Der Multikulti-Irrtum

Die Thesen von Seyran Ates provozieren

Die mutige Juristin, Tochter von Migranten der ersten Generation, kämpft an vorderster Front gegen Zwangsheirat und Ehrenmorde, für Frauenrechte und Integration. In diesem Buch führt sie aus, wie eine verfehlte Integrationspolitik und eine als Toleranz verkleidete Gleichgültigkeit zu Parallelgesellschaften, Ghettoisierung und Gewalt geführt haben. Und sie erläutert, wie es gelingen kann, die Migranten langfristig in unsere Gesellschaft einzubinden.

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Der Multikulti-Traum vom Nebeneinander verschiedenster kultureller Gesellschaftsentwürfe in einem Land war von Anfang an ein Irrtum!

Das jedenfalls ist die wohlbegründete Überzeugung der in Istanbul geborenen und ab ihrem sechsten Lebensjahr in Deutschland aufgewachsenen Rechtsanwältin Seran Ates, die in ihrem lesenswerten Buch darlegt, welch ebenso gravierende wie lässliche Denkfehler diesem Traum aus ihrer Sicht zugrundelagen — und was stattdessen zu tun wäre, um den wirklichen Notwendigkeiten eines Einwanderungslandes Rechnung zu tragen und eine wirkliche gesellschaftliche Integration zu erreichen.

Gegen die Multikulti-Ideologie und deren Toleranzgebot, in dessen totem Winkel sich verschiedene gegeneinander abgeschottete Gesellschaften etabliert hätten — Gesellschaften, in denen unter der Herrschaft eines selbst völlig intoleranten, archaischen Patriarchats zum Beispiel junge Frauen von ihren Vätern gegen ihren Willen verheiratet werden oder Männer über ihre Frauen wie über ein Eigentum verfügen –, setzt die Autorin auf das Leitbild einer “transkulturellen Gesellschaft”. In einer solchen erst könnte aus dem Nebeneinander der Gesellschaften der “Urdeutschen”, der “Deutschländer” und Immigranten ein wirkliches Miteinander werden. Und in ihr böte auch das Zugeständnis einer eigenen kulturellen Identität keinen Deckmantel mehr für die Missachtung elementarer Menschenrechte wie dem (sexuellen) Selbstbestimmungsrecht von Frauen und Männern, der freien Partner- und Berufswahl etc.

Und in der Tat: Für eine gelingende Integrationspolitik ist mehr als Entschlossenheit bei der Rechtsdurchsetzung nötig. Auch das eigene kulturelle Selbstverständnis gehört hier nach Ansicht der Autorin auf den Prüfstand. So fordert Ates unter anderem (und zwar entschieden) die Abkehr von grundsätzlich jedem konfessionsgebundenen Religionsunterricht in unseren Schulen: “Es kann nicht sein”, heisst es hierzu an einer Stelle, “dass Eltern unter Missachtung individueller Persönlichkeitsrechte, die auch Minderjährigen zustehen, ihren Kindern ihre Religion aufzwingen.” Stattdessen sollten unsere Kinder in einem allgemeinen Religionsunterricht alle Weltreligionen kennenlernen. Das würde nicht nur das gegenseitige Verstehen und die Reflexion über das eigene kulturelle Herkommen befördern: “Zu glauben oder nicht zu glauben, beides ist ein Menschenrecht. Das muss den Kindern in der Schule vermittelt werden.” Eine bedenkenswerte These auch dies.

Kunden Rezension amazon (21)

Abschied von liebgewordenen Illusionen
Von H. P. Roentgen
Rezension bezieht sich auf: Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können (Gebundene Ausgabe)

Seit über vierzig Jahren leben Deutsche und Türken zusammen in der Bundesrepublik, immer noch teilen sie die gleichen Illusionen und wissen fast nichts übereinander.

Schon in den Sechzigern wurde diese Erwartung der Deutschen: ‘Die kommen für ein paar Jahre und dann gehen sie wieder’ von den Türken geteilt. Auch wenn diese Erwartungen absurd waren. Deutschland wurde für viele zur Heimat, aber niemand wollte das wahrhaben. Selbst die Autorin Seyran Ates, die 38 ihrer 44 Jahre in Deutschland gelebt hat, wird immer wieder gefragt, ob sie im Sommer ‘wieder in ihre Heimat’ fährt.

Schliesslich haben wir Multi-Kulti, jeder lebt in seiner Kultur, wir müssen uns nicht miteinander beschäftigen und können uns trotzdem gut fühlen. Wir sind tolerant. Ein prima Idee, eine bequeme Idee. Wie die meisten bequemen Ideen hat sie nur einen Haken: Sie funktioniert nicht.

Seyran Ates hatte Glück. Sie kam nicht in eine Ausländerklasse, sondern in eine mit deutschen Kindern, was zur Folge hatte, dass sie Deutsch lernte, aufs Gymnasium ging und Jura studierte. Seitdem hat sie sich als Anwältin für Migrantinnen engagiert und damit geriet sie ins Spannungsfeld von Fundamentalisten, Konservativen und denen, die weiterhin von der bequemen Idee ‘Multi-Kulti’ träumen wollten.

Seyran Ates träumt nicht, sie kennt die Szene, sowohl die der Politik wie die der Migranten. Und in diesem Buch schildert sie sie. Die Situation der muslimischen Frauen und Mädchen in Deutschland, die Rückbesinnung auf die traditionellen Werte und der erwachende Fundamentalismus. Daneben die Politikszene, in der es viele gibt, die einfach nicht wahrhaben wollen, dass die schulische Situation in vielen Bezirken immer katastrophaler wird, dass Islam von aussen betrachtet, vielleicht exotisch und bunt wirkt, doch leider für viele Frauen verheerende Auswirkungen hat. Besser, nicht darüber sprechen, das schürt Fremdenfeindlichkeit, meinen viele rot-grüne Multi-Kultis und erst recht meinen das muslimische Fundamentalisten. Daneben all die Politiker, die mit islamischen Verbänden mauscheln, die sich als Vertreter der Türken ausgeben, obwohl nicht einmal 10% derer Mitglieder sind.

Als in den Siebzigern die ersten Frauenhäuser in Deutschland gegründet wurden, als die Vergewaltigung in der Ehe strafbar werden sollte, kamen die gleichen Einwände, nur damals von den deutschen Konservativen.

Aber wer nicht darüber redet, kann nichts dagegen tun, macht sich mitschuldig. Seltsam, dass viele, die 1968 an die Öffentlichkeit holten, was bis dahin verschwiegen wurde, nun selbst dem Verschweigen das Wort reden. Wir sind die Spiesser, vor denen unsere Eltern uns immer gewarnt hatten, könnte man den bekannten Sponti-Spruch aus dieser Zeit abwandeln.

Aber das Buch will nicht lamentieren. Es will aufklären und es will Wege aus dem Dilemma aufzeigen. Denn wer gegen die Gewalt in Migrantenfamilien angehen will, muss dasselbe tun, was schon in den Siebzigern getan wurde, um Gewalt in deutschen Familien zu verhindern. Aufklärung statt Nicht-Drüber-Reden, Frauenhäuser unterstützen, statt die Mittel zu kürzen und vor allem: Sicherstellen, dass die Frauen überhaupt Deutsch sprechen, erfahren können, was ihre Rechte sind. Deshalb unterstützt Ates den Vorschlag, dass bei dem Familiennachzug Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachgewiesen werden müssen.

Was ebenfalls in der Diskussion untergeht: Die Probleme werden in der Türkei selbst längst offen diskutiert, die Zeitung Hürriyet hat eine Hotline eingerichtet und in der Türkei begegneten mir vor zwei Jahren lauter Plakate, die sich ganz offensichtlich mit diesem Thema auseinandersetzten.

Die Auswanderer in die USA wussten, dass sie damit eine neue Heimat suchten. Die amerikanische Staatsbürgerschaft wird feierlich übergeben. Das stärkt die Zugehörigkeit. Nichts davon gibt es in Deutschland.

Ates betont auch, wie wichtig Bildung und Spracherwerb ist, wie sehr aber oft konservative türkische Gruppen in Tateinheit mit Grünen sich dagegen zur Wehr setzen. Dass damit Jugendliche heranwachsen, die sich ‘irgendwie’ einer idealisierten Türkei zugehörig fühlen, gleichzeitig aber übersehen, dass gerade in der Türkei jemandem, der gut Deutsch und Türkisch spricht, alle Türen offen stehen, denen aber, die weder die eine noch die andere Sprache richtig beherrschen, gar nichts.

Das Buch zeigt nicht nur die Probleme der Integration, sondern auch Möglichkeiten, sie anzugehen. Und es zeigt, wie wichtig Zivilcourage sind, wie wichtig aber auch, sich von geliebten Scheuklappen zu lösen, die morsch und unbrauchbar geworden sind. Dass vieles von dem, was wir heute schätzen, in der Folge dessen, was ’68’ genannt wird, erst erkämpft wurde, das sollten wir nicht vergessen.

Ich gehöre noch einer Generation an, die in Schulen gingen, in denen Protestanten und Katholiken auf dem Pausenhof mittels einer Mauere strikt getrennt wurden. Ich weiss, was religiöser Fundamentalismus anrichten kann, wie wichtig die strikte Trennung von Staat und Religion ist. Denn die Alternative ist – vor allem für die Frauen – furchtbar.

Und wir müssen uns klarmachen, dass bequeme Lösungen leider oft auch falsche Lösungen sind. Deshalb empfehle ich dieses Buch jedem. Weil es nicht nur, wie so manche Internetseite, dem Islam alle Schuld in die Schuhe schiebt und feststellt: Der Islam ist nicht reformierbar, um dann den Bürgerkrieg herbeizureden. Sondern weil es Auswege zeigt und auch, wie wichtig es ist, aufeinander zu zugehen, ohne Angst, aber auch ohne falsche Toleranz.

Der Multikulti-Irrtum

Autor: Seyran Ates
Taschenbuch: 288 Seiten
Verlag: Ullstein Taschenbuch (12. November 2008)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 354837235X

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