Netanjahus Kurzsichtigkeit
Erneut wird das Heilige Land von Gewalt erschüttert, reisst die Welle des Terrors seit Wochen nicht ab
Die Tagespost, 09. Oktober 2015
Erneut wird das Heilige Land von Gewalt erschüttert, reisst die Welle des Terrors seit Wochen nicht ab. Wie bereits im Herbst letzten Jahres ist erneut der Jerusalemer Tempelberg das Epizentrum des Konflikts, erhält der Jahrhundertstreit zweier Völker um Land und Identität eine bedrohlich religiöse Färbung.
Israels Premier Benjamin Netanjahu fällt derweil nichts Besseres ein, als drakonische Anti-Terror-Massnahmen zu verkünden. Am Donnerstag wandte sich ein Regierungschef an die Menschen, der offenbar an politischer Kurzsichtigkeit im fortgeschrittenen Stadium leidet. Nicht, dass der Schutz seiner Bevölkerung vor Terrorismus nicht seine erste Pflicht wäre. Und für palästinensische, häufig vom radikalen Islam inspirierte Mörder, die mit Messern auf Israelis losgehen, darf er wirklich keine Sympathie aufbringen. Aber Polizei und Geheimdienste können nicht wettmachen, was Netanjahu an Politik und diplomatischer Weitsicht über Jahre hat fehlen lassen. Unter dem Druck der neuen Obama-Regierung rang er sich, der einer der lautesten Hetzer gegen Oslo war, 2009 ein schmallippiges Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung ab. Das war damals eine Sensation. Doch Taten folgten den bewusst nebulös gewählten Worten aber seither keine. Im Gegenteil, der Siedlungsbau wurde mit Kraft fortgeführt. Für Zuschauer in Washington und europäischen Hauptstädte geführte “Friedensgespräche“ scheiterten mehrmals erwartungsgemäss. Netanjahu steht heute einer strukturell kompromiss-unfähigen Regierung vor. Nationalistische und religiös extremistische Kräfte bis hinein in seine eigene Partei hindern ihn an Schritten auf die Palästinenser zu, selbst wenn er wollen würde.
Jahrelang herrschte in den besetzten Gebieten und Israel relative Ruhe. Netanjahu hätte diese Zeiten sowie die für Israel günstigen Entwicklungen in der Region nutzen können, um mit beherzter Klugheit und aus einer Position der Stärke heraus echte Verhandlungen zu beginnen. Dies ist nicht erfolgt. Stattdessen hat er Mal um Mal Palästinas Radikale gestärkt, indem er die Moderaten um Palästinenserpräsident Mahmud Abbas geschwächt hat. Abbas ist sicher nicht vollkommen. Viele seiner Äusserungen sind nicht hilfreich. Doch einen gemässigteren Partner als den 80-Jährigen wird Israel nicht bekommen. Seit Jahren stellt Abbas unter Beweis, dass er gegen Terror und für Verhandlungen ist. Die vielen Palästinensern verhasste Sicherheitszusammenarbeit zwischen Ramallah und Jerusalem spricht ebenfalls für Abbas.
Wenn Abbas kürzlich vor der UNO erklärte, er fühle sich nicht mehr an die in Oslo Anfang der neunziger Jahre ausgehandelten Verträge gebunden, ist dies keine Kleinigkeit. Andererseits ist für die Palästinenser fraglich, welche Optionen sie überhaupt haben. Die Rückkehr zur Gewalt spielt letztlich Israels Hardlinern in die Hände. Die Auflösung der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Sicherheitszusammenarbeit würde sicher ins Chaos führen. Die Mehrheit der Palästinenser steht deshalb der jüngsten Terrorwelle passiv gegenüber. Weder beteiligt sie sich aktiv, noch tut sie etwas dagegen.
Optimisten halten Oslo noch nicht für tot. Ein Funke Leben mag noch darin stecken. Aber wie lange noch?
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