Chance zu mehr Menschlichkeit

Eine Krankheit wird zum Gesellschaftsproblem jenseits des medizinischen Fortschritts – Und zum Ernstfall für Christen

Von Jürgen Liminski

Die Tagespost, 04. Januar 2016
ALCOVE: Alzheimer Cooperative Valuation in Europe

Die Mega-Spende des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg soll auch der Erforschung unheilbarer Krankheiten, zum Beispiel Alzheimer, und ihrer Therapie zugute kommen. Unabhängig von Zuckerbergs Intentionen – solche Spenden ermöglichen mehr Menschlichkeit. Unheilbare Krankheiten sind eine Wunde der Menschheit. Einige Zahlen mögen das unterstreichen: Heute haben wir nach Angaben der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft 1,4 Millionen Alzheimer-Patienten in Deutschland, in zehn Jahren werden es nach Schätzungen der Fachleute mindestens zwei Millionen sein. Und das gilt nicht nur für Deutschland. Die rapide Alterung in Europa potenziert das Problem auch für die EU. Nach den Schätzungen von Alcove, der Alzheimer Cooperative Valuation in Europe, einer Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus 19 Staaten der EU, gibt es derzeit etwa sieben Millionen Patienten, 2035 werden es mindestens elf Millionen sein. Alzheimer wird ein massives Problem – für die Gesundheitssysteme, für die Pflegedienste, für die Familien. Die Frage ist: Wie gehen wir, wie geht die Gesellschaft mit diesem Problem jenseits der Forschung um?

Nach heutigen Massstäben sind diese Kranken nutzlos für die Gesellschaft. Sie haben kein Neu-Gedächtnis. Die hirnorganisch bedingte Einschränkung vor allem der intellektuellen Fähigkeiten sowie der zeitlichen, örtlichen und situativen Orientierung beraubt sie der Leistungskraft, sie können nicht mehr arbeiten, nichts mehr leisten, sie kosten nur noch Geld. Da ist es, schreibt Manfred Lütz in seinem Bestseller “Irre – wir behandeln die Falschen”, “eine Versuchung, diesen Menschen den Ausgang zu zeigen. Exit heisst eine entsprechende Organisation in der Schweiz, die kaputten Menschen den Weg zum Tod ebnet. In einer solch kalten Diktatur der auf ihre computerähnlichen Eigenschaften stolzen Gesunden ist kein Platz für die Emotionalen, die Schwachen, die Empfindsamen und die Demenzkranken.” Aber, so Lütz, “die eigentlich menschlichen Fähigkeiten, Liebe, Vertrauen, Milde, Barmherzigkeit, Dankbarkeit, Freundlichkeit, Solidarität, Freude, lustvolles Leben im Bewusstsein der Unwiederholbarkeit jedes Moments, bleiben auch beim Demenzkranken lange erhalten”. Deshalb: Sich um Alzheimerkranke zu kümmern geht nicht ohne Freundschaft, geht nicht ohne Liebe.

Die alten Griechen hatten zwei Gesellschaftsmodelle. Das Konsensmodell und das Konfliktmodell. Für Aristoteles war die Freundschaft das Band der Gesellschaft. “Freundschaft gehört zum Nötigsten im Leben”, meinte er. Die beste Form der Freundschaft nannte er jene, bei der beide Freunde selbstlos und gratis einander Gutes wollen. Das verbinde dauerhafter als eine Freundschaft, in der die Freunde nur um eines Vorteils willen zusammenlebten. Es versteht sich von selbst, dass diese aristotelische Form von Freundschaft auf Liebe beruht und zwar im klassischen Sinn, wie es 1 500 Jahre später Thomas von Aquin definierte: Jemandem etwas Gutes tun wollen.

Den einzelnen Menschen als Kind Gottes begreifen

Aber wenn der Alzheimerkranke gar nicht mehr fähig ist, das Gute zu erkennen, das man ihm tun will, hat das dann noch einen Sinn? Es hat. Diese Frage nach dem Sinn werdenden oder endenden Lebens wurde auch kurz nach dem Krieg gestellt. 1949, als die Menschen noch hungerten und nur überleben wollten, als die Brandbilder noch im Gedächtnis loderten, zu dieser Zeit verfasste Romano Guardini eine kleine Schrift über das Recht des werdenden Menschenlebens. Im Abschnitt mit dem Titel “der entscheidende Gesichtspunkt” schrieb er: “Nicht deshalb ist der Mensch unantastbar, weil er lebt und daher ein Recht auf Leben hat. Ein solches Recht hätte auch das Tier, denn das lebt ebenfalls… Sondern das Leben des Menschen darf nicht angetastet werden, weil er Person ist.” Dann definiert Guardini diesen Begriff und fährt fort: “Person ist die Fähigkeit zum Selbstbesitz und zur Selbst-Verantwortung; zum Leben in der Wahrheit und in der sittlichen Ordnung. Sie ist nicht psychologischer, sondern existenzieller Natur. Grundsätzlich hängt sie weder am Alter, noch am körperlich-seelischen Zustand, noch an der Begabung, sondern an der geistigen Seele, die in jedem Menschen ist. Die Personalität kann unbewusst sein, wie beim Schlafenden; trotzdem ist sie da und muss geachtet werden. Sie kann unentfaltet sein wie beim Kinde; trotzdem beansprucht sie bereits den sittlichen Schutz. Es ist sogar möglich, dass sie überhaupt nicht in den Akt tritt, weil die physisch-psychischen Voraussetzungen dafür fehlen wie beim Geisteskranken oder Idioten. Dadurch aber unterscheidet sich der gesittete Mensch vom Barbaren, dass er sie auch in dieser Verhüllung achtet. Diese Personalität gibt dem Menschen seine Würde… Die Achtung vor dem Menschen als Person gehört zu den Forderungen, die nicht diskutiert werden dürfen. Die Würde, aber auch die Wohlfahrt, ja endgültigerweise der Bestand der Menschheit hängen davon ab, dass das nicht geschehe. Wird sie, die Würde, in Frage gestellt, gleitet alles in die Barbarei.”

Den einzelnen Menschen als Person, als Kind Gottes zu begreifen unabhängig von Haben und Leistung. Hier liegt der Sinn, ja die Leistung der Alzheimerkranken. Sie zwingen uns zur Achtung der Würde, mithin zur Menschlichkeit. Sie appellieren an unsere Freundschaftsfähigkeit, an unsere Fähigkeit zu selbstloser Liebe. Sie erinnern uns durch ihre Präsenz an fundamental menschliches Verhalten, ohne das wir unseren zivilisatorischen Standard und unseren Fortschritt vergessen können. Sie werfen uns zurück auf den christlichen Kern des Zusammenlebens. Sie wissen nicht, was sie tun – und gerade deshalb schulden wir ihnen Dank.

Wie können wir diese Dankesschuld begleichen? Das ist das Thema der Therapien und hier bewegt man sich in einer interdisziplinären Grauzone. Sicher ist: Die Krankheit zeichnet sich dadurch aus, dass das Neugedächtnis, das für den Alltag so wichtig ist, nachlässt und schliesslich aussetzt. Dagegen funktioniert das Altgedächtnis manchmal besser als bei gesunden Menschen. Das ist der Ansatz für manche Therapien. Zum Beispiel die Gartentherapie oder die Musiktherapie. Sie beleben über sinnliche Wahrnehmungen wie Riechen und Hören Erinnerungen aus dem Altgedächtnis. Der Duft frischer Erdbeeren, eines Fliederstrausses, eines Rosenstocks oder die Melodien eines alten Schlagers, die auch bei uns schon im Hirn erklingen, wenn wir nur die Titel hören, all diese Erinnerungen sind an Emotionen gebunden, wecken Synapsen, die vielleicht aus der späten Jugend stammen, aus einer Zeit der Verliebtheit, vielleicht aber auch aus der Kindheit, einer Zeit der Unbeschwertheit, der Heimat und Geborgenheit, einer Zeit des kleinen oder grossen Glücks. Marlies Schultke, protestantische Pfarrerin der Trinitatisgemeinde in Charlottenburg, bietet seit neun Jahren einen Gottesdienst speziell für Demente an. Mit Erfolg – die Bänke sind stets voll besetzt. Wenn die Glocken läuten und die Orgel spielt, erinnern sich die alten Menschen zum Beispiel an ihre Konfirmation oder andere Gottesdienstbesuche. Das seien Erinnerungen an die Jugendjahre und da müsse man einfach nur anklopfen, “die hören das dann“, sagt Pfarrerin Schultke. Der Altarraum ist bei diesen Gottesdiensten mit grossen Bildern gefüllt, die Menschen in der Kleidung der zwanziger Jahre zeigen, und in jedem Gottesdienst wird das Lied “Weisst Du wieviel Sternlein stehen” gesungen. Frau Schultke erinnert sich: Ein Mann, der eine Aphasie hatte, eine Sprachstörung, und eigentlich gar nicht mehr reden konnte, sang plötzlich mit. “Wir drehten uns um, er sang wirklich mit,“ erzählte sie,”„er hat natürlich danach wieder aufgehört zu singen, aber er konnte, durch das Miteinander angeregt, wirklich singen. Das war toll.”

Menschliche Beziehungen gegen Krankheit

Das Hören, Schmecken und Riechen, also die Sinnesorgane, die der Mensch als erste entwickelt und zwar noch im Mutterleib, prägen die Persönlichkeit sehr früh. Das Lieblingslied des neugeborenen Säuglings ist das Lied, das die Mutter während der Schwangerschaft summte oder sang. Es ist das vertrauteste und wiegt das Kind am ehesten in den Schlaf. Es kann diese Wirkung vielleicht auch im hohen Alter entfalten. Elmar Trapp, Leiter der Altenheimseelsorge in Köln, hat in seinem Konzept den Punkt “Begegnung an den Betten der Alten“. Er will “Ein-Gute-Nacht-Ritual“ einführen und, wie er sagt, “herausfinden, welches das Lieblingsgebet oder das Lieblingslied ist“. Emotionen sind die Architekten des Gehirns, schrieb Stanley Greenspan, ein Pionier der Bindungsforschung. Sie sind auch, wenn man so will, die Architekten der Erinnerung, die Architekten späten Glücks.

Der Körper hat jedenfalls auch ein Gedächtnis und die Hirnforschung hat darauf vielfach hingewiesen. Der Neurobiologe Joachim Bauer aus Freiburg hat dazu ein Buch geschrieben mit dem Titel “Das Gedächtnis des Körpers”. Es steht in der Linie der amerikanischen neurobiologischen Forschung, die, wie der Nobelpreisträger Eric Kandel etwa, darauf hinweist, dass die neuen Entdeckungen über die Verbindung zwischen “mind” (Geist) und “brain” (Gehirn) ein Umdenken in der Medizin erfordern. Da alles, was wir geistig tun, seelisch fühlen und in Beziehungen gestalten, seinen Niederschlag in körperlichen Strukturen findet, mache eine Medizin für “Körper ohne Seelen“ ebenso wenig Sinn wie eine Psychologie für “Seelen ohne Körper”. Joachim Bauer beschreibt in diesem Sinn eine faszinierende Tatsache, nämlich dass Faktoren, die Gene steuern und Gesundheit beeinflussen können, zu einem wesentlichen Teil aus dem Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen kommen. Überall da, wo sich Quantität und Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen vermindern, erhöhe sich das Krankheitsrisiko. Und zwischenmenschliche Beziehungen, das heisst eben auch Emotionen. Man könnte auch sagen: Liebe. Oder um mit Jean Jacques Rousseau zu sprechen: “Der Mensch, das soziale Wesen, ist immer wie nach aussen gewendet: Lebensgefühl gewinnt er im Grunde erst durch die Wahrnehmung, was andere von ihm denken”.

Diese auch für Laien einfach nachvollziehbare Erkenntnis liegt manchen Therapiemodellen zugrunde. Es ist eigentlich wie bei kleinen Kindern, auch sie haben kaum Inhalte im Neugedächtnis, sie leben von Zuwendung und von Aktivität. Das ist auch das Prinzip der Gartentherapie. Die Sinneserinnerungen – Riechen, Hören und Schmecken, die der Mensch zuerst gelernt hat – werden abgerufen und das Sensorische, die Motorik und die Konzentration gefördert. Das Tasten und Fühlen der Pflanzen, das Modellieren der Erde und das alles an der freien Luft. Die Naturerfahrung gepaart mit Kommunikation, das Sensorische und Emotionale bei der Pflege der Pflanzen und dann auch noch das Erfolgserlebnis der Ernte, das schafft Freude und Wohlempfinden. Thomas Haase, Rektor der Hochschule für Agrar-und Umweltpädagogik in Wien, an der Gartentherapeuten ausgebildet werden, verweist auf Studien, die zeigen, dass “in der Geriatrie durch den Einsatz von Gartentherapie die Einnahme von Antidepressiva signifikant abgenommen hat und die Mobilität länger erhalten blieb”.

Der späte Alzheimerpatient weiss nicht mehr, wo er ist, welches Datum wir haben, wie der Name seiner Betreuerin, seines Betreuers ist. Er lebt in der totalen Gegenwart. Und ist nicht gerade das auch ein ungemein wertvoller Hinweis? Wir leben in der Vorstellung, die Vergangenheit abgearbeitet zu haben und die Zukunft abarbeiten zu müssen. Aber ist das Leben nicht die Gegenwart? Das hat nichts zu tun mit einer Lebensphilosophie vom Stil Carpe Diem. Man muss planen, um zu gestalten, erst recht wenn man Familie oder Verantwortung auch für andere Menschen hat. Aber in dieser Planung sollte, und das sagen uns die Alzheimer-Mitmenschen, auch die Zweckfreiheit, die Zeit, die nicht Geld ist, ihren Platz haben. Das Gespräch, die selbstlose Zuwendung, das Staunen über eine Erkenntnis, all das nannten die Griechen Musse, es war für sie der Höhepunkt des Lebens. Schola, von dem das Wort Schule kommt, ist das lateinische Wort für das griechische Wort Musse. Bei der Übertragung vom Griechischen ins Deutsche hat sich etwas Grundlegendes verdreht. Bei Aristoteles hiess es, Zentrum unserer Kultur muss die Musse sein, nicht die Arbeit. Der Mensch sei, so schrieb er in seiner Metaphysik, “unmüssig”, also geschäftig, arbeitend, “um Musse zu haben”. Man arbeite, um zu leben, sagt der Volksmund heute. Diese alte Lebensweisheit bringen Alzheimermenschen in Erinnerung.

In der Praxis denkt man freilich nicht immer an Aristoteles. Ein Praktiker, der frühere Leiter des Sozialamtes in Bonn, Dieter L., hatte ein Leitmotiv: “Die Qualität einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit Minderheiten umgeht, mit den Alten und Dementen, mit Behinderten und Süchtigen”. Hier stehe die Gesellschaft, also auch der Staat, im eigenen Interesse in der Pflicht, nicht nur den Kranken, sondern auch den betroffenen Angehörigen zu helfen. Auch das ist Teil der Gegenwart. Gewiss, jeder braucht, schon wegen des gesellschaftlichen Lärms, seinen eigenen Rückzugsraum, Alzheimerkranke allerdings je nach Stadium eine Betreuung rund um die Uhr.

Stösst hier die Menschlichkeit an ihre Grenzen? Die politische Diskussion darüber ist in Gang. Ihr Ausgang oder auch schon Fortgang wird über die Qualität der Gesellschaft Aufschluss geben, ob wir dekadent werden bei all unserem Fortschritt oder Mensch bleiben. Dekadenz gab es auch schon zu Zeiten von Aristoteles. Die Sophisten propagierten in diesem Sinn ein Gesellschaftsmodell, in dem der eigene Nutzen absolute Priorität beanspruchte. Was technisch geht, wird gemacht, ohne Rücksicht auf Verluste, das war ihr Credo. Es ist ein Modell der Brutalität, der Repression. Auch heute kann man sagen: Der alte Streit um das Gesellschaftsmodell ist nicht entschieden. Wie wir mit Alzheimerkranken oder überhaupt den Schwachen umgehen, das wird Aufschluss darüber geben, ob wir eine solidarische, menschliche Gesellschaft bleiben oder in eine repressive, barbarische abzugleiten drohen. Zu beidem ist der Mensch wohl fähig, wie die Geschichte zeigt.

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