Das letzte Abenteuer

Was haben Christen anzubieten

Was haben Christen anzubieten in einer Zeit, in der “Sterbehilfe” hohe gesellschaftliche Zustimmung erfährt, und die demographische Lage argwöhnen lässt, eine Erleichterung der selbst gewünschten “Erlösung” sterbewilliger Alter und Kranker könne eines Tages durchaus politisch nicht unerwünscht sein?

Von Monika Metternich

Die Tagespost, 04. Mai 2015

In der gesellschaftlichen Debatte um aktive Sterbehilfe, assistierten Suizid und Tötung auf Verlangen ereignet sich eine merkwürdige Begriffsverschiebung. “Guck mal, wer da spricht” könnte oft zum Wahlspruch werden, wenn es um jene “letzten Dinge” geht, für die scheinbar Freund und Feind dieselben Begriffe für diametral gegensätzliche Positionen nutzen.

“Ich kann Menschen helfen, schön zu sterben“, sagt da zum Beispiel eine Hospizmitarbeiterin in einem “Spiegel”-Artikel – und sie meint damit ein gutes, schmerzfreies, natürliches Sterben. Das “schöne Sterben” ist aber auch der Wortsinn von “Euthanasie”, ebenso wie “Sterbehilfe” inzwischen zum Synonym für das sogenannte “autonome Sterben”, sprich: die assistierte Selbsttötung, geworden ist. Den Satz: “Was wir brauchen, ist eine positive Kultur des Sterbens, also eine Einbeziehung des Sterbens in das Leben, umfassende Fürsorge und Beratung” könnte auch der engagierteste Lebensschützer genau so formulieren. Er stammt aber von Thomas Fischer, seines Zeichens Richter am Bundesgerichtshof und Kämpfer für eine “Öffnung der sogenannten aktiven Sterbehilfe, also der Tötung auf Verlangen.”

Gleiches gilt für die Rede vom “Sterben in Würde”. Ist es den Befürwortern der assistierten Selbsttötung wichtigstes Stichwort, argumentieren die Gegner der aktiven Sterbehilfe mit demselben Begriff: “In Würde stirbt, wer anerkennt, dass sein Leben als solches unverfügbar ist.” Nun wird es gänzlich unübersichtlich, denn jeder, der mitten im Leben steht, weiss, dass sein Leben in den seltensten Fällen “unverfügbar” ist. Schon die kleinen Mädchen lernen von Model-Mama Heidi Klum, dass der Kunde bestimmt, was sie zu tun (und zu lassen) haben und nicht etwa sie selbst. Und seien wir ehrlich: Es gibt kaum irgendeinen Beruf – vielleicht abgesehen von dem des wohlhabenden Privatiers – in dem Verfügbarkeit nicht Priorität Nummer Eins darstellte. Unzählige Besitzer eines Firmensmartphones wissen ein oft unglückliches Lied davon zu singen, wie selbst ihr Privatissimo durchdrungen ist von der Forderung ständiger Verfügbarkeit. Und jede Mutter wird zugeben, dass Verfügbarkeit bei Tag und Nacht ein wesentlicher Baustein des Grundvertrauens ihrer Kinder ist. Das Leben besteht – zumindest im Verständnis von Nichtphilosophen – aus annähernd ständiger Verfügbarkeit, sprich: Einschränkung der Autonomie. Zum so gängigen Satz der deutschen Bischofskonferenz: “In Würde stirbt, wer anerkennt, dass sein Leben als solches unverfügbar ist”, könnte daher nicht nur der gläubige Christ in der Überzeugung, dass der Mensch keine volle Verfügungsgewalt über sein Leben habe, sondern auch manch einer zustimmend nicken, der den Slogan “Mein Ende gehört mir” vertritt und mit ihm das Recht auf ein “selbstbestimmtes Sterben”. Wenigstens am Ende soll das Leben “unverfügbar” sein. Ob eine Begriffsklärung in einer Situation noch etwas nutzt, in der nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach rund 70 Prozent der Deutschen quer durch alle Bildungsschichten – und auch unter Christen eine Mehrheit – die Möglichkeit begrüssen, Schwerkranke ihr Leben (assistiert) beenden zu lassen, sei einmal dahingestellt. Begriffsklarheit in einer sehr wesentlichen moralischen Frage unter veränderten Vorzeichen ist sicher vonnöten. Die beleidigte Klage, man habe “uns” unsere Begriffe kurzerhand stibitzt, sie wie einen Strumpf auf links gewendet und so in ihr Gegenteil verdreht, führt wohl kaum in der Sache weiter.

Was – ausser dem absoluten Tötungsverbot, der Warnung vor einer drohenden Euthanasiewelle und dem Gebrauch inzwischen zweideutiger Begriffe – haben wir Christen jedoch anzubieten in einer Zeit, in der “Sterbehilfe” hohe gesellschaftliche Zustimmung erfährt, und die demographische Lage argwöhnen lässt, eine Erleichterung der selbst gewünschten “Erlösung” sterbewilliger Alter und Kranker könne eines Tages durchaus politisch nicht unerwünscht sein?

Was zunächst interessant ist: So intensiv die Debatte über Sterbehilfe geführt wird, so ungern denkt der Einzelne über sein eigenes Sterben nach. Klar ist nur: Schmerzlos soll es sein, schnell soll es gehen. Viele wünschen sich, im Kreise der Familie und zuhause sterben zu können. In einer Zeit, in der Familienstrukturen sich verändern und zerbrechen, in der viele Menschen überhaupt keine Familie haben, wächst bereits im gesunden Leben ein mulmiges Gefühl, wie das eines Tages sein könnte mit dem Sterben: Wer wird mir beistehen? Werde ich leiden? Wer wird Sorge dafür tragen, dass ich es gut “schaffe”? Lieber nicht darüber nachdenken. Der gesellschaftliche Diskurs über die Sterbehilfe entlastet dabei: Sie bleibt für den (noch) nicht Betroffenen angenehm theoretisch. Mögen die vorgebrachten Beispiele Sterbewilliger noch so ans Herz gehend sein, mögen die Appelle derer, die das Leben unbedingt schützen wollen bis zum Tod, auch philosophisch einleuchtend wirken – letztlich geht es immer um Andere. Sigmund Freud sah in der Verdrängung des Todes sogar eine menschliche Tendenz, die so weit gehe, dass im Grunde genommen niemand an seinen eigenen Tod glaube. Ein jeder hofft jedenfalls insgeheim, dass diese Frage nicht allzu nah an ihn selbst herankommt, zum Beispiel durch eine schwere Krankheit. Eine riesige Mehrheit antwortet auf die Frage, wie man sich den eigenen Tod wünsche: Schmerzlos, unerwartet und schnell.

Dabei könnte man es auch ganz anders sehen. Hierfür muss aber das gesamte Leben in den Blick genommen werden, zu dem der Tod nun einmal dazugehört. Stellen wir uns das Leben wie eine Reise vor, bei der bei Antritt nicht bekannt ist, wohin sie am Ende hingeht. Wer vor lauter Angst, wohin die nächste Etappe ihn wohl führen wird, ob man Neues entdecken, Aufregendes erleben oder vielleicht auch Gefahren zu bestehen haben wird, lieber im heimischen Sessel sitzen bleibt oder die Reise vorzeitig absagt, dem entgeht – sein Leben. Niemand würde den ängstlich daheim Verweilenden als “autonom“ beschreiben, obwohl er selbst es ist, der diese Entscheidung trifft. Die Lebensreise autonom abzubrechen aus Gründen wie Angst vor Verfall, vor unerträglichen Schmerzen, vor dem Ausgeliefertsein bedeutet, sich selbst um eine womöglich entscheidende Erfahrung und Lebensetappe zu bringen. “Dahoim sterbet d’ Leut“, heißt ein schwäbisches Bonmot. Suizid aus Angst vor dem Sterben ist schlicht ein Widerspruch in sich. Denn man stirbt auch dabei. Ob man aber genauso stirbt, ist eine Frage, die schlicht nie gestellt wird. Anlässlich einer Internetdiskussion über den assistierten Suizid konnte man neulich auf “Facebook“ folgende Sätze lesen: “Könnte es nicht sein, dass das Ende auch so eine Sache ist, der man sich zu stellen hat? Sozusagen so eine Art letzte Herausforderung? Ist der Verzicht, die Ablehnung von Sterbehilfe nicht eine Form der Demut? Ich sage jetzt mal so: Ich habe den festen Willen, das im Ernstfall so durchzuziehen. Mein Onkel war genauso. Bei dem habe ich gesehen, wie das geht.” In der gesamten Debatte rund um die Sterbehilfe habe ich noch nie eine so einfache und eindrucksvolle Stellungnahme für ein angenommenes, natürliches Sterben gelesen wie diese. Wir Christen könnten uns eine dicke Scheibe von dieser Einstellung abschneiden, um glaubhaft und sogar anziehend zu erklären, warum es sich lohnen könnte, bei der grossen Lebensreise nicht die letzte und herausforderndste Etappe auszulassen – selbstbewusst und interessiert am letzten grossen Rätsel, das das Leben für einen jeden von uns bereithält.

Das Sterben ist nicht erst seit vorgestern ein wichtiges Thema. Das “Tibetanische Totenbuch“ beispielsweise, eine Sammlung uralter buddhistischer Texte, wurde, vor über 80 Jahren ins Englische übersetzt, ein absoluter Weltbestseller – auch in Deutschland. Sein Thema: Die Vorbereitung des Todes mitten im Leben, die Anleitung zur Sterbevorbereitung und die Begleitung von Sterbenden durch die diversen Stadien des Sterbeprozesses hindurch. Warum war dieses Buch noch in den 60er und 70er Jahren international ein so durchschlagender Erfolg? Dass innerhalb weniger Jahrzehnte das riesige Interesse an einem – wenn auch kulturell sehr weit hergeholten – “aktiv guten Sterben“ dem mehrheitlich dumpf-autonomen “Tötet mich!“ gewichen ist, ist schon überraschend. Noch überraschender ist es, dass gerade die christliche Kultur geradezu Schätze solcher Sterbevorbereitung zu bieten hat, die kaum irgendjemandem bekannt sind. Unsere Altvorderen entwickelten eine veritable “Ars moriendi“ – die “Kunst des guten Sterbens“. Diese Kunst setzte nicht etwa erst am Sterbebett ein, sondern durchzog bereits das ganze Leben. Der Tod warf danach nicht seine Schatten, sondern vielmehr sein Licht ins Leben voraus. Das ganze Leben wurde vom Tod her gedacht. “Tod“ bedeutete dabei die – für den Gläubigen geheimnisvoll vorübergehende – Trennung der unsterblichen Seele vom vergänglichen Leib, was aber keinen Verlust, sondern Gewinn darstellte: Die Befreiung hin zur eigentlichen Existenz. Der Kern des “Selbst“, das die Autonomie erst autonom macht. Leben lernen und Sterben lernen waren deshalb untrennbar miteinander verbunden. Das Mittelalter erlebte nachgerade eine Blüte von Literatur über das “heilsame Sterben“, das eine lebenslange Aufgabe darstellte. Nicht der plötzliche oder schnelle Tod zeichnete das ideale Ende des Lebens aus, sondern eine intensive Sterbephase, auf die man sich lebenslang aktiv eingestellt und vorbereitet hatte. Wesentlich dabei war das stete sich Voraugenstellen des eigenen Todes – hier liegt wohl der grösste Unterschied zu dessen heutiger Tabuisierung und Verdrängung aus dem Alltag. Eine kleine Erinnerung erfahren auch heutige Christen noch am Aschermittwoch, wenn es heisst: “Gedenke Mensch, dass Du Staub bist“. Die Realität des sicheren Todes nicht verdrängen, sondern annehmen, ist eine wesentliche Voraussetzung (selbst)bewussten Lebens. Ich werde sterben. Wer sich das bewusst macht, wird nicht nur sein Leben viel bewusster und intensiver geniessen und Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden lernen, sondern auch mitten im Leben schon offener für die noch ungelösten Fragen, die nicht nur das Leben selbst, sondern auch das Sterben oft so schwer machen. “Er kann einfach nicht loslassen“, bedeutet sehr oft Versäumtes, Verklemmtes, Verhärtetes. Was uns mitten im Leben schlaflose Nächte machen kann, kann auch das gute Sterben hindern: Unvergebenes, Unerledigtes, nicht erfolgte Wiedergutmachung, Nichtloslassenkönnen von Sorgen, Bedrängnissen und geliebten Menschen. Die dramatischen Prozesse des Lebens zwischen Furcht und Hoffnung, Festhalten und Hingabe, Verweigerung und Annahme durchziehen bereits unser ganzes Leben. Im Sterben streben sie ihrem Höhepunkt zu. Die “Ars-Moriendi“-Büchlein des Mittelalters stellen dies in vielfältigen Bildern dar: Die Tröstungen des Glaubens, der Zuversicht, der Geduld, des Trostes und schliesslich der willentlichen Abwendung vom Irdischen kämpfen da einen letzten Kampf gegen Versuchungen der Verzweiflung, des Unglaubens, der Ungeduld, des Hochmuts und der weltlichen Güter, die in Gestalt hässlicher Kreaturen an den Laken des Sterbebettes reissen. Damit das letzte, grosse, gefahrenreiche Abenteuer seiner Lebensreise den Sterbenden in den Hafen der ewigen Heimat führt, sieht er sich unterstützt von einer Phalanx von guten Helfern: Lebende und Verstorbene, Heilige, biblische Gestalten – und über allen der erhöhte Gekreuzigte.

Sterberiten sind – wie Sterbeforscher es ausdrücken – angstreduzierende Kriseninterventionen. Sie stellen ein Bündnis her zwischen dem Sterbenden und den Überlebenden, zwischen noch Lebenden und bereits Verstorbenen, zwischen dem sterbenden Christen und Gott. Sie weisen den Sterbenden als Mitglied einer Gemeinschaft aus. Im Leben wie im Sterben: Er ist nicht allein. Diejenigen Faktoren, die jedem von uns Angst machen, sind die ungewollte künstliche Verlängerung des natürlich erlöschenden Lebens an Maschinen, das Ausgeliefertsein, unstillbare Schmerzen. Wer sich schon im Leben mit seinem Sterben beschäftigt, wird auch Vorsorge treffen, die nicht nur ein Testament, sondern auch eine Patientenverfügung enthält. Diese mit einem Arzt im Detail durchzusprechen, bedeutet nicht nur, sich vorzeitig mit dem eigenen Sterben beschäftigen zu müssen, sondern auch die Sicherheit, am Ende nicht gegen alle Vernunft und im Sinne absoluter Machbarkeit am Leben erhalten zu werden und so einem seelenlosen Automatismus hilflos ausgeliefert zu sein. Was schwerste Schmerzen angeht, so ist es der Medizin heute möglich, diese bei so gut wie allen Patienten auszuschalten. Ein jeder, der Angst vor unstillbaren Schmerzen verspürt, begebe sich auf die nächstgelegene Palliativstation oder ins nächste Hospiz. Dort erfährt man, dass heute niemand, aber wirklich niemand mehr unter unerträglichen Schmerzen sterben muss, mögen die Befürworter der aktiven Sterbehilfe diesbezüglich auch mindestens ebenso viele Teufel an die Wand malen wie die “Ars moriendi“-Bücher um das Bett des Sterbenden. Beide haben nichts anderes im Sinn, als den Sterbenden zu verwirren und zu ängstigen. Schmerzfreiheit, spirituelle Begleitung, emotionale Unterstützung, bewältigte Konflikte, ausgeräumte Differenzen, für den Christen das Bewusstsein der grösstmöglichen Nähe seines Herrn, in den Sakramenten und im Sterben selbst – all das trägt zur Linderung bei. Durch die bewusste Vorbereitung in Leben und Sterben gewappnet, geht es dann in die letzte und grösste Herausforderung des Lebens: Wenn nämlich das “Ich“ an seine Grenze kommt, so dass es aufhören muss, “zu denken, zu verstehen, zu erwarten, zu lenken“. Wie die Sterbeforscherin Monika Renz erklärt: “Das Ich muss sich selbst als ‘Ich‘ preisgeben.” Eine der Schwierigkeiten beim Sterben, so Renz, liege darin, in diese radikale Wandlung einzuwilligen. “Gelingt dies in Offenheit statt in Verhärtung, so entspannen sich Körper und Seele, können Medikamente besser greifen, kann ein innerer, seelischer Prozess der Transformation voranschreiten.”

Und genau hier liegt die Hilfe, die wir Christen uns selbst und all denen zu geben haben, die ihre Autonomie nicht willentlich beenden, sie resigniert und ängstlich in fremde Hände abgeben, sondern ihr Leben bewusst und bis zum letzten Atemzug im Wortsinn ausleben, ja auskosten wollen und dies als wesentliche Herausforderung an ihre Autonomie erkennen. Basis dafür ist unser Glaube an Gott, den Urgrund allen Seins, der selbst Mensch wurde, um persönlich jedem einzelnen Sterbenden vorzuleben, an welches Ziel diese bewusste, autonome Selbstentäusserung führt. In eine Transformation, die ohne irdische Vorerfahrung ist. Wie Franz von Sales es ausdrückte: “Auf dass du ganz du selber werdest und in Gott deine Erfüllung findest.”

Ein mächtiges Abenteuer. Das letzte unseres irdischen Lebens.

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