Vierundfünfzig verweht

Das “Wunder von Bern” jährt sich demnächst zum 60. Mal, aber der “Geist von Spiez” kommt abhanden

Die Tagespost, 16. Juni 2014, Von Theo Schwarzmüller 

Symbolträchtig: In dem legendären deutschen Teamhotel Belvédere in der Schweiz sind bei einem Umbau die bislang noch original vorhandenen Spielerzimmer komplett verschwunden.

Seinerzeit, neun Jahre nach dem Krieg, konnte der DFB nicht daran denken, sich wie jetzt zur Fussball-Weltmeisterschaft in Brasilien eine teure Bungalowanlage aus dem Sand zu stampfen, fernab der Realitäten das Gastgeberlandes. Bundestrainer Sepp Herberger, katholischer Arbeitersohn aus Mannheim, war froh, dass er zweckmässig ausgestattete Zimmer im dritten, oberen Stockwerk eines traditionsreichen Hauses fand, natürlich noch ohne jeden Medienrummel und die Allgegenwart des Fernsehens.

Spiez mit seinen 12 000 Seelen lag nur 27 Kilometer von der Hauptstadt Bern entfernt im Oberland, dahinter die malerische Alpenkulisse: “Ein wunderbares Hotel direkt am Thunersee, mit grossem Garten und Liegestühlen, mitten in einer herrlichen Berglandschaft! Und Kanufahren könnt ihr jeden Tag!”, schwärmte der “Chef” seiner Mannschaft vor.

Herberger bekam diese bescheidene Unterkunft – den Trainingsplatz in Thun teilte man sich mit Uruguay! – überhaupt nur auf Fürsprache des Betreuers der Young Boys Bern, Albert Sing, vormaliger DFB-Auswahlspieler. Hatte doch der Hotelier des Belvédere die Besorgnis, dass seine holländischen Stammgäste ausbleiben würden, wenn er die Nationalelf des meistgehassten Nachbarn einquartiert. Obwohl es noch andere Gäste im Haus gab, was heute ebenfalls undenkbar wäre, erhielten die Kicker zunächst dann auch kaum Kontakt zu ihnen.

Dennoch waren Kapitän Fritz Walter und seine Kameraden begeistert: “Jedes Zimmer hat einen kleinen Balkon mit herrlichem Ausblick auf den See und die Berge.” Diese geschundenen Angehörigen der Kriegsgeneration, überlebende Soldaten des Zweiten Weltkriegs, kannten es nicht viel besser. Aus ihren noch immer weithin zerstörten Städten – das Wirtschaftswunder begann gerade erst – entkamen sie drei Wochen lang Richtung Süden in eine blühende Landschaft, die neutrale Schweiz.

Das Domizil erwies sich als ideal. Spätestens nach dem sogenannten “Wunder” von Bern, dem 3:2 im Finale gegen die hoch favorisierten Ungarn, hiess es, dass jener “Geist von Spiez” die Aussenseiter unvermutet zu einer echten Einheit, zu einer unwahrscheinlich starken Gemeinschaft geformt habe (“Elf Freunde müsst ihr sein!”). Der Genius loci verlieh ihnen Kraft und Inspiration, um sogar einen 0:2-Rückstand gegen die seit Jahren unschlagbaren Magyaren zu drehen.

Hingegen wohnten die Ballkünstler um Ferenc Puskás mitten in der Barockstadt Solothurn, nahe der St. Ursenkathedrale, unmittelbar an einer lauten Strasse, und konnten samstags in der Nacht vor dem Finale schlecht schlafen. In ihrem Hotel zur Krone erinnert heute nichts mehr an die furchtbar unglücklichen Verlierer.

Für den Bonner Weststaat aber avancierte der 4. Juli 1954, jener Sonntag der glücklichen Sensation, gefühlt zum wahren Gründungsdatum. Man war wieder wer. Das Berner Wankdorfstadion und Spiez galten seither als Erinnerungsorte der zweiten deutschen Demokratie. Konrad Adenauer sei der politische, Ludwig Erhard der wirtschaftliche, Fritz Walter jedoch der emotionale Gründervater der Bundesrepublik, besagt ein Bonmot von Joachim C. Fest.

Fünfzig Jahre danach, 2004, lockte ein Film des Regisseurs Sönke Wortmann über den ersten Titelgewinn mehr als vier Millionen Menschen in die Kinos. Bei der Premiere bekannte sich Kanzler Gerhard Schröder von der SPD zu Tränen der Rührung, obwohl 1954 weder sein Namensvetter Gerhard Schröder von der CDU, damals Innen- sowie Sportminister, noch Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) die Chance zum Auftritt im Stadion genutzt hatten. Der Film endete mit der geschichtspolitischen Botschaft: “Jedes Land braucht eine Legende.”

2005 musste die Wankdorf-Arena dem Stade de Suisse Platz machen. Die “Helden von Bern” sind fast alle gestorben. Es leben nur noch Hans Schäfer (zurückgezogen in Köln) und Horst Eckel bei Kaiserslautern. Sein 1. FCK versinkt im Treibsand der Zweitklassigkeit, genau wie die pfälzische Stadt, damals Heimat von gleich fünf Weltmeistern, tief in den roten Zahlen. Wo Fritz Walter trotz internationaler Angebote dem Verein seiner Jugend treu blieb und Bodenständigkeit bewies, wechseln heutzutage die hoch bezahlten Söldner immer schneller ihre Trikots.

Die Global Players der führenden Unterhaltungsindustrie trennen Welten von dem Idealismus der Amateursportler von einst. Den Unterschied illustriert eine von dem 82 Jahre alten Eckel überlieferte Anekdote. Damals Mitarbeiter der Pfaffwerke in Lautern, konnte er die vielen Autogrammwünsche nach der WM erst erfüllen, nachdem ihm der Deutsche Fussball-Bund die 2 200 Mark Prämie und 300 Mark Verdienstausfall überwiesen hatte. Vorher besass er einfach nicht genug Geld, um das Porto zu bezahlen …

Tempora mutantur. Es passt ins Bild, dass die Betreiber des Belvédere ihr Hotel kürzlich luxuriös umgebaut haben. Was noch authentisch den “Geist von Spiez” verspüren liess, die Originalzimmer mit den Doppelbetten der Spieler, sozusagen das Allerheiligste für Fussballnostalgiker – es musste chicen Suiten weichen. Von Öffentlichkeit und Denkmalschutz unbemerkt, hat der letzte Schauplatz eines historischen Triumphs dadurch viel von seinem Charme eingebüsst.

Immerhin präsentieren die Eidgenossen bis 30. September zum Jubiläum eine kleine Ausstellung, die den rückläufigen Tourismus aus Deutschland wieder ankurbeln soll. Am neu gestalteten Spiezer Uferweg stehen Holzskulpturen von Sepp Herberger, Fritz Walter und Helmut Rahn, dem Schützen des dritten Tores. Hier ging der Trainer gern spazieren, um über die Aufstellung oder seine ewigen Weisheiten nachzudenken: “Der Ball ist rund, und das Spiel dauert 90 Minuten.”

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