Die neue Gretchenfrage

‘Gewalt ist also genauso wenig eine kleine Schwester der Religion, wie Menschenfreundlichkeit eine des Säkularismus’

Die Tagespost, 23. Februar 2015

Von Stefan Rehder

Dass nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen auch in Deutschland die legitime Frage ventiliert wird, was das Phänomen islamistischer Gewalt mit dem Islam zu tun hat, wundert nicht. Wenn etwas erstaunen darf, dann, dass die Massaker, die der IS, Boko Haram und Al Kaida im Irak, Nigeria und andernorts verüben, hierzulande bislang keine vergleichbare Wirkung erzielen. Entsetzen, Trauer und Solidarität halten sich in so überschaubaren Grenzen, dass es einen selbst bei sommerlichen Temperaturen frösteln müsste. Und das obwohl die Zahl derer, die ihnen im Nahen Osten und in Afrika zum Opfer fallen, die der Anschläge von Paris und Kopenhagen derart um ein Vielfaches übersteigt, dass der Begriff, obwohl zutreffend, nahezu verharmlosend wirkt.

Auch wer in Rechnung stellt, dass Nähe für Journalisten ein klassischer Nachrichtenfaktoren ist, kann sich des Eindrucks nicht völlig entziehen, in manchen Redaktionsstuben besitze das Leben agnostischer Karikaturisten einen ungleich höheren Stellenwert, als das von Christen, Jesiden und Muslimen, die – fern von Europa – islamistischem Terror tagein tagaus ausgesetzt sind.

Damit nicht genug hat die Frage, was der Islamismus mit dem Islam zu tun hat, nun eine merkwürdige Akzentverschiebung erfahren. Ohne äusseren Anlass und erkennbaren Grund wird in einigen Medien zunehmend die Frage gestellt, wie es generell um das Verhältnis von Religion und Gewalt bestellt sei. Es ist, als würde Goethes Gretchenfrage in abgewandelter Form neu gestellt. “Nun, sag, wie hast Du’s mit der Gewalt? Du bist ein herzlich frommer Mann, allein ich glaub, Du hältst recht viel davon.”

Nicht, dass sich nicht auch Religionen und ihrer Führer fragen lassen müssten, wie es um ihr Verhältnis zur Gewalt bestellt sei. Auch wird niemand, der bei Verstand ist, weder das Faktum religiös begründeter Gewalt bestreiten wollen, noch dass Menschen im Laufe der Geschichte auch im Namen anderer Götter als Allah Angst und Schrecken verbreitet, Kriege geführt und bestialische Greueltaten verübt haben. Allerdings: Sollte es tatsächlich so etwas wie eine gemeinsame Geschichte von Religion und Gewalt geben, dann nähme sich diese, verglichen mit den Bündnissen, die religiös unmusikalische Menschen mit dem Terror und im Laufe der Jahrhunderte schlossen, wie eine “Schulhofprügelei“ aus. Zur Erinnerung: Adolf Hitler war bekanntlich genauso wenig Christ, wie Josef Stalin Muslim, Mao Tse-dung Buddhist oder Pol Pot Hindu. Auch beriefen sich weder die französische Revolution noch die folgende “Schreckensherrschaft“ der Jakobiner auf einen wie auch immer gearteten Monotheismus oder eine der Buchreligionen. Gewalt ist also genauso wenig eine kleine Schwester der Religion, wie Menschenfreundlichkeit eine des Säkularismus. Mag es vielen Agnostikern und Atheisten ein Dorn im Auge sein, der Versuch, dem religiösen Menschen neben einem “Gottes-Gen“ auch noch ein “Gewalt-Gen“ anzudichten, scheitert schlicht an der Geschichte. Oder um es “katholisch“ zu formulieren: Hass und Gewalt sind nicht der Religion, sondern der gefallenen Natur des Menschen inhärent. Man muss nicht religiös sein, um ihnen zu wehren. Und doch gibt es – wie die Heiligen der katholischen Kirche beweisen – kein erfolgreicheres Mittel, die eigene Natur zu übersteigen, als hieran mit der Gnade Gottes mitzuwirken.

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