Findet der “Wille zur Wahrheit” wieder zur Uni?

Dimensionen des Menschseins

– 1. Paderborner Doktoranden-Workshop zum Werk von Josef Pieper

Die “Josef Pieper Arbeitsstelle” fördert seit kurzem systematisch die Auseinandersetzung mit dem Werk Josef Piepers (Von Stefan Rehder)

Es ist ein wenig paradox. Obwohl Josef Pieper (1904–1997) zweifelsfrei zu den bedeutendsten deutschen christlichen Denkern des 20. Jahrhunderts zählt und – gemessen an der Auflagenhöhe seiner Schriften und den Zahlen seiner Hörer – gar zu den wirkmächtigsten Philosophen der Gegenwart gerechnet werden darf, scheint ihm doch – zumal an deutschen Universitäten – bislang ein allenfalls mässiger Erfolg beschieden. Seine klare und verständliche Sprache, sein waches Misstrauen gegenüber geschlossenen Denksystemen, sein gleichwohl reichhaltiges Schöpfen aus der antiken und mittelalterlichen Philosophie, das Pieper, wie kaum ein anderer Philosoph zur Klärung moderner Fragen fruchtbar zu machen verstand, seine luzide Beschäftigung mit Thomas von Aquin – dem einzigen Theologen, der jemals in einem Konzilstext namentliche Erwähnung fand – all das hat erstaunlicherweise dazu geführt, dass Pieper an den philosophischen und theologischen Fakultäten deutscher Universitäten heute ein Schattendasein führt.

Man könne, wunderte sich einmal Martin Mosebach, “in Deutschland heute Priester werden, ohne eine Zeile Pieper gelesen zu haben”.

Weil damit in der Sache aber noch nichts gewonnen ist, fügt es sich gut, dass die an der Theologischen Fakultät Paderborn im vergangenen Jahr gegründete “Josef Pieper Arbeitsstelle” (JPA) statt Klage zu führen damit begonnen hat, das Werk des grossen Philosophen systematisch zu erschliessen.

Unter der Leitung des Philosophen Berthold Wald, Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Philosophie und Herausgeber der im Verlag Felix Meiner editierten Werkausgabe, geht es der JPA dabei nicht bloss darum, Piepers literarischen Nachlass vollständig nutzbar zu machen. Durch Anregung und Begleitung akademischer Arbeiten soll auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Piepers nachhaltig gefördert werden. Aus diesem Grund lud die JPA am vergangenen Wochenende zum “1. Paderborner Doktoranden Workshop zum Werk Josef Piepers”. Während am Samstag den Doktoranden – vier an der Zahl – Gelegenheit gegeben wurde, ihre noch im Werden begriffenen Arbeiten einander sowie weiteren, allesamt an deutschen Universitäten beheimateten Pieper-Kennern vorzustellen und gemeinsam zu diskutieren, stand die Vortragsveranstaltung zur Workshop-Eröffnung am Vorabend jedermann offen. Und so folgten denn rund 250 Zuhörer, die trotz strömenden Regens den Weg in das Auditorium Maximum der Theologischen Fakultät gefunden hatten, den Ausführungen des Dogmatikers Manfred Gerwing von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, die dieser unter die Überschrift “Mehr als Historie – Zur Aktualität der Philosophie Josef Piepers für die Theologie” gestellt hatte. Ausgehend von Piepers Überlegungen zu dem, was Aktualität meine, legte Gerwing dar, dass eine Philosophie, der es wie Piepers “stets um die Wahrheit zu tun war”, immer aktuell und niemals überholt sei. “Eingebunden in Zeit und Raum” sei der Mensch zwar “ein geschichtliches Wesen”, dennoch sei er nie bloss “Reflex seiner Zeit”. Der Mensch finde sich vielmehr zugleich auch stets “auf das Ganze der Wahrheit angelegt” und sei deswegen fähig, “das gegenwärtig Gültige auf Wahrheit hin, dem Bezugspunkt des Denkens, zu transzendieren”. Am Beispiel von Piepers Rede von “der Wahrheit der Dinge”, mit der nichts anderes als “die Erkennbar- und Erforschbarkeit der Dinge” gemeint sei, entfaltete der Theologe diese näher. Die “Dinge dieser Welt” seinen keineswegs von unserem Erkennen und Erforschen abhängig. Ihre Wahrheit liege darin, “dass sie, von göttlichem Intellekt schöpferisch erkannt, das sind, was sie sind, wobei ihre Erkennbarkeit zu ihrem Sein gehört. Erkennen sei ein bestimmter Seinsmodus, ein Modus des Da-Seins. Dem Sein könne nichts von aussen und von anderswoher zukommen. “Es kann nur zu sich selber kommen.” Und zu sich selber komme es durch den Intellekt, der das Einzelseiende auf den Seinsgrund beziehe und so “das Seiende als Seiendes im Sein, als von anderen Verschiedenes und als Ding in seinem Wesen aufgehen lässt. Erkennen sei ein “In-Beziehung-Setzen” oder wie Pieper auch, angeregt durch Guardini, formuliert habe, “begegnende Begegnung”. Die transzendentalen Bestimmungen des Seins (“unum”, “bonum”, “verum”) drückten nach Thomas von Aquin, wie Pieper nicht müde geworden sei zu betonen, die “urtümliche Beziehung zwischen Sein und Denken aus”. Gründeten doch “Eins-sein, Wahr-sein und Gut-sein des Seienden in der Erkennbarkeit und Erkenntnis des Wirklichen und zeigen, dass es sich um relationales Sein handelt, um ein Sein, das seine trimorphe Machtfülle dem schöpferischen Intellekt Gottes verdankt”, so Gerwing. Zu den grossen gegenwärtigen Herausforderungen innerhalb der Theologie gehöre, dass dem “fragenden und denkenden Zeitgenossen” nicht nur von Gott geredet werde, sondern dass ihm so geredet werde, dass deutlich werde, dass Gott einerseits “absolute Transzendenz”, zugleich aber auch “absolute Immanenz” sei. Mensch und Theologie ständen vor der Aufgabe, einerseits von Gott “nicht zu klein zu denken”, andererseits aber auch Gott nicht “in den fernsten Himmel zu rücken, wo er uns letztlich nichts mehr angeht und den wir, weil er uns nichts mehr angeht, deswegen auch getrost vergessen können”.

Zuvor hatte Berthold Wald in seiner Einführung gezeigt, dass Pieper keineswegs – wie ihm manche Kritiker vorwerfen – im Mittelalter stehengeblieben sei. “Spätestens seit Kants berühmten drei Fragen” sei “der Mensch zum zentralen Gegenstand der Philosophie geworden”. Für Kant seien die Fragen (Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?) nur drei Aspekte der umgreifenden Frage “Was ist der Mensch?” gewesen. “Nicht mehr die Frage nach Gott, sondern die Frage nach dem Menschen steht hier im Mittelpunkt.” Die metaphysische Fragestellung nach dem was ist, werde zurückgebunden an die Frage, was der Mensch wissen oder nicht wissen könne. “Pieper” habe, so Wald, “in seinem Denken diese Wende zum Menschen mitvollzogen”. So habe Pieper die zentrale Thematik seines Philosophierens im Rückblick einmal als “eine aus den Elementen der grossen europäischen Denktradition neu zu formulierenden Lehre vom Sein und Sollen des Menschen” bezeichnet. “Mit dem Hinweis auf die grossen Denktraditionen des Abendlandes” sei allerdings “schon mitgesagt, dass Pieper solche einschüchternde Denkverbote wie ,nach Kant‘ oder ,nach Nietzsche‘ oder nach wem auch immer, nämlich eine bestimmte Weise zu denken auszuschliessen, für nicht sehr überzeugend” gehalten habe. Piepers Weise, ausgehend vom Menschen die Sinnfragen des Menschen philosophisch ernstzunehmen, hätte allerdings nie mit der Frage nach der Möglichkeit oder der Gewissheit des Wissens begonnen. “Vielmehr sind es unmittelbar diese Fragen selbst, denen Pieper nachgeht in einem genauen, an der gesprochenen Sprache orientierten Denken.” Dass auch der Leiter der JPA eine Rückkehr Piepers an die Universität für notwendig erachtet, wurde deutlich, als Wald darauf verwies, “seit langem” bestimme “eine geschichtlich notwendige, auf leidvoller Erfahrung beruhende institutionelle Aufteilung der Dimension des Menschlichen unsere Kultur. Ich meine die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Vernunft als Ordnungsprinzip liberaler Demokratien mit pluralistisch verfassten Gesellschaften.” Gegenüber Sinnfragen verhalte sich ein auf öffentliche Vernunft gegründeter Staat neutral. Diese Neutralität sei jedoch nicht voraussetzungslos. “Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischen Zusammenleben (…) entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik (…) Dazu gibt es bis heute keine Alternative (…) Wir zehren (…) nach wir vor von dieser Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede”, zitierte Wald Jürgen Habermas. “Damit diese Substanz nicht verlorengeht und gesellschaftlich wirksam bleibt”, müsse es, so Wald, “Vermittlungsorte” geben, “an denen so etwas wie Aneignung religiöser – oder wie Pieper sagt – heiliger Überlieferung geschehen kann.” Diese Orte seien “von ganz unterschiedlicher Art, wie auch der Modus der Aneignung sehr verschieden ist: als Erziehung in der Familie; als Bekenntnis in der Kirche und als wahrheitsbezogenes Fragen an der Universität”. Gerade die Universität habe eine “durch nichts zu ersetzende Aufgabe, die mit der Aufteilung von öffentlicher und privater Vernunft noch gewachsen ist”. Pieper habe “sich in all seinen Schriften auf exemplarische Weise dieser Mühe des aneignenden Selberdenkens unterzogen und damit die Aufgabe der Universität in ihrem ursprünglichen Sinn wahrgenommen”. Es sei “gerade heute, dringend geboten, sich dieser Aufgabe erneut zu stellen”. Darum sollte Pieper “zu den Klassikern gehören, die an der Universität gehört und gelesen werden”, forderte Wald und warb – wohl ganz im Sinne von Rektor Bernd Irlenborn, der die JPA in einer kurzen Begrüssung als “echten Gewinn” bezeichnet hatte: “Wer sich für das Werk Josef Piepers interessiert und die Absicht hat, darüber zu promovieren, der findet nirgends bessere Arbeitsbedingungen als an der Theologischen Fakultät Paderborn.”

Und wer weiss? Vielleicht bekommt der “Wille zur Macht”, über den Nietzsche Zarathustra sagen lässt: “alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: (…) es soll sich euch fügen und biegen! (…) Schaffen wollt ihr noch die Welt, vor der ihr knien könnt”, durch die gewissenhafte Relektüre Piepers in Gestalt eines “Willen zur Wahrheit” ja tatsächlich demnächst ernstzunehmende Konkurrenz.

(Die Tagespost, Nr.83 vom 14.7.2009, Feuilleton)

Josef-Pieper: Stiftung
Josef-Pieper: Schule
Josef-Pieper: Wikipedia

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