Jean-Marie Lovey Bischof von Sitten
“Ich bin nicht sicher, ob es wirklich immer weniger Gläubige gibt”
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Seit September ist Jean-Marie Lovey der neue Bischof von Sitten. Ein Interview über die Bedeutung von Weihnachten, das Fernbleiben der Gläubigen von den Kirchen und das Treffen mit Papst Franziskus.
Bischof Lovey, es ist Weihnachten und viele Menschen sind gestresst. Bedeuten die Festtage auch für Sie Stress?
Das hoffe ich doch nicht. Selbstverständlich gibt es während der Festtage einige Aktivitäten, die mit meinem Amt als Bischof zusammenhängen. Das ist aber nicht stressig. Ganz im Gegenteil.
Weihnachten ist eine Zeit des Innehaltens, eine Zeit um die Dinge Revue passieren zu lassen. Alles läuft in gewissem Masse in Zeitlupe. Mit etwas Glück schneit es während der Weihnachtswoche auch noch, was zusätzlich entschleunigend wirkt, da alles gedämpft wird (lacht). An Weihnachten haben wir die Möglichkeit zu uns zu finden, uns auch etwas auszuruhen, in den Händen des Christkindes. Weihnachten gibt den Menschen die Gewissheit, dass sich Gott um uns kümmert, wir haben also Grund zur Ruhe zu kommen und uns zu freuen.
Wie verbringen Sie als Bischof Heiligabend?
Den Nachmittag verbringe ich mit den Bewohnern eines Altersheims und nehme an deren Weihnachtsfeier teil. Anschliessend fahre ich in die Studios von Rhône FM in Martinach, wo ich mit anderen Personen Weihnachten am Radio feiern werde. Wir werden über das Fest sprechen und auch Fragen von Zuhörern beantworten. Danach kehre ich nach Sitten zurück, wo ich mit den Gläubigen die Mitternachtsmesse feiern werde.
Und am ersten Weihnachtsfeiertag?
Dieser Tag ist dann viel ruhiger. Da tritt der familiäre Aspekt in den Vordergrund. Ich hoffe, dass ich Zeit habe, meine eigene Familie zu besuchen, die ich seit meiner Bischofsweihe praktisch kaum noch gesehen habe. Den morgigen Tag verbringe ich also mit meinen Geschwistern.
Welche Bedeutung hat Weihnachten für Sie persönlich?
Jedes Jahr an Weihnachten versuche ich mich daran zu erinnern, was alles während des Jahres geschehen ist. Ich ziehe meine Jahresbilanz, wobei ich sehr gerne den Fokus auf die Namen der Menschen lege, die mir während des Jahres begegnet sind, mit denen ich einen Teil des Weges gegangen bin. Ich denke, dass Weihnachten eine sehr grosse familiäre Dimension hat. Weihnachten ist eine gute Gelegenheit, sich seiner Familie bewusst zu werden. Nicht nur seiner Blutsverwandten, sondern allen Menschen, die einen begleiten. Darum sage ich vor Gott und dem Christkind die Namen der Menschen auf, die mich begleiten, die in meinem Herz wohnen. So versuche ich Weihnachten seine familiäre Dimension zu geben, denn schliesslich ist Weihnachten für uns alle da, für alle Menschen.
Am 28. September wurden Sie zum Bischof von Sitten geweiht. Welche Ereignisse haben Sie seit dem am meisten beeinflusst?
Das Ereignis, dass mich am meisten beeindruckt hat, war sicher die Weihe zum Bischof selbst. Das war ein sehr bewegender Moment. Nicht vom Ereignis her, sondern wie ich die Kirche erfahren durfte. Ich durfte die Gemeinschaft und die Nähe der Gläubigen sehr intensiv erleben. Das war ein sehr schöner Moment, der mir immer in Erinnerung bleiben wird. Was natürlich ebenfalls ein grosser Moment für mich war, war der Besuch bei Papst Franziskus in Rom zusammen mit den Mitgliedern der Schweizer Bischofskonferenz Anfang Dezember.
Wie haben Sie den Papst erlebt?
Es war ein sehr schöner Tag. Der Papst war gerade von seiner Reise in die Türkei zurückgekehrt und man hatte uns gesagt, dass er sich etwa eine halbe Stunde Zeit für uns nehmen könne. Aber es kam ganz anders. Papst Franziskus war sehr zugänglich und unkompliziert. Wir wurden von ihm persönlich begrüsst, dann kam das offizielle Gruppenfoto und schliesslich haben wir uns im Kreis zusammengesetzt.
Und dann?
Dann haben wir einfach geredet. Papst Franziskus hat uns aufgefordert einfach zu sagen, was uns beschäftigt. Es entwickelte sich ein ganz natürliches Gespräch, in dem der Papst unsere Anliegen aufnahm und Lösungen und Gedanken anbot. Das war sehr beeindruckend, denn schliesslich waren wir beim Papst. Papst Franziskus gab uns das Gefühl, dass er für uns da ist. So haben wir uns dann zwei Stunden ausgetauscht. Der Papst hätte auch einfach eine Erklärung verlesen können und alles wäre nach 20 Minuten vorbei gewesen, aber so ist der Papst nicht, er nimmt sich Zeit und ich finde, dass dies ein sehr schönes Zeichen ist.
Worauf wollen Sie als Bischof von Sitten den Fokus legen? Welche Themen liegen Ihnen am Herzen?
Ich möchte zunächst einmal die Diözese kennenlernen. Dafür nehmen ich mir Zeit. Mir ist wichtig, dass ich die Menschen im Bistum treffe und kennenlerne. Darum besuche ich die Regionen des Bistums und spreche mit den Priestern, den Mitarbeitern der Diözese und den Menschen. Das ist ein grosses Anliegen von mir. Dann versuche ich natürlich die gute Arbeit meiner Vorgänger weiterzuführen. Ich denke dabei vor allem an alles, was die Familien betrifft. Die Familien müssen gepflegt und gestärkt werden. Dann beschäftigt mich natürlich der Wertewandel und alles, was mit den Mitarbeitern der Diözese zu tun hat. Was mit sehr wichtig ist, ist die Erfahrung von Einigkeit und Gemeinschaft zu stärken. Ich habe das Gefühl, dass wir manchmal ein bisschen zerrissen sind und das wegen Kleinigkeiten. Daran müssen wir arbeiten und das Zusammengehörigkeitsgefühl wieder stärken.
Die Kirchen und Messen werden immer weniger besucht, es gibt immer weniger Gläubige. Macht Ihnen das Sorgen?
Lassen Sie mich dazu zwei Dinge sagen. Ich bin nicht sicher, ob es wirklich immer weniger Gläubige gibt.
Warum das?
Nun, als ich an einem Sonntag im Advent die heilige Messe gefeiert habe, war die Kathedrale von Sitten voll. Dann ist es doch so, dass das Evangelium nicht zwingend innerhalb der Mauern einer Kirche gelebt und erfahren werden muss. Viele Menschen leben die Werte des Evangeliums draussen in der Welt, in ihrem Leben. Darum bezweifle ich es ein wenig, wenn man sagt: Es gibt immer weniger Gläubige. Aber es ist klar, die Zahl der Menschen, die zur Messe kommen, hat stark abgenommen. Das wirft natürlich Fragen auf. Darum ist es wichtig, dass sich der Glaube entwickelt. Wir müssen uns fragen: Wie können wir den Menschen wieder eine spirituelle und mystische Erfahrung geben? Wir müssen die Menschen Gott erfahren lassen, damit sie wieder erkennen, dass der Glaube etwas ist, das man in der Gemeinschaft der Kirche lebt und nicht für sich alleine. Das ist nämlich der Gedanke des Evangeliums: der Aufbau einer Gemeinschaft. Das ist in einer sehr individualistischen Gesellschaft wie der unsrigen besonders wichtig. Viele Menschen denken, dass der Glaube eine Privatsache sei. Ich denke aber das Gegenteil ist der Fall. Glaube wird in der Gemeinschaft gelebt. Diesen Gedanken müssen wir den Menschen wieder näherbringen. So wird die Zahl der Menschen, die den Glauben praktizieren, wieder steigen.
Der Kirche wird immer wieder vorgeworfen, sie sei nicht reformwillig, gehe nicht auf die Anliegen der Menschen ein. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
Beim Zweiten Vatikanischen Konzil wurde gesagt: “Ecclesia semper reformanda est.” Die Kirche muss sich immer erneuern. Wer ist die Kirche? Wir alle. Und wir wissen, dass wir uns ständig verändern müssen. Daher glaube ich, dass auch die Kirche sich verändern und mit den Menschen entwickeln muss. Ich denke, dass wir mit Papst Franziskus ein Kirchenoberhaupt haben, das viele Türen öffnen wird, vor allem was die Strukturen der Kirche betrifft. Der Glaube an sich, das Fundament der Kirche, wird sich nicht verändern. Aber wie wir diesen Glauben erfahren, da muss die Kirche sich anpassen. Die Zeit, in der die Kirche mit erhobenem Zeigefinger dastehen konnte und sagte: “Das darfst du nicht und das ist verboten” ist vorbei. Es geht darum zu zeigen, dass Glaube Freude bedeutet. Auch das Bild, das wir von Gott haben, muss sich ändern.
Inwiefern?
Wir haben uns eingebildet, dass wir irgendwann Gott verstehen könnten – so ist Gott und das will er von uns, das erlaubt er nicht und so weiter. Ich glaube, das ist falsch. Gott steht über solchen Ideen. Er ist viel mehr als das, was wir denken, das er ist. Selbstverständlich müssen wir uns ein Bild von Gott machen, aber wir müssen mehr darauf hören, was Gott uns sagt und weniger auf das, was wir über Gott denken. Die Göttlichkeit ist viel mehr als alles, was wir Menschen uns vorstellen können. Denn wir dürfen nicht vergessen: Gott ist grösser als unser Herz.
Sprechen wir noch über die Finanzen des Bistums. Sie haben ein Defizit von fast einer Million Franken und haben zu Spenden aufgerufen. Warum fehlt Ihnen Geld?
Alle Aktivitäten, die die Kirche leistet, sei es in der Seelsorge, der Familienpastoral und so weiter kosten uns, wie jeden anderen Arbeitgeber auch, Geld. Die Menschen, die im Dienste der Kirche stehen, müssen ihren Lebensunterhalt sicherstellen können. Weil die Aufgaben immer komplexer werden, brauchen wir mehr Leute, die diese Aufgaben im Namen der Kirche wahrnehmen. Wenn dann die Einnahmen stagnieren, resultiert ein Defizit. Darum haben wir die Gläubigen zu Spenden ans Bistum aufgerufen und wir sind überwältigt, mit welcher Grosszügigkeit die Gläubigen uns Geld gespendet haben. Das ist ein sehr schönes Zeichen.
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