“Eine Umarmung euch allen”

Ein Jesuit feiert Weihnachten

Hl. Ignatius von Loyola

Die Tagespost, 29. Dezember 2014

Ein Jesuit feiert Weihnachten: Papst Franziskus vermeidet jede Süsslichkeit und nimmt die traditionelle Familie, die Kleinen und die Alten in den Blick.

Von Guido Horst

Franziskus beschreibt die Menschheit bei einer Begegnung mit kinderreichen Familien wie einen Wald, in dem die guten Bäume gute Früchte tragen: Solidarität, Vertrauen, Unterstützung, Sicherheit, glückliche Einfachheit und Freundschaft.

Papst Franziskus will kein süssliches Weihnachten. Gesagt hat er das beim “Engel des Herrn” am Feiertag des heiligen Stephanus, den die Italiener anstelle eines zweiten Weihnachtsfeiertags begehen. Da sprach der Papst von jenem “süsslichen Erscheinungsbild“, das einfach nicht zum Fest der Geburt des Herrn gehören würde. Doch schon vorher hatte er Kostproben gegeben, wie ein Jesuit denkt, wenn sich zur gleichen Zeit die Konsumgesellschaften des Westens auf ihren Weihnachtsmärkten bei süssem Glühwein und Liederklang auf den Marathon des Schenkens vorbereiten. Gleich einem Oberen der Gesellschaft Jesu, der seine Schüler oder Kollegiaten nach der vorfestlichen Fastenzeit mit einer Busspredigt in die Weihnachts- oder Osterferien entlässt, hatte Franziskus am 22. Dezember die Spitzenvertreter der römischen Kurie mit einer solchen Gewissenserforschung bedacht.

Schon im Vorjahr hatte der Papst vor den Kardinälen und Bischöfen des Vatikans auf den traditionellen Jahresrückblick verzichtet und über Professionalität und Dienst gesprochen. Diesmal war es ein umfassender Beichtspiegel (DT vom 24. Dezember), den er den Kurialen vorgelegt hatte. Mancher der Angesprochenen fühlte sich unter Generalverdacht gestellt – oder war schlichtweg beleidigt. Der Papst aus Lateinamerika und die Kurie – die richtige, die offizielle, nicht die Neben-Kurie, die sich Franziskus in Santa Marta aufgebaut hat –, das sind zwei Dinge, die nicht so richtig zusammenkommen wollen.

Da hatte Franziskus bereits den Brief an die notleidenden Christen des Orients unterschrieben und – pars pro toto – konnten am Heiligen Abend christliche Flüchtlinge im irakischen Erbil die Stimme des Papstes hören. “Ihr feiert jetzt die heilige Messe, und ich bin bei einem jedem von euch in diesem Gottesdienst – eine Umarmung euch allen”, sagte Franziskus in seinem Gruss, der anschliessend ins Arabische übersetzt wurde. Die Flüchtlinge seien “wie Jesus in der Nacht seiner Geburt: Für ihn gab es keinen Platz, er wurde verjagt und musste nach Ägypten fliehen, um sich zu retten“, sagte der Papst zu den Hunderten von Irakern in der kurzen Ansprache, die vom katholischen Fernsehen der italienischen Bischöfe übertragen wurde.

Franziskus erinnerte an die Bedürftigen, die vom Evangelium als Brüder Jesu bezeichnet werden: “Die Notleidenden sind das Fleisch Christi”, sagte Franziskus. Er denke an diesem Abend besonders an “die Kinder bei euch, die toten, die ausgebeuteten Kinder“ und an “die Alten, die ihr Leben gelebt haben und jetzt dieses Kreuz erleiden“. Die Kinder und die Alten seien in seinem Herzen, schloss der Papst. Die Kinder und die Alten beziehungsweise die Grosseltern – ein Thema, auf das Franziskus immer wieder zu sprechen kommt.

Er tat es dann sogleich wieder in seiner Predigt während der Christmette im Petersdom, wo er von der “Zärtlichkeit Gottes“ sprach. Von “Gott, der uns mit einem von Liebe erfüllten Blick anschaut, der unser Elend annimmt, Gott, der in unser Kleinsein verliebt ist“. Und: “Wie sehr braucht doch die Welt von heute Zärtlichkeit! – Geduld Gottes, Nähe Gottes, Zärtlichkeit Gottes.”

“Ihr Kinder seid Frucht des Baumes, der die Familie ist”

Auch bei der Weihnachtsbotschaft “Urbi et orbi” am Weihnachtstag von der Loggia des Petersdoms aus erinnerte Franziskus an die Leiden in der Welt: an die Verfolgten in Syrien und im Irak, an die Opfer der Konflikte im Nahen Osten, in Georgien und in afrikanischen Staaten. Und wieder der Blick auf die Kleinsten: “Jesus schütze die Kinder.“ Schlicht und einfach ging es zu, oben auf dem Balkon an der Fassade des Doms. Franziskus, begleitet von den Kardinälen Gerhard Ludwig Müller und Franc Rodé, liess wie im vergangenen Jahr die Weihnachtsgrüsse in den vielen Sprachen der Welt fort, aber an die hunderttausend Menschen füllten den Platz und waren zufrieden – wie es bei allen Begegnungen mit dem Papst zu Weihnachten der Fall war.

Das galt auch am Sonntagmorgen in der Audienzhalle, wo Franziskus die Italienische Vereinigung Kinderreicher Familien empfing – naturgemäss war die Halle auch hier übervoll. Jetzt ging es nicht allein um die Kinder, sondern auch um die Grosseltern, für die er die Menge beim anschliessenden Gebet des “Angelus“ auf dem Petersplatz sogar ausdrücklich beten liess. Den Familien in der Audienzhalle des Vatikans wollte er Mut machen und sprach eigens die Kinder an, deren “Grossvater“ er irgendwie ja selber sei. “Ihr Kinder seid die Frucht des Baumes, der die Familie ist. Ihr seid gute Früchte, wenn der Baum gute Wurzeln hat – das sind die Grosseltern –, und wenn er einen guten Stamm hat – das sind die Eltern.” Die grosse Menschheitsfamilie sei wie ein Wald, in dem die guten Bäume Solidarität, Gemeinschaft, Vertrauen, Unterstützung, Sicherheit, glückliche Einfachheit und Freundschaft tragen würden. “Die Anwesenheit kinderreicher Familien ist eine Hoffnung für die Gesellschaft“ und die Grosseltern würden in sich die Werte eines Volkes tragen und den Eltern helfen, diese an ihre Kinder weiterzugeben.

Am Tag zuvor, am Samstag, hatte sich der türkische Papstattentäter Ali Agca mit Hilfe einer italienischen Presseagentur ein wenig Aufmerksamkeit in den Medien verschafft, als er zwei Blumensträusse am Grab des heiligen Johannes Paul II. niederlegte – auf den Tag genau 31 Jahre nach dem Besuch des Papstes in seiner Zelle im römischen Gefängnis Rebibbia. Nach diesem Bussgang und Interviews wurde Agca festgenommen – er war ohne gültiges Visum über Österreich nach Italien eingereist. Noch gestern dürfte er in seine Heimat ausgewiesen worden sein.

Als wollten die Naturgewalten zumindest den Italienern in diesen Tagen jede falsche Krippenseligkeit oder Weihnachtsromantik austreiben, übernahmen am Sonntag gleich mehrere Katastrophen die Spitzenplätze in den Nachrichtensendungen.

Der Papst selber wies am Sonntag wohl viele auf dem Petersplatz beim “Engel des Herrn“ als erster darauf hin. Er betete für die Passagiere des verschwundenen Flugzeugs aus Malaysia und für die Opfer der Unglücke in der Adria. Vor Ravenna war ein türkisches Frachtschiff nach dem Zusammenstoss mit einem anderen Frachter gesunken – zwei Tote waren die Bilanz. Und seit Sonntagfrüh war ein Drama zwischen Griechenland und Italien zu verfolgen, dessen Folgen wahrscheinlich noch gar nicht abzusehen sind: Das Parkdeck der Fähre “Norman Atlantic“ war in Brand geraten, mit Olivenöl beladene Laster hatten Feuer gefangen und verwandelten das Schiff in eine Flammenhölle.

Ein Blick von der Krippe aus auf eine Welt im Unglück

Die Metallböden wurden stellenweise so heiss, dass den Passagieren die Sohlen ihrer Schuhe schmolzen. Für über fünfhundert Menschen an Bord begannen dramatische Stunden. Starker Wind und hoher Seegang machte ihre Bergung zu einem überaus komplizierten Unterfangen. Zusammengeschmolzene Rettungsboote versanken im Meer, wegen durchgebrannter Kabel konnten die meisten nicht ins Wasser gelassen werden, für viele blieb da nur die Bergung aus der Luft mit waghalsigen Flügen der Rettungshubschrauber, auch in der Nacht zum Montag. Am gestrigen Morgen harrten aber immer noch Passagiere an Bord der brennenden Fähre aus. Fünf Tote war zu beklagen.

Weihnachten 2014 war – von Rom aus gesehen – keine besinnliche Idylle, sondern ein Blick von der Krippe Jesu aus in eine Welt, die unter Flucht und Verfolgungen, Misshandlungen und Unglücken leidet.

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