Wo Sultan und Zar konkurrieren

Militärische Luftraumverletzung ist keine Petitesse, der Abschuss eines Kampfjets noch weniger

Stephan BaierVon Stephan Baier

Die Tagespost, 02. Dezember 2015

Militärische Luftraumverletzung ist keine Petitesse, der Abschuss eines Kampfjets noch weniger. Dennoch ist rational nicht zu erklären, warum die Präsidenten Putin und Erdogan derart auf Eskalation setzen. Russland und die Türkei sind wirtschaftlich eng verzahnt. Eine intensivere Zusammenarbeit wäre im Interesse beider Staaten, und die von Moskau verhängten Sanktionen schaden beiden. Jenseits rationaler Erwägungen ist die Eskalationsstrategie jedoch erklärbar: Beide Staaten haben trotz ihrer Beteuerungen, in Syrien den IS zu bekämpfen, eine andere politische Agenda. Moskau will mit Assad auch seine militärische Präsenz am Mittelmeer und seinen politischen Einfluss in Nahost zementieren. Ankara will mit Assads Sturz zur führenden Ordnungsmacht im Orient werden und einen zweiten Kurdenstaat verhindern. Zu den politischen kommen die persönlichen Agenden der Präsidenten, die mit Macho-Gehabe allein nicht ausreichend erklärt sind: Putin und Erdogan verstehen sich über ihre Ämter, ja über ihre Staaten hinaus als Identifikationsgestalten für einen geschichtlich-kulturellen Grossraum.

Erdogan sieht sich nicht nur als Erbe Atatürks, sondern auch der Sultane – und strebt nach einem Einflussraum, der sich von Albanien und Bosnien bis Turkmenistan erstreckt. Putin sieht sich nicht bloss als Erbe der Sowjetunion, sondern auch der Zaren – und strebt nach einem eurasischen Einflussraum, der weit über den einstigen Ostblock hinaus die orthodoxe Welt umfasst, als deren Vormund und Schutzmacht sich die Zaren einst sahen.

Nur so ist auch der von den verständigsten Putin-Verstehern nicht verstehbare Widerstand Moskaus gegen einen NATO-Beitritt Montenegros erklärbar. Montenegro grenzt weder an Russland noch an die Sowjetunion, der Putin nachtrauert, noch an den einstigen Ostblock. Die Zaren sahen Montenegro einst als Teil der von ihnen zu dirigierenden orthodoxen Welt, als strategisches Tor zur Adria – und als Spielplatz für ihren Konkurrenzkampf mit den Sultanen. Heute prallen die Interessen des Zaren und des Sultans neuerlich hart aufeinander: auf dem Balkan wie an der Levante.

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