Freiheit, Gleichheit… Sicherheit?

Paris kann sich noch nicht einmal in Ruhe an die Morde vor genau einem Jahr erinnern

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Paris kann sich noch nicht einmal in Ruhe an die Morde vor genau einem Jahr erinnern: Am ersten Jahrestag des Massakers in der Redaktion des Satireblattes “Charlie Hebdo” hat die Polizei im 18. Arrondissement einen Mann erschossen, der mit einem Küchenmesser bewaffnet versucht hatte, in ein Kommissariat einzudringen. Drei Tage lang hatten Terroristen des “Islamischen Staats” im Januar 2015 Frankreich in Atem gehalten; dabei kamen 17 Menschen ums Leben.

“Natürlich ist das Gedenken an die Ereignisse des 7., 8. und 9. Januar eine delikate Angelegenheit”, sagt uns der Vorsitzende der Französischen Bischofskonferenz, Marseilles Erzbischof Georges Pontier. “Schon damals hat man sich gefragt, wie lange diese nationale Einigkeit halten würde, die sich vor allem (bei einer Solidaritätskundgebung) am 11. Januar gezeigt hat; und es wurde bald klar, das würde nicht lange halten. Bei einer Schweigeminute in den Schulen gab es negative Reaktionen, und sehr schnell brachen die politischen Rivalitäten wieder auf.”

Statt zurückzusehen, müsste Frankreich einmal “ehrlich Bilanz ziehen”, findet der Erzbischof von Marseille, einer multikulturellen Hafenstadt mit vielen Problemen. “Man müsste mal überlegen: An welchem Punkt ist unser Land jetzt, ein Jahr danach, auch nach den Attentaten vom 13. November; welche Massnahmen greifen, welche Fortschritte gibt es, wo bleiben Fragen, vor allem angesichts der ideologischen Kontraste. Einige Strömungen unserer Gesellschaft haben ja sofort den religiösen Faktor als etwas Gefährliches bezeichnet, und in diesem ganzen letzten Jahr haben wir auch erlebt, dass diese Tendenz versucht, dem Faktor Religion die Gründe für diese Attentate und überhaupt für die Dramen in der Welt anzulasten. Aber dem widersprechen wir aufs Entschiedenste: Der Faktor des Glaubens ist keiner, vor dem wir Angst haben müssten, im Gegenteil, man sollte sich darüber klarwerden, dass er überhaupt eine Quelle von Gesellschaft und Zusammenleben darstellt!”

“Wir sind Charlie!“ Das ist ein Jahr her. Seitdem hat es noch die Anschläge in Paris vom 13. November gegeben, denen 130 Menschen zum Opfer fielen – und auch die Regionalwahlen, bei denen der rechtsextreme “Front National” im ersten Durchgang auf Spitzenergebnisse kam. “Wir sind ein bisschen erstaunt darüber, dass es jetzt dauernd neue Debatten gibt über laicité, laicité, laicité… Keiner unter den Gläubigen stellt doch den weltlichen Charakter des Staates in Frage, so wie er sich seit über einem Jahrhundert manifestiert und mit dem wir de facto gut leben können. Doch einige profitieren von der jetzigen Situation, um die laicité in die Gesellschaft zu transportieren und dadurch all die Formen zu beseitigen, in denen sich der Glaube öffentlich ausdrückt. Hier allerdings steht ein wichtiger Aspekt unserer Gesellschaft auf dem Spiel.”

Die laicité – ein Wort, das sich kaum richtig ins Deutsche übersetzen lässt – ist seit etwa hundert Jahren in Frankreich Gesetz. Immer wieder, erst recht seit dem Amtsantritt des sozialistischen Präsidenten Hollande, wird sie dazu eingesetzt, um Religion im öffentlichen Raum zurückzudrängen; das reicht vom Verbot religiöser Symbole in der Öffentlichkeit bis zu laicité-Unterrichtsstunden an den Schulen. Muslime – zumal in den armen Trabantenstädten, den Banlieues – werden dadurch verunsichert und dem Staat entfremdet; Katholiken, die etwa durch die “Manif pour tous“ in den letzten Jahren stärkere öffentliche Resonanz finden, fühlen sich angegriffen. Ein Hauch von Kulturkampf weht über die Seine.

“Ein Jahr nach dem Anschlag auf “Charlie Hebdo“ kann man nur feststellen, dass unsere Gesellschaft weiter fragil ist und sich relativ leicht aufheizen lässt, wenn wir nicht wachsam bleiben. Die Angst ist immer ein negativer Faktor, weil sie die einen gegen die anderen aufhetzt und uns Entscheidungen treffen lässt, die manchmal irrational oder unvernünftig sind – das ist gefährlich. Wir brauchen eigentlich eine Anstrengung aller, um in diesem Land gut zusammenzuleben. Man sollte mehr für Brüderlichkeit tun, weniger für die Angst, dann werden wir die schwierigen Momente überwinden, die wir jetzt in Frankreich erleben.”

Das ist allerdings im Moment nicht der Fokus der Pariser Regierung. Die setzt auf Sicherheit, auf schärfere Gesetze, auf mehr Polizei-Planstellen und die Bewaffnung auch von Kommunalpolizisten. Der Erzbischof von Marseille weiss nicht so recht, was er davon halten soll: “Das ist gut und gleichzeitig schlecht“, meint er. “Im Namen der Sicherheit oder der Verteidigung lässt sich heute hier alles rechtfertigen. Natürlich ist es die Aufgabe des Staates, die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren; aber das zum Wesentlichen schlechthin zu erklären, könnte sich auf längere Sicht als enttäuschend und gefährlich herausstellen; daraus können schwerwiegende Spaltungen entstehen.”

rv 08.01.2016 sk

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