigkeit möchte ich einige Überlegungen zu Umkehr, Vergebung und Versöhnung mit euch teilen.
Ausreden und Sündenböcke
Noch nie hat es in der Geschichte der Menschheit eine Kultur gegeben, die so auf Anschuldigung, Outing, Blossstellung und Vorverurteilung ausgerichtet war wie die unsere. Auf den TV-Bühnen wird das mediale Buss- und Geständniswesen geradezu zelebriert. Dem „schuldigen Menschen“ steht der „tragische Mensch“ gegenüber, dem es fern scheint, mit eigener Schuld realistisch umzugehen. In einem Klima der Verdrängung, der Verharmlosung und der Wegrationalisierung des Bösen haben wir einem heimlichen Unschuldswahn zu widerstehen, der sich ausbreitet und mit dem wir Schuld und Versagen, wenn überhaupt, immer nur bei ‚den anderen’ suchen, bei den Feinden und Gegnern, bei der Vergangenheit, bei der Natur, bei Veranlagung und Milieu. Die Bitte “befreie uns von unserer Schuld“ hat sich gewandelt zu einem “Herr, bestätige unsere Unschuld.” Wir haben eine Hochkonjunktur der Ausreden und der Entschuldigungen, einen riesigen Sündenbockbedarf. Unser Verhältnis zu unserer Freiheit scheint zwiespältig. Die Erfolge, das Gelingen und die Siege unseres Tuns schlagen wir uns selbst zu. Im Übrigen aber kultivieren wir die Kunst der Verdrängung, der Verleugnung unserer Zuständigkeit, und wir sind auf der Suche nach immer neuen Alibis angesichts der Nachtseite, der Katastrophenseite, angesichts der Unglücksseite des Lebens – unseres Lebens.
Was ist eigentlich Sünde?
Gott will das gute und geglückte Leben des Menschen. Ein Verstoss gegen das menschlich Gute, gegen das eigene Heil ist Sünde, denn Sünde richtet sich gegen das eigene Wohl, Sünde schädigt, zersetzt das eigene Leben. Im Evangelium wird diese Verweigerung als Ausrede (vgl. das Gleichnis vom Hochzeitsmahl in Mt 22,1-14) oder als Feigheit und Angst angesprochen, denn Sünde ist auch das Vergraben des eigenen Talents in der Erde (Mt 25, 14-30).
Sünde zerstört das Leben zwischen den Menschen, sie zerstört Gemeinschaft. Sünde ist Abkapselung, sie errichtet Mauern und stellt Gitterzäune auf. Das Leben wird zum Kreisen um den eigenen Bauchnabel, zum uneinsichtig beharrenden, fixierten, verkrusteten Monolog. Die Sünde verweist am Ende auf die Isolierstation. Zunächst erscheint es schön, die eigene Macht anderen spüren zu lassen, es erscheint verlockend, zu urteilen und zu verurteilen. Letztlich aber machen solche Haltungen und Verhaltensweisen einsam.
Und schliesslich ist Sünde das Gottwidrige, Abwendung von Gott und Hinwendung zu irdischen Götzen. Wenn wir Mensch vergessen, wer und wie Gott ist und Gott für uns ist, dann geraten wir in Teufelskreise. Von der Bibel her ist der Inbegriff der Schuld und der Sünde die Verweigerung und die Verletzung der Liebe (vgl. Mk 12, 28-32par; Mt 25, 31-46; 1 Joh).
Papst Franziskus rief am Beginn des Jahres der Barmherzigkeit zu einer Bekehrung des Herzens auf. Diese folgt nicht einer Logik der Rache und des Heimzahlens, sondern der Vergebung und Versöhnung. “Jesu Beziehungen zu den Menschen, die ihn umgeben, sind einzigartig und unwiederholbar. Seine Zeichen, gerade gegenüber den Sündern, Armen, Ausgestossenen, Kranken und Leidenden, sind ein Lehrstück der Barmherzigkeit.” Das Gleichnis vom “barmherzigen Vater” und vom “verlorenen Sohn” (Lk 15,11-32) ist vielen vertraut. Jesus macht uns darin deutlich, wie Gott ist und wie Umkehr, Busse und Versöhnung geschieht. Möge das “Jahr der Barmherzigkeit” eine Zeit der Umkehr und Versöhnung, der Heilung von Wunden und der Erfahrung von neuen Lebensmöglichkeiten werden. Drei “Wegweiser” zu Umkehr, Vergebung und Versöhnung möchte ich als Orientierungshilfe auf den Weg in die österliche Busszeit mitgeben:
(1) Zeige deine Wunde
Der Künstler Joseph Beuys hat vor etlichen Jahren mitten in München in einem Fussgängertunnel folgende provokante Szene installiert: Vor einer Betonwand in fahlem Neonlicht stehen zwei Leichenbahren aus der Pathologie, darunter zwei Kästen mit geknetetem Fett und je einem Fieberthermometer, über den Bahren sind zwei Kästen mit Reagenzgläsern angebracht. An der Wand hängen zwei Tafeln mit der Aufschrift: “Zeige deine Wunde!” – Wie sehen günstige Bedingungen zur Heilung von Wunden aus? Eine körperliche Wunde muss bluten können und es muss Luft an sie herankommen. Aber auch seelische Verletzungen heilen nur, wenn wir sie nicht allzu schnell abdecken und zupflastern, wenn emotionale Schmerzen zum Ausdruck und Kränkungsgefühle wie Wut, Scham oder Angst ans Licht kommen dürfen. Hilfreich für solch einen inneren Heilungsverlauf ist es, mit jemandem im Gespräch zu sein, mit dem man offen und ungeschminkt reden kann. Denn wenn wir uns trauen, uns einem Mitmenschen in unserer Not unverstellt zu zeigen, dann können auch wir selbst diese schwierige Wirklichkeit in uns leichter anschauen. Darüber hinaus weitet ein gutes Gespräch den eigenen Blick und eröffnet neue Perspektiven. Wer eine realistischere Sicht vom anderen und von sich selbst und den eigenen Anteilen an einem Konflikt gewinnt, kann die erlittene und vielleicht mitverursachte Verletzung leichter verarbeiten.
(2) Vergangenes verabschieden
Vergebung ist jedoch keine automatische Konsequenz einer solchen emotionalen und gedanklichen Auseinandersetzung. Vielmehr stehen wir irgendwann vor der entscheidenden Frage: Will ich dem anderen vergeben, oder will ich ihm sein verletzendes Verhalten weiterhin nachtragen? Möchte ich mich endlos im Kreisverkehr von Rachephantasien und Schuldzuweisungen drehen, oder will ich die Sache “gut sein” lassen? Diese Entscheidung ist von weitreichender Bedeutung. Denn solange wir uns innerlich und äusserlich nicht aussöhnen, bleiben wir auf den Menschen fixiert, der uns verletzt hat.
Im Unterschied dazu bedeutet Vergeben: Ich höre auf, mir eine bessere Vergangenheit zu wünschen. Ich eröffne mir und dem anderen eine Zukunft, die nicht mehr unter dem Diktat des Gewesenen steht. Es braucht Kraft und Mut und Grösse, um vergeben zu können, und umgekehrt stärkt Verzeihen zugleich das Selbstvertrauen und die Selbstverantwortung.
(3) Vergebung geschehen lassen
Vergeben zu können fällt uns nicht einfach in den Schoss, sondern es braucht das geduldige Arbeiten an Erinnerungen und Gefühlen. Auf dem Weg der Aussöhnung ist aber nicht nur unser Wille gefordert, sondern auch unsere Bereitschaft, Versöhnung geschehen zu lassen. Wenn wir uns bis zu einem bestimmten Punkt um Vergebung bemüht haben, dann kann diese wie eine Frucht in uns heranreifen, bis wir sie eines Tages – hoffentlich – in uns selbst vorfinden. Der Wunsch zu vergeben fordert uns heraus, dass wir uns in Vertrauen und Hoffnung Gott überlassen: wir anerkennen voll Vertrauen, dass wir nicht alles in der Hand haben müssen, sondern von der Hand eines Anderen gehalten sind; und wir setzen auf die Hoffnung, dass dort, wo wir selbst nicht weiterkommen, Gott noch lange nicht am Ende ist.
Beten wir füreinander. Gott segne und behüte euch und alle, die euch anvertraut sind.
+ Manfred Scheuer
Bischof von Linz
Dieser Brief möge am 1. Sonntag der österlichen Bußzeit, am 14. Februar 2016, bei allen Gottesdiensten ganz oder in Auszügen vorgetragen werden. Ausschnitte können auch im Pfarrbrief veröffentlicht werden. Danke!
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