Die Fakten müssen stimmen
“Zeitungsenten” sind keine Erfindung des digitalen Zeitalters – Die Beschleunigung gefährdet aber die Sorgfalt
Die Tagespost, 12. Februar 2016
Enten gab es schon immer – auf dem Teich, aber auch in der Presselandschaft. Nennt man doch Falschmeldungen, die durch einen Fehler oder bewusst von Agenturen, Zeitschriften und Zeitungen verbreitet werden, frei nach dem Schwimmvogel: “Enten” oder “Zeitungsenten”, obwohl diese Tiere, wie schon der Doyen der deutschen Journalistenausbildung, Walther von La Roche (“Einführung in den praktischen Journalismus“), wusste, “auch in anderen publizistischen Gegenden” auftreten können.
Unvergessen die “Ente” von Hitlers Tagebüchern, mit welcher das Magazin “Stern“ 1983 baden ging. Ein paar Jahre später, in den frühen 1990er Jahren, fielen TV-Magazine, darunter das vom damaligen Chefredakteur Günther Jauch geleitete “Stern TV“, auf einen Dokumentarfilmer herein, der es bei seinen Beiträgen mit der Trennung von Fakten und Fantasie, Realität und Inszenierung nicht so genau nahm und gegen die im Pressekodex geforderte “Achtung vor der Wahrheit“ verstiess. Diese Achtung verlangt allerdings auch aufseiten einer Redaktion die Bereitschaft zur Sorgfalt. Die Selbstverteidigung Jauchs war bezeichnend: “Man achtet in erster Linie darauf, ob eine Geschichte stimmig ist.“ (“Der Zeuge Günther Jauch im Filmfälscher-Prozess” von Volker Lilienthal, in: Die Zeit, 1. November 1996)
Nun gibt es im heutigen Zeitalter der digitalen Kommunikation eine ganze Reihe von Geschichten und Informationen, die – zumindest auf den ersten Blick – “stimmig“ wirken und mithilfe der sozialen Netzwerke rasant verbreitet werden und Aufmerksamkeit finden. Nicht selten sind “Enten“ darunter. Allein in diesem Jahr sind bereits erstaunliche Falschmeldungen bekannt geworden. Man erinnere sich etwa an die Geschichte von dem “Linken“-Politiker Julian Kinzel, die es Anfang Januar in diverse Nachrichtenportale und -sendungen schaffte. “Linken-Politiker mit 17 Messerstichen attackiert“, titelte die Frankfurter Rundschau-Online (6. Januar 2016) und begann den Bericht mit folgender Einleitung: “Mit 17 Messerstichen ist das Schweriner Linke-Mitglied, Julian Kinzel, am Montagabend ins Krankenhaus in Wismar in Mecklenburg-Vorpommern eingeliefert worden. Kinzel ist Kreisvorstandsmitglied der Schweriner Linken und war am Montag gegen 17 Uhr in einem Park in der Nähe des Hauptbahnhofs in Wismar spazieren, als drei Angreifer ihn attackierten.” Dass es sich bei den vermeintlichen Angreifern um Neonazis gehandelt habe, legt der weitere Text der FR-Redakteurin nah. Auch taz-Online griff die “Tat“ am selben Tag auf (“17 Stiche gegen links”) und verortete die vermeintlichen Täter im rechtsradikalen Milieu. “In Wismar sollen Rechtsextreme auf einen jungen Politiker der Linkspartei losgegangen sein – und mehrfach zugestochen haben, sagt er.” So falsch und vom vermeintlichen Opfer erfunden die Geschichte – wie sich schon wenige Tage später zeigte – auch war, so gibt es doch einen qualitativen Unterschied bei den zitierten Beispiel-Artikeln. Der taz-Redakteur ging der “Ente“ nicht ganz auf den Leim, sondern bewahrte mit den Worten “sollen“ und “sagt er“ journalistische Distanz. Anders als die FR-Journalistin, die durch den Gebrauch der Worte “war“ und “attackierten“ die indikative Darstellungsweise des vermeintlichen Opfers ungefiltert übernahm – jedenfalls beim Tathergang, bei den Tätern benutzt sie im Text auch ein distanziertes “sollen“. Andere Journalisten entschieden sich für eine ähnlich aufbereitete “halbe Ente“: bei “n-tv online“ etwa findet man einen Text mit der inhaltlich eindeutig falschen Headline “Linken-Politiker mit Messer attackiert“; im Fliesstext dienen Worte wie “vermutlich“ oder “mutmasslich“ als Mittel der journalistischen Objektivität und Distanzierung.
Auch die Geschichte vom vermeintlichen Tod eines syrischen Flüchtlings, der, wie ein Flüchtlingshelfer bei Facebook schrieb, nach langem Warten vor dem LAGeSo (Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales) gestorben sei, erregte dieses Jahr das Land. Jedenfalls für einen Tag. Die Deutsche Presse Agentur (dpa) meldete vormittags am 27. Januar unter dem Titel “Helfer: Flüchtling nach tagelangem Anstehen in Berlin gestorben”: “Ein Flüchtling soll in Berlin gestorben sein, nachdem er tagelang vor dem LAGeSo warten musste. Helfer machen den Behörden nun Vorwürfe.“ Zahlreiche Medien sprangen in ähnlicher Weise wie bei dem Messer-Attacken-Schwindel auf die Meldung und berichteten über den Fall. Die von der Agentur bewusst gesetzte Einschränkung in der Überschrift (“Helfer:“) liess manches Portal, wie etwa t-online.de, grosszügig weg. Warum? Im medialen Hocherregungstakt scheint die alte britische Journalismus-Devise “Be first but first be right” (Sei der Erste, aber zuerst sei richtig) nicht mehr die Priorität zu besitzen. Die Fakten müssen nicht stimmen, es genügt, wenn sie stimmen könnten. Am Nachmittag desselben Tages (27. Januar) meldete dpa: “Berliner Polizei: Flüchtlingshelfer hat alles frei erfunden“. Und erklärte: “Die Nachricht schlug hohe Wellen: Ein Asylsuchender soll in Berlin gestorben sein, nachdem er tagelang vor dem umstrittenen Landesamt LAGeSo warten musste. Doch ein Flüchtlingshelfer hat den Fall erfunden.” Dass dpa an der Welle nicht ganz unschuldig war, lässt sich kaum bestreiten.
Auch kirchliche Medien sind im Kontext sich ständig überschlagender Informationen nicht vor Enten gewappnet. So veröffentlichte die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) am 14. Januar einen Artikel über das Frauenbild und häusliche Gewalt in Spanien. Darin zitierte KNA den Erzbischof von Toledo, Braulio Rodriguez Plaza, mit einem extrem frauenfeindlichen Macho-Satz: “Frauen können verhindern, dass sie geschlagen werden, indem sie einfach tun, was die Männer von ihnen verlangen.” Die Welt, N24 und das Kölner Domradio übernahmen die Meldung. Schliesslich geniesst KNA einen guten Ruf, der etwas kostet. Zwei katholische Bloggerinnen, die des Spanischen mächtig sind, Heike Sander (“Heikes Blog“) und Anna Diouf (bei “disputata.de“), wollten es genauer wissen: Fast zeitgleich überprüften sie die am 27. Dezember 2015 gehaltene Predigt des Erzbischofs in der Originalsprache und formulierten in der Nacht des 14. Januars und am Morgen des 15. Januar eine vollkommen andere Aussage Plazas, als sie das KNA-Zitat nahelegt: Statt einer Rechtfertigung von Prügeln würdige der Erzbischof von Toledo Gesetze, welche die Frauen schützen, und die Kraft der Ehe, welche Täterherzen verwandeln könne.
Obwohl katholische Blogger von manchen in der Kirche kritisch beäugt werden, zog die Recherche-Leistung der Bloggerinnen Kreise. Bis zu KNA. Am 15. Januar um 13.20 Uhr nahm die Agentur den Korrespondenten-Bericht zurück und erklärte, dass der Erzbischof von Toledo “offenbar falsch zitiert” wurde. Um 14.09 Uhr schrieb KNA: “Das dem Erzbischof zugeschriebene Zitat ist falsch. Auch einige andere Äusserungen sind offenbar über spanische Medien falsch oder unvollständig weiterverbreitet worden.” Danach veröffentlichte KNA einen Artikel, in dem ein Sprecher des Erzbischofs das falsche Zitat zurückweist. Es folgte ein Auszug aus dem Predigttext, der die Analyse und Übersetzung der Bloggerinnen bestätigte: “Die meisten Frauen, die getötet werden, werden von ihren Ehemännern umgebracht, die sie (ihre Frauen) nicht respektieren, und sie verstossen, weil sie etwa ihre Anweisungen nicht befolgen (…) Oft hat diese vom Machismo herrührende Reaktion ihren Ursprung darin, dass sie (die Frau) die Trennung eingereicht hat. Es ist wunderbar, dass die Frauen, die bedroht werden, das aussprechen, und dass es durch neue Schutzmechanismen die Möglichkeit gibt, ein Verbrechen zu verhindern. Aber das eigentliche, ernste Problem hat seinen Grund darin, dass es bei diesen Eheleuten keine wirkliche Ehe gab.”
Der Unterschied zur ersten Zitatfassung ist eindeutig. So wie es natürlich auch einen Unterschied macht, ob einem eine “Zeitungsente“ unterläuft, weil man einem Fälscher oder Lügner ein Stück(zu)weit Glauben schenkt oder man sich auf eine externe Quelle zu einem Fall stützt, den man selbst vermutlich sogar leichter hätte überprüfen können. Zumal wenn die Person, die Anstoss erregt hat, der eigenen Organisation angehört. Was nicht heissen soll, dass katholische Journalisten per se nur positiv über katholische Würdenträger berichten müssen. Aber eben auch nicht vorurteilend negativ.
Enten gab es immer schon; und die Digitalisierung scheint ihnen neues Futter zu geben. Glaubwürdig für Rezipienten werden nur die Medienakteure sein, welche die kommerzielle Demut aufbringen, sie im Zaum zu halten – etwa durch Sorgfalt und Entschleunigung. Die Fakten müssen nicht stimmig sein, sondern stimmen. Anlass zu Überheblichkeit hat niemand. Weder Blogger noch Qualitätsmedien.
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