Europa soll keine Festung werden
“Identität wahren, Schlepper bekämpfen, Flüchtlinge retten, Forscher anwerben”
Identität wahren, Schlepper bekämpfen, Flüchtlinge retten, Forscher anwerben: Wie das geht, liess der künftige Kommissar für Migration vorerst offen.
Von Stephan Baier
Die Tagespost, 01. Oktober 2014 Von Stephan Baier
In der Auflistung der Probleme kann man Dimitris Avramopoulos kaum widersprechen: “Wir haben es mit einem neuen geopolitischen Umfeld zu tun”, sagt der Grieche, der erster EU-Kommissar für Migrationsfragen werden soll. Europa werde demografisch immer älter, habe bereits Gettos in manchen Städten und eine anhaltende humanitäre Katastrophe an seinen Grenzen.
Bei der Anhörung des designierten Kommissars im zuständigen “Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres” des Europäischen Parlaments am Dienstagnachmittag wollten die Abgeordneten aber nicht nur eine Beschreibung der Problemlage hören, sondern Strategien. Und da blieb der Grieche, der Vizechef der konservativen Partei “Nea Dimokratia” ist und in seiner Heimat schon Bürgermeister von Athen, Minister für Tourismus, Gesundheit, Äusseres und zuletzt für Verteidigung war, dann doch recht vage.
Die Antwort auf all diese Herausforderungen sei bestimmt nicht eine “Festung Europa”, sagte der designierte Kommissar, um aber sofort zu relativieren: “Die Identität Europas muss geschützt werden” – das mögen jene nationalen und konservativen Europaabgeordneten, denen der Ansturm der Migranten jetzt schon zu gross scheint, als Signal in ihre Richtung empfinden. Avramopoulos plädierte für die Entwicklung einer “zielgerichteten Politik”, um Fachkräfte anzuwerben, beteuerte gleichzeitig, “dass Verbrechen und Terrorismus ausserhalb der EU bleiben und bekämpft werden müssen”. Auch auf energisches Nachhaken der Europaabgeordneten blieb der künftige Migrations-Kommissar bei Aussagen, die im Minenfeld der Migrationspolitik konsensfähig scheinen: Dass die für den “Islamischen Staat” (IS) kämpfenden Söldner aus Europa – man schätzt deren Zahl auf 3 000 – eine “Bedrohung für die europäischen Gesellschaften” sind, dass man das Problem, für das die Insel Lampedusa im Vorjahr zum Symbol wurde, “bereits vor Jahren anpacken” hätte sollen, dass es Strategien für die legale Zuwanderung von Studenten, Forschern und hoch qualifizierten Fachkräften aus Drittstaaten geben sollte – all das ist ja nicht umstritten.
All das beantwortet aber auch nicht jene Fragen, über die nicht nur unter den Innenministern der 28 EU-Mitgliedstaaten seit Monaten heftig gestritten wird: Wie lässt sich verhindern, dass das Mittelmeer zu einem Massenfriedhof wird, wenn innerhalb eines Vierteljahrhunderts mehr als 21 300 Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen, im Mittelmeer ertranken – laut “Amnesty International” 2 500 allein in diesem Jahr? Wie kann die nun auch vom zuständigen Kommissarsanwärter beschworene Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten aussehen, damit die Mittelmeeranrainer nicht länger alleine die Last des Rettens und Bergens von Migranten in Seenot tragen? Immerhin finanziert Italien das Ende Oktober auslaufende Programm “Mare nostrum”, das rund 140 000 Menschen rettete, mit neun Millionen Euro monatlich alleine, während die Finanzierung für das EU-weite Nachfolgemodell “Frontex plus” noch immer nicht steht. Und wie kann schliesslich die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union einigermassen gerecht erfolgen? Hier nämlich klagen nun die nördlichen Staaten – darunter Deutschland – seit langem, dass Italien zwar viele Migranten vor dem Ertrinken rette, sie aber dann nicht registriere, damit sie weiterziehen und ihren Asylantrag in einem anderen EU-Staat stellen.
Tatsächlich lag im Vorjahr die Zahl der Asylanträge in Italien, Griechenland und Spanien weit unter dem EU-Durchschnitt. Spitzenreiter sind bei den Asylanträgen (in Relation zur Einwohnerzahl) dagegen Schweden und Malta, gefolgt von Österreich, Luxemburg und Ungarn. Deutschland belegt den siebten Platz.
Avramopoulos plädierte nun in Brüssel dafür, in Migrationsfragen gemeinsam vorzugehen, “denen Zuflucht zu geben, die vor Krieg fliehen“, gegen die organisierten Schleuserbanden zu kämpfen, die EU-Aussengrenzen effizient zu überwachen, mehr mit den Transitländern zusammenzuarbeiten und jene Staaten zu unterstützen, deren Asylsystem bereits unter Druck ist. Das alles sind Überschriften, aber noch keine Antworten. Die konnte der designierte Kommissar weder zur Gestalt noch zur Finanzierung von “Frontex plus” geben, obgleich Italiens “Mare nostrum”-Programm in vier Wochen endet und die EU bei der Rettung der Bootsflüchtlinge Handlungsbedarf spürt. Dass es mehr Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten braucht, ja einen “europäischen Rechtsrahmen“, wie Avramopoulos sagte, ist so selbstverständlich wie seine Beteuerung, es brauche Möglichkeiten einer einheitlichen legalen Zuwanderung auf der Grundlage der Menschenrechte. Abgeordnete mehrerer Fraktionen bemühten sich am Dienstag in Brüssel vergebens, vom griechischen Kommissarskandidaten zu erfahren, wie künftig im Mittelmeer Bootsflüchtlinge gerettet und Schlepperbanden bekämpft werden sollen, wie die EU-Staaten sich die damit und mit den Asylbewerbern verbundenen Lasten teilen, wie – nicht bloss für Studenten, Forscher und Fachkräfte, sondern für verzweifelte Flüchtlinge und Vertriebene – künftig die Wege der “legalen Zuwanderung“ aussehen sollen, wie der Familiennachzug bei Migranten organisiert werden soll.
Auch zum Streit um die im “Dublin-III-Abkommen“ rechtlich geregelte Rücknahme von Asylbewerbern meinte der Grieche nur achselzuckend: “Einige Mitgliedstaaten halten sich daran, andere nicht.” Und auf die Frage, ob nicht angesichts der aktuellen Christenverfolgung in Nahost jetzt bevorzugt bedrängte Christen aufgenommen werden sollten, ging der designierte Migrationskommissar lieber erst gar nicht ein.
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